Zweimal. Zweimal hatte diese verfluchte Burg ihr nun schon beinahe das Leben gekostet. Doch für was eigentlich?
Lilias kramte ihre alte Robe, mit der sie damals auf der Insel angekommen war, aus ihrer Truhe im Keller der Priorei hervor. Einige Monde waren seither schon vergangen, und die beschaulichen Tage, an denen sie mit dem restlichen Hofstaat von Brandenstein Abend für Abend an der Tafel der Burg saßen, schienen ihr unendlich weit entfernt. Sicher, auch damals hatten sie ihre Sorgen, aber nichts in einem Ausmaß, welches dem tobenden Krieg oder dem nahenden Dunkeltief das Wasser reichen würde. Sie nahm die leicht angestaubte Kleidung mit sich und ging wieder nach oben. Über einem der Sessel in der Küche hing ihr Mantel, der an der rechten Seite einen langen Schnitt direkt über der Achsel Richtung Brustkorb aufwies. Sie schauderte kurz, als sie an den schwarzen Reiter im Waldstück nahe der gestrigen Schlacht zurückdachte.
Die Streitigkeiten zwischen Cortan und dem alten Reich Hilgorads... gingen sie und die meisten anderen Diener der Enhor eigentlich nichts an, schoss es ihr durch den Kopf. Gleichermaßen wurden sie auch von beiden Seiten gekonnt ignoriert. Ihr war bewusst, dass sie nicht unbedingt die zahlreichste Truppe ihrer Art waren, dennoch schienen weder der Kanzler, noch die Cortaner, noch die Kirche Interesse an ihrer kleinen aber ausgeprägten Gemeinschaft zu hegen. Sie wirkten fast ein wenig wie eine Randnotiz. Einzig Tendarion und seine tapferen Helfer, Fyonn und Arin, sowie Arcturus und wenige andere schienen offen genug zu sein jeglichen Kontakt zu pflegen. Dabei galt natürlich zu berücksichtigen, dass die vorherrschende Individualität der Enhorpriester eine große Rolle spielte. Ein jeder von ihnen verfolgte seine eigenen Ziele, im Einklang mit dem Pfad, welcher durch Ventus, Rien, Xan oder Ignis geprägt wurde. Es war nicht auszuschließen, dass zwei Anhänger der Enhor konträre Ziele verfolgten - selbst wenn sie der gleichen Gottheit huldigten. Deshalb fiel es vielen Leuten auch schwer die Priester der Elementarherren einer politischen Strömung oder einer anderweitigen Gruppierung glasklar zuzuordnen. Dies war sowohl Segen als auch Fluch zugleich.
Die verworrenen Gedankengänge schlossen in eine klare Erkenntnis über. Ihre Loyalität gehörte keiner Krone, egal ob diese schwarz oder weiß gezeichnet war, und auch keiner anderen religiösen Gemeinschaft an, egal wie stark diese auf der Insel verteten war. Sicher gab es Ausnahmen - wieder dachte sie an ihren aufopfernden Freund im Hospiz von Falkensee - und diese wurden von ihr auch entsprechend geschätzt und im Herzen getragen. Aber letztendlich galt ihre Loyalität nur der Nebelweberin selbst. Xan und ihre Untergebenen verhalfen ihr dazu Dinge zu bewerkstelligen, zu denen sie sonst nie fähig gewesen wäre. Im Austausch für ihren Glauben und ihr eigenes Leben, welches Lilias der Säerin der Gischt anvertraut hatte, erhielt sie Macht und den Schutz der Gezeitenherrin. Lilias war für die kräftezehrenden Erlebnisse der letzten Tage dankbar, darunter die Schmerzen, welche sie nun einige Zeit begleiten würden, so wie die Narbe die ihr auf ewig erhalten bleiben würde. All diese Dinge waren wie eine Prüfung gewesen, aus der sie nun gefestigt im Glauben hervorging.
Fyonn hatte die Wunde gut versorgt, aber sie würde sich seinen Rat zu Herzen nehmen und diese heute nochmals begutachten lassen. Sie verzog das Gesicht, als ein unangenehmes Ziehen unter der rechten Achsel den nahenden Schmerz ankündigte, während sie sich in die lockere Weste zwängte und ihre Arme in die Ärmel ihrer alten Robe schob.
Vielleicht hatte Gildas Recht. Vielleicht war die Entscheidung der Dwarschim sich in der Binge einzuschließen, bis das Dunkel vorrüber war, die richtige Entscheidung. Das Dunkel würde vorbeiziehen, und danach würden sie einfach erneut ins Felalicht treten und das ganze Chaos aufräumen, welches unweigerlich zurückbleiben würde. Das Antlitz von Tare, welches durch die Enhor geformt worden war, würde jedenfalls immer bestehen bleiben. Keine Schlacht und kein Dunkel würden an dieser Tatsache rütteln, waren dies doch nur fliehende Ereignisse auf dem Schoß der Elemente selbst, wie ein Schauspiel das eine Bühne benötigt um überhaupt erst stattfinden zu können. Sie würde beobachten, sie würde abwägen - und wenn es nötig war, würde sie eingreifen. Um das Wesen Xans und ihrer Kinder zu bewahren.
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