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 Betreff des Beitrags: Unter dem Westwind.
BeitragVerfasst: 2.02.15, 00:05 
Edelbürger
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"Should I stay or should I go now?
If I go there will be trouble
And if I stay it will be double"

Es war sicher nicht die feine Art. Aber mit dem Versprechen einer Heuer hatte er die Seeleute aus den Armen der leichten Mädchen und aus den geselligen Trinkrunden fortlocken können. Nun kamen sie an Bord getrottet, liebestrunken oder schlicht betrunken. Und auf den Rücken oder in den Händen schleppten sie ihre Habseligkeiten, die Truhen und Seesäcke mit dem spärlichen Besitz, den sie ihr eigen nannten. Sie hatten lange Zeit darben und hungern müssen, denn kaum noch jemand war dermaßen von allen guten Geistern verlassen, diese Insel noch anzufahren. Die Gelegenheit, endlich heimzukehren, wog schwerer als der Wunsch nach einem vergnüglichen Abend. Sie mochten zwar murren, aber bald hatten sie sich an Deck eingefunden - siebzehn Mann, wie er feststellen konnte. Mehr, als zu Zeiten im Dienst der Ritterschaft sich heuern ließen. Und mehr als genug, um mit vollen Segeln und in regelmäßigen Schichten auch die Dunkelzyklen hindurch zu fahren. Zu so einem Dunkelzyklus legten sie auch ab, denn im Schutz der Dunkelheit war es umso einfacher, allerlei zu vermeiden. Er konnte sich das elende Gehabe der Abschiede sparen und zugleich zusehen, dass er an den paar Dutzend Piratenschiffen vorbeischlüpfte.

Als sich die roten Leinensegel mit dem Westwind füllten, war es nurnoch eine Sache von Momenten, bis die wenigen Lichter im Hafen Brandensteins kleiner wurden und schließlich in der Dunkelheit verschwanden. Ein viel gesehener Anblick, der es umso einfacher machte, das Herz von der Heimat zu lösen. Für die kommenden Wochen wäre seine "Litheth" wieder sein Zuhause, und sie würde ihm genügen. Dass er noch keinen Kurs festgelegt hatte, kümmerte ihn wenig, denn die Aussicht auf viele, lange Tage auf hoher See beflügelte die verstimmte Laune. Es dauerte natürlich nur kurz, bis der pochend schmerzende, rechte Arm ihn wieder in die triste, trübe Realität zurückholte. Eine frische Erinnerung an die Vielzahl an Leiden in Geist, Gemüt und Körper, die er der Insel zu verdanken hatte. Nun endlich war er befreit von ihren wankelmütigen Fügungen und den täglichen Sorgen und Nöten.

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"Nenne mir, Muse, den Mann, den Vielgewanderten..."
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 Betreff des Beitrags: Re: Unter dem Westwind.
BeitragVerfasst: 2.02.15, 18:19 
Edelbürger
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Gleich wie ein Vogel schießt dahin
mein Schiff durchs weite Meer,
im wilden Wettlauf schäumend flieh´n
die Wogen vor ihm her.

Wie rast es fort in seinem Lauf
und läßt nicht nach und hält nicht auf.

(Ludwig Eduard Dinklage)

Es herrschte reges Leben in der Mannschaftsmesse unter Deck. Die ersten sechs Männer kamen gerade von ihrer Schicht und trafen unten auf die nächsten Sechs, die übernehmen würden. Einer saß dort und genehmigte sich zum Feierabend seine Ration vom guten Rum, während neidisch und begierlich sein Nebenmann auf die Flasche sah und sich doch diensttreu in das wärmende, wasserfeste Ölzeug zwängte. Im Grog weichte ein dritter Kerl seinen Zwieback auf und trank die sättigende, warme Brühe mit einigen großen Schlucken aus. Es würde ihm gut tun, wenn er als Steuermann dort oben die nächsten Zyklen im schneidenden Wind und dem bitterkalten Schneetreiben ausharren müsste. Wieder zwei andere Kameraden unterhielten sich im breitesten Rothenbuchter Dialekt über die Farbe, Form und den Geschmack der ungestümen Wellen und was all das wohl für die Fahrt bedeuten möge.

Am Rande des lebhaften Treibens saß der Kapitän. Seinen bequemen Sessel hatte er sich hierhin schaffen lassen, um trotz des lädierten Arms bei seinen Männern sein zu können. Mal tauschte er einige knappe Worte, wenn es um Belange des Schiffes ging, doch zumeist verhielt er sich ruhig. In den kommenden Wochen würden sich die achtzehn Mann auf diesem Schiff noch gut genug kennenlernen. Kaum hatte die Fahrt begonnen, denn erst vor wenigen Zyklen hatten sie den letzten Sichtkontakt zur zurückgelassenen Insel verloren. Noch war der Frachtraum reich an frischem Proviant und noch roch die Mannschaft nicht allzu ungewaschen.

Um die Moral seiner Männer war es gut bestellt - ein Umstand, der bald auf ihn abfärbte. Es berichtete der junge Mittschiffsmann, wie er sich daheim brüsten würde, einmal auf einem königlichen Schiff mitgefahren zu sein. Wie es der Beginn seiner Karriere als Offizier sein würde! Der Smutje, ein grobschlächtiger und bärtiger Metzger, erzählte ebenso einen Schwank. Mit verliebt leuchtenden Augen zählte er anschaulich und ganz direkt die runden Vorzüge seiner Angebeteten auf, die in Venturia am Hafen schon auf ihn wartete. Der zwergische Bootsmann unterhielt sie des Abends mit seinen Träumereien für den bald bevorstehenden Ruhestand: Wie er auf Hügelau sich mit eigenen Händen ein Haus halb in eine Anhöhe, halb darauf zimmern würde. Nach alter Väter Sitte, eben.

Im Wechselspiel der Erzählungen verging der erste Abend an Bord mehr als heiter. Es wurde gut getrunken, dazu musiziert und gesungen. Von allen Küsten des Reiches wussten die Reisenden ein Liedchen beizutragen. Und immernoch saß der versehrte Kapitän in seinem weichen Sessel und wippte mal das heile Bein im Takt der Lieder oder ließ sich einen Becher mit Rum anreichen. Selbst wenn die Heilerin davon abgeraten haben mochte - es sehen oder ihn dafür tadeln könnte sie hier draußen ja nicht mehr.

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 Betreff des Beitrags: Re: Unter dem Westwind.
BeitragVerfasst: 4.02.15, 17:02 
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Ein Fischer mit der Rute
Wohl an dem Ufer stand,
Und sah's mit kaltem Blute,
Wie sich das Fischlein wand.

So lang dem Wasser Helle,
So dacht ich, nicht gebricht,
So fängt er die Forelle
Mit seiner Angel nicht.

Logbuch hat geschrieben:
Mittentag, der vierte Onar im sechsundzwanzigsten Jahre der Thronbesteigung unserer Majestät, Hilgorad I. Ap Mer

Logbuch des Kapitäns Lazalantin von Ihrer Majestäts Schiff "Litheth"

Wir befinden uns auf dem dritten Tag unserer Reise. Geltender Kurs ist Ost-Nord-Ost zwischen Brandenstein und Venturia. Mit achtzehn Mann an Bord sind wir aufgebrochen und fahren in drei Wachschichten zu je sechs Männern. So legten wir inzwischen geschätzt 1300 Seemeilen zurück. Sollten wir weiterhin solche Fahrt machen können, erreichen wir unser Ziel in annähernd insgesamt achtzehn Felaläufen, von denen wir bereits drei zurückgelegt haben. Die Rationen sind gut bemessen, die Moral bemerkenswert gut. Auch weiß ich von keinerlei Krankheit oder anderem Unbill an Bord meines Schiffes zu berichten.

Doch kam es bereits zur ersten Unterbrechung. In den frühen Zyklen des heutigen Tages trafen wir auf den Schoner "Stolz von Falkenstein", bemannt von zwölf Mann und im Besitz der Reederei Theleyl zu Falkenstein. Der Schoner hatte die Segel gestrichen und die Mannschaft ging der Reparatur des Riggs und des laufenden Guts nach. Im folgenden Gespräch mit dem Kapitän des Handelsschiffes ergab sich, dass sie Opfer der hinlänglich bekannten Piratenbande wurden. Sie verloren ihr Ladung von Wolle, Tuch und Salzfisch an das Raubsgesindel. Einer der mitgeführten Söldner, angestellt zur Sicherung der nicht unerheblichen Ladung, wurde schwer verletzt und befindet sich just in diesem Moment auf der Krankenliege gerade neben mir. Wir erklärten uns bereit, ihn baldmöglichst heimzubringen.

Nun kann ich es bestätigt wissen, dass die Piraten ihre Versorgung dadurch beziehen, dass sie diesen Handelsweg tüchtig ausbluten lassen. Es überrascht keineswegs, ist es doch der genehmste Kurs zwischen Siebenwind und dem fernen Reste Falandriens. Hier fuhr einst Torbensen und nach ihm jeder Kapitän aus der Bucht von Linfahrt, der auf der Insel des Schicksals eine bare Münze verdienen wollte. Wer aus südlicheren oder nördlicheren Gefilde entstammte, fand sich doch nach kurzer Strecke die Küste entlang auch auf diesem Kurs ein. So ist es, wie seit langem bekannt ist, die kräftig pochende Schlagader, an der wir und damit die bei uns eingenistete Piratenflotte hängen.

Hiermit beende ich den heutigen Eintrag in das Logbuch und verbleibe in Ehrfurcht vor Xan und Ventus allzeit,

Kapitän Lazalantin.

Ein klares oder ein schönes Schriftbild war es gewiss nicht, war er doch immernoch auf seinen linken Arm allein angewiesen. Der rechte Arm, dick verbunden und gehalten im Schultertuch, verwehrte ihm weiterhin den Dienst und schmerzte an der Stelle, an der ein allzu unglücklicher Pfeil ihn getroffen hatte. Hinzu kam, dass seine Konzentration ihm immer mehr entwich. Denn dem verletzten, schmerzlich stöhnenden Söldner widmete sich gerade der junge Schiffsmedicus. Der unscheinbare Bursche ließ Nadel und Faden durch die Wundränder wandern und fügte sie wieder aneinander. Er sang dabei ein Liedchen, einerseits um die Leidensklänge des Patienten zu übertönen, andererseits aber, um sich selbst besser besinnen zu können. In einer Engelsgeduld fuhr er fort und sang dabei von dem Schicksal einer Forelle, die eines Anglers List zum Opfer gefallen war.

Mit jeder Zeile, die er dem Gesang lauschte, reifte ein trefflicher Gedanke in ihm heran. Bald schon war dieser auf Pergament verwahrt und harrte seiner Umsetzung an den Küsten Galadons.

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 Betreff des Beitrags: Re: Unter dem Westwind.
BeitragVerfasst: 9.02.15, 21:44 
Edelbürger
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„ Sie haben das mächtige Meer unterm Bauch
und über sich Wolken und Sterne.
Sie lassen sich fahren vom himmlischen Hauch
mit Herrenblick in die Ferne.

Sie schaukeln kokett in des Schicksals Hand
wie trunkene Schmetterlinge.
Aber sie tragen von Land zu Land
fürsorglich wertvolle Dinge.

Wie das im Winde liegt und sich wiegt
Tauüberspannt durch die Wogen.
Da ist eine Kunst, die friedlich siegt,
und ihr Fleiß ist nicht verlogen.

Es rauscht wie Freiheit. Es riecht wie Welt –
Natur gewordene Planken
sind Segelschiffe. – Ihr Anblick erhellt
Und weitet unsere Gedanken.”

(Joachim Ringelnatz)

Vor geraumer Zeit versank Felas glühende Scheibe hinter dem fernen Horizont. Es war die Zeit der Nachtwache und unter Deck schliefen zwölf seiner Männer, die im Moment nicht an Deck gebraucht wurden. Einer oder zwei schnarchten mal mehr, mal weniger. Wieder andere wälzten sich in der Hängematte hin und her. Einige wenige hatten sich entschieden, die Nacht bei Kartenspiel und ihrer Grogration durchzumachen. All dies ergänzte sich mit der üblichen Geräuschkulisse des Schiffes. So war nun einmal das Leben an Bord eines Schiffes. Denn wenn soviele Männer zugleich auf so beengten Verhältnissen zusammenlebten, konnte nie wirklich Ruhe einkehren. Es war das Privileg seiner Stellung als Kapitän, dass er zumindest seine Kajüte für sich allein hatte. So konnte er der täglichen Buchhaltung nachgehen, denn das Logbuch wollte nun einmal weitergeführt werden. Gerade beschäftigte er sich mit der Auflistung des verbleibenden Proviants, als der junge Mittschiffsmann hereingeplatzt kam. "Kapitän, wir bräuchten euch recht dringend oben an Deck. Vor uns haben wir zumindest ein Schiff gesichtet", gab dieser zur Meldung.

Wenig später fand er sich oben auf der Brücke ein. Es war, wie erwartet, eine bisher eher friedliche Nacht mit ruhigem Wellengang und einem steten, zuverlässigen Ventusatem aus Nordwest, der das Schiff mit Kurs am Wind vorantrieb. Schnell war das Fernrohr zur Hand, auch wenn er dieses lieber mit beiden Händen gestützt hätte. Ein kurzer Blick hindurch offenbarte schon die verräterische Beleuchtung dreier Schiffe, die sich auf dem selben Kurs entfernten und zu denen noch ein gut bemessener Abstand blieb. Er schob das Fernrohr wieder zusammen und gab es dem diensthabenden Steuermann zurück. An den Maat gewand sprach er: "Löscht unsere Schiffsbeleuchtung und senkt die Flaggen Brandensteins und des Königs. Größtmögliche Stille an Deck. Zudem den Kurs unverändert halten." Er begab sich an die Reling und legte die unversehrte Hand auf diese. Mit einem Kopfnicken bat er den jungen Offiziersanwärter, näherzukommen. "Bursche, kannst du dir den Sinn hinter dem ergangenen Befehl denken?"

Er wartete nicht allzu lange auf eine Antwort, sondern führte aus: "Es ist zu vermuten, dass es sich um drei Schiffe der Piratenflotte vor Siebenwind handelt. Zu selten fahren Händler zwischen der Insel und dem heimatlichen Hafen, als dass sie einen Konvoi bilden würden. Schließlich ist uns auch bekannt, dass sie einen Austausch ihrer Schiffe mit ihrem Nest an der heimatlichen Küste pflegen. Es ist ein beachtlicher langer Versorgungsweg von nicht weniger als vier Wochen zur See, sodass sie vermutlich nicht allzu kampfeslaunig oder auf Beute bedacht sind. Viel mehr werden sie danach sinnen, dringend nötige Reparaturen durchführen zu lassen, die ihnen auf der Insel nicht möglich sind. Und natürlich, ihre Komplizen mit weiterem Proviant zu versorgen. Sie werden sich also wohl kaum mit einem flaggenlosen Schiff weit hinter ihnen bemühen wollen. Wir für unseren Teil löschen in den Dunkelzyklen die Schiffsbeleuchtung und schließen auf, um ihren Kurs halten zu können. In den Hellzyklen reduzieren wir die Segelfläche und fallen zurück bis an den Horizont, sodass sie uns kaum erspähen werden. Und bis ihnen bewusst ist, dass wir den heimkehrenden Hunden bis zu ihrem Korb gefolgt sind, verschwinden wir auch schon wieder und tragen diese Kunde alsbald zur Admiralität."

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 Betreff des Beitrags: Re: Unter dem Westwind.
BeitragVerfasst: 22.02.15, 21:59 
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„Am grauen Strand, am grauen Meer
Und seitab liegt die Stadt;
Der Nebel drückt die Dächer schwer,
Und durch die Stille braust das Meer
Eintönig um die Stadt.

Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai
Kein Vogel ohne Unterlass;
Die Wandergans mit hartem Schrei
Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei,
Am Strande weht das Gras.

Doch hängt mein ganzes Herz an dir,
Du graue Stadt am Meer;
Der Jugend Zauber für und für
Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,
Du graue Stadt am Meer.”

(Theodor Storm)

Die Männer jubelten laut und warfen ihre Hüte hoch in die Luft. Manche legten, getragen vom ausgelassenen Geist des Moments, ein kleines Tänzchen an Deck hin. Wieder andere Männer stimmten ein Lied an, das von der Heimkehr nach langer Fahrt handelte. Denn endlich, endlich hatten sie das vorläufige Ziel ihrer Mühen erreicht: Das weit offene Hafenbecken der Stadt Ventria, tief in der Bucht von Linfahrt, lud sie zum Verweilen ein. Die vergangenen Wochen und all die Strapazen fielen in wenigen Momenten von den Matrosen der "Litheth" ab, fortgewaschen von der sicheren Rückkehr zu heimatlichen Gestaden. Ohne gesetzte Segel, getragen vom letzten Schwung, trieb die "Litheth", seine Liebe, an den Steg. Beinahe überschlugen sich seine Männer dabei, die Planke auszufahren und das Schiff an den Pollern festzuzurren. Jeder wollte der glückliche Erste sein, der Fuß auf festen Grund und Boden setzen durfte. Von der Brücke aus übersah der Kapitän all dies und entließ die Dürstenden und Liebeshungrigen schließlich auf ihren Landgang.

Seinen Mittschiffsmann und zwei weitere Matrosen ließ er als Deckswachen zurück. Ihn selbst trieb es aber allein durch die Gassen, Straßen und Alleen. Hier hatte er viele Jahre seiner Kindheit verbracht und diesen Moment des stillen Erinnerns wollte er nicht teilen. Dort drüben, wo es verlockend nach Hefe und Honig roch, stand die Bäckerei, an der er schon als halbstarker Bube sich am Felatag ein Rosinenbrötchen geholt hatte. Und dort, auf dem großen Hof der örtlichen Stellmacherei, hatte er einen Sommer lang ausgeholfen. Mit dem Handgeld, das er sich dort erschuftet hatte, konnte er sich seine erste, eigene Laute kaufen gehen. Hier in dieser Gasse hatte er mit vielen Freunden sich herumgetrieben, rumgetollt und mit Stöcken als Schwertern und Eimern als Helmen die Schlachten Khalandras nachgestellt. All diese Erinnerungen flogen wie wiederkehrende Schatten durch seinen tagträumenden Geist, als er lahmen Schrittes die Wege seiner Kindheit und Jugend nachvollzog.

Eine Handvoll Dukaten sicherte ihm einen Platz auf einem Fuhrwerk, denn sein nächstes Ziel lag außerhalb der Stadtmauern. Mit einem halben Bein und einem versehrten Arm war er dem Gebirgspfad nicht mehr gewachsen, den er als Jungspund einer Gemse gleich hinaufgesprungen war. So setzte er sich zu einem Bauern auf den Kutschbock, der sowieso vorhatte, hinaufzufahren, um dort seine frischen Erzeugnisse feilzubieten. Die Fahrt hinauf war kurz, die Gespräche dazwischen zwar höflich, aber belanglos und nur mit halber Aufmerksamkeit geführt. Mit jedem verstreichenden Moment ergriff ihn mehr und mehr eine wachsende Anspannung oder freudige Erregung.

Schweren Schrittes näherte er sich dem hohen, weiß getünchten Torbogen. Hier auf dem Hof, umringt von spindeldürren Türmen und einladend, luftig offenen Häusern, atmete er noch die selbe, frische Luft wie vor vielen Jahren. Es eilten einige Schüler umher, getrieben von der Hastigkeit junger Jahre und auf dem Weg zu ihrer nächsten Unterweisung. Hier war er wieder unter seinesgleichen, umgeben von den wenigen anderen Dienern des Ventus. Hier war er wieder angekommen, wo vor Jahrzehnten seine Reisen ihren Anfang genommen hatten. Und als auf sein Klopfen ihm die Türe geöffnet wurde, war es, als würde ihm eine zentnerschwere Last von den gramgebeugten Schultern genommen werden. Hier waren sie, Vater und Mutter, die er lange vermisst hatte. Und für diesen einen teuren, zerbrechlichen Moment war alles wieder gut.

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 Betreff des Beitrags: Re: Unter dem Westwind.
BeitragVerfasst: 26.02.15, 15:08 
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„Oh Herr, wenn Du deinen Dienern erlaubst,
dieses oder jenes zu unternehmen,
gebe uns dann auch die Erkenntnis,
daß nicht der Beginn, sondern
das Durchhalten bis zur Vollendung
die wahre Befriedigung schafft.“

(Sir Francis Drake)

Das schlagende Herz des galadonischen Reiches: Die Stadt der hundert Türme an Fluß Drac. Es pochte sein Herz in angespannter Erwartung. Die Nervosität konnte er nur bedingt lindern, indem er den Sitz seiner Uniform nochmals überprüfte. Er hatte sich glatt rasiert, die Haare gekämmt, die Stiefel eingefettet und die Knöpfe der Uniform auf Hochglanz poliert. Den rostigen Säbel hatte er ausgetauscht gegen einen kleinen Malthuster, aus der Rüstkammer von Brandenstein. So korrekt saß die gestärkte und geglättete Uniform, dass er sich in dieser kaum bewegen konnte. All das aber diente dem korrekten Aussehen, wenn er vor die Admiralität des Reiches als Bittsteller trat. Immerhin hatte er es sich erspart, eine der weißen Rosshaarperücken zu tragen, die hier inzwischen zur Mode geworden waren. Auch in vielerlei anderer Hinsicht zeigte sich, dass er hier fern der Provinz Siebenwind war. Wo auf der Insel kaum zwanzig Mann schon ein Heer waren, marschierten hier ganze Kompanien der Ehrenwache auf und ab, getrieben vom zackigen Drill. Und wo man sich in der Ferne mit einfacher, zweckdienlicher Bauweise begnügen musste, wurde hier geprotzt. Die breiten Treppen hinauf zu den Gebäuden der galadonischen Marineverwaltung waren aus solidem Marmor und glänzten im Felalicht, als hätten sie dutzende bedienstete Hände vor kurzem erst mit Schweiß und Muskelkraft glatt gebohnert.

Oben angekommen sah er zurück auf die Stadt Draconis weiter unten. An guten, klaren Tagen wie diesem konnte man am Horizont die Feste Bernstein als Sitz des Königsgeschlechts sehen. Von dort bis hierher erstreckte sich die Stadt wie eine wuchernde Flechte, aus der die Türme und Prachtbauten hervorstachen wie Blüten, die beachtet werden wollten. Der weißmagische Hochturm, Il'Drun, zeigte sich als reinweiße und fantastisch hohe Nadel. Daran angeschlossen lockte das Weiße Archiv mit vielfältigem Wissen aus allen Winkel des Reiches. Weiter unten schließlich rauschte der Drac, der zu dieser Zeit des Götterlaufes noch viel Wasser führte und auf seinen Wogen die Flussschiffer trug, die ihre Fracht zwischen hier und Rothenbucht transportierten. Fisch, Salz und andere Schätze des Meeres brachten sie hierher. Korn und Holz trafen auf hochbeladenen Fuhrwerken durch die unübersichtlichen Stadttore der weltoffenen Stadt ein. Es lud zum träumen ein, diesem Ameisennest zuzusehen. In aller Komplexität war es eine wundersame Vorstellung, dass soviele Menschen auf einem Fleck leben konnten.

Bevor er endlich eintrat, hielt er noch einen Moment inne, um gewissenhaft die mitgebrachten Unterlagen durchzusehen und auf Vollständigkeit zu kontrollieren. Es handelte sich um Kartenmaterial, das die verschiedenen Kurse zur Insel Siebenwind und die umliegenden Gewässer beschrieb. Dazu kam eine Aufstellung der Piratenschiffe, gelistet mit Größe, geschätzter Mannschaftszahl, Bewaffnung, Beflaggung und Zustand. Das Resultat nicht weniger Spähfahrten. Und abschließend die Erkenntnisse der Verfolgung der drei Schiffes, die er am Beginn dieses Monds gesichtet hatte. Wo der vor fünf Monden beauftragte Kurier gescheitert war, überbrachte er all das nun eben selbst.

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