Vorgeschichte-- Auf Schloss Finianswacht, vor den Gemächern der Burggräfin --
"Grundgütige Viere, Hedwig, seid ihr gänzlich von Sinnen?" Der alte Medicus zischte die in Ehren gealterte Hofdame ihrer Durchlaucht in einer Mischung aus Zorn und Entsetzen an. Diese prüfte abermals, ob die schweren Eichentüren zu den Gemächern der Burggräfin auch tatsächlich zur Gänze geschlossen waren.
"Seid nicht so laut. Ihr weckt sie noch auf!" herrschte sie ihn in gedämpftem Tonfall an.
Er rieb sich nervös die Stirn mit der freien Hand. "Ihr müsst dieses Spiel beenden. Noch heute. Ihr dürft das furchtbare Treiben in Falkensee nicht mehr länger vor ihr verbergen." Er liess den Arm wieder sinken und wechselte seine grosse, lederne Tasche in die andere Hand.
"Ihr wisst so gut wie ich, dass es sie umbringen würde." Sie wich seinem Blick aus, als sie den Gang entlang schritt, der von den Gemächern der Burggräfin wegführte. Der alte Medicus folgte ihr.
"Hedwig, selbst wenn euch die Viere nicht für all diese Lügen richten, irgendwann wird sie von diesem Wahnsinn erfahren. Und dann wird ihr Herz nicht nur ob dieses Grauens brechen, sondern vor allem weil ihr sie angelogen habt." Er schloss zu ihr auf. "Sie vertraut euch bedingungslos."
Hedwig liess den Kopf sinken, während ihre Schritte träger wurden. Sie seufzte, als ob mit jedem Schritt fort von der Zimmerflucht ihrer Durchlaucht die Bürde schwerer auf ihren Schultern lasten würde. "Und was hätte ich ihr sagen sollen? Dass die Garde Hochverrat begangen hat? Dass sie die Order der Burggräfin missachtet und gegen die Machtbefugnisse des Rates aufbegehrt hat?" Sie strich sich im Gehen fahrig die Haare aus dem Gesicht. "Oder dass ihr Lehen darnieder liegt? Dass ihr geliebtes Volk in Schrecken floh und dass sich nun Ratten der Strassen und Gassen bemächtigt haben?"
"Hedwig ..." Er versuchte sie mit matter Stimme zu beschwichtigen. Er wusste, dass sie recht hatte.
"Nein, nein. Leugnet es nicht. Es ist nicht nur der Hochverrat der Garde. Nein, der Burggräfin Werk hier auf der Insel ist zerbrochen. Und ihr wisst, dass die Adelshöfe Galadons voller Wölfe sind, die nur auf derlei Missgeschick warten. Im Augenblick ihres Todes müsste sie sich nicht nur den Hochverrat ihrer eigenen Garde, die Missachtung ihrer Order und den Niedergang der Viergöttlichen Ordnung eingestehen, sie müsste sich vor allem eingestehen, dass sie versagt hat. Und dies nach allem, was sie auf dem Festland für den Ersonter Bund geopfert hat. Sie würde nicht nur sterben. Es würde sie zerreissen."
"Hedwig, ihr wisst so gut wie ich, dass sie schwer erkrankt ist. Sie wusste nicht, dass die Garde wider ihre Order aufbegehrte. Sie hatte keine Möglichkeit zu erkennen, wie die Düsternis Einzug hielt."
Hedwig war stehen geblieben. Ihr Kopf war gesenkt, sie liess die Schultern hängen. "Ach Ulwing, was sollen wir nur tun." Der Medicus erblasste. Dass sie ihn beim Namen nannte - eine seltene Geste des Vertrauens - bewies wie furchtbar hilflos sie war. "Die Viergöttliche Ordnung ist zerbrochen, Ulwing. Die von den Göttern gefügte Herrschaft des Adels zerstört. Pöbel begehrt gegen Ritter auf, Spitzbuben schänden Tempel, Gardisten paktieren mit Orken und Strauchdieben. Die Welt versinkt im Wahnsinn." Sie begann leise zu schluchzen und barg ihr Gesicht in den Händen. "Der Ersonter Bund auf Siebenwind stirbt. Und mit ihm wird auch sie sterben."
Berührt setzte der alte Medicus die Tasche ab und nahm die treue Hofdame in einer hilflosen Geste in die Arme. "Ihr habt es ihr aus Liebe und Treue verschwiegen, Hedwig." Mit rauer Stimme versuchte er sie zu beschwichtigen. Ihre Tränen berührten sein Herz noch mehr als das stille Sterben des Ersonter Bundes auf Siebenwind.
Die Stimme Hedwigs war kaum mehr als ein ersticktes Schluchzen. "Die Götter wissen, was ich alles geben würde, um diesen Wahnsinn auf immer vor ihr verbergen zu können. Aber das kann ich nicht. Ich sehe den Augenblick kommen, wo sie es erfahren wird ... erfahren muss. Und dann wird sie sterben." Eine Weile schluchzte sie leise; kostbare Augenblicke, in denen die Arme des alten Medicus sie vor dem Grauen und dem Unausweichlichen abschirmten. "Und wenn sie stirbt, dann werde ich ihr folgen."
Ulwing barg sie nur schweigend in seinen Armen. Denn er wusste, dass sie die Wahrheit sprach.