♬Dieses Mal führte ihr Weg auf dem Rücken ihrer Stute in den Nordwesten der Insel. Dieser Ort hatte ihr schon gefallen, als sie das erste Mal sich hier umgesehen hatte. Die Wälder, die Ruhe - sah man von dem Piratenlager ab - und vor allem das Gebirge mit seinen versteckten Winkeln, schroffen Felsen und dem pfeifenden Wind in den Höhen. Ein Teil in ihr drängte sie förmlich dazu, wieder hierher zu reisen und da es der Teil war, dem sie den Großteil ihrer Macht verdankte, gab sie dem Drängen nach. Ein Teil des Preises, den man für so einen Pakt zu zahlen hatte.
Der Ort, den sie sich auserkoren hatte, war schon bald wieder gefunden. Noch stand Fela am Himmel und es war hell genug, als sie sich unter dem mächtigen Baum niederließ, der weit seine im Wind rauschende Blätterkrone über Sidra und dem Waldboden spannte. Tief gruben sich armdicke Wurzeln im reichen Waldboden ein und hier und da erklang ein Rascheln und Säuseln. Sidra spürte die unsichtbaren Blicke auf sich, als sie hier im Schneidersitz saß, nur noch bekleidet mit ihrer weiten Robe, das schwarze glatte Haar offen im Wind wehen lassend und die Tätowierung auf ihrer Stirn, die einem stilisierten, senkrecht stehenden Auge glich, entblößend. Es war ein angenehmes Gefühl von Freiheit, so fern von den Menschen, deren Hast, Blicke und Wünsche.
Ruhig atmete sie durch, ließ die Umgebung auf sich wirken und befreite ihren eigenen Geist sowohl von den Sorgen, als auch von den Freuden, die ihr das Leben in Falkensee bescherten. Ihre Konzentration richtete sich auf den Wind - frisch, kühl, der Geschmack der See in sich tragend. Ihre Konzentration glitt hinüber zu den Geräuschen, die sie umgaben - das Rauschen der Blätter, ein Rascheln im Gebüsch.
Ich passe auf.Sidra reagierte nicht, als Teh'Fennek sich von ihr löste und den Platz umschritt. Er war seit ihrer Kindheit immer bei ihr und der Auslöser für das, was sie nun war. Er war für sie so natürlich wie ihre beiden Arme und nun nahm er ihr die Sorge um mögliche Störungen oder gar die Gefahr, dass ihr Lebenskreis sich hier schließen könnte.
Sie versank förmlich im Hier und Jetzt, wurde eins mit den Kräften der Umgebung, fühlte nun noch stärker die Präsenz der Geister, die hier reichlich vorhanden waren. Vor allem an und in diesem gewaltigen Baum und ihre Aufmerksamkeit war auf sie gerichtet.
Als sie spürte, dass sie soweit war, griff sie zu einem Bündel, was in ihrer Nähe im Laub lag. Etwas Holz, Leder, ihr Schnitzmesser, Sandpapier und der Beutel, gefüllt mit der Erde des Morsansanger, befanden sich darin. Solange Fela noch schien und das Licht ausreichte, arbeitete sie und schnitt das Leder zurecht - einen Teil zu einem dünnen, langen Band; das andere Leder wiederum, was vom Hasen stammte, nähte sie zu einem kleinen, simplen Beutel um. Aus dem Holz schnitt sie grobe Kugeln heraus, deren Kanten sie mit Sandpapier rund abschleifte, durchbohrte und dann jeweils mit eingeschnitzten, stilisierten Blättern und Bäumen verzierte. Am Ende füllte sie noch den Beutel aus Hasenleder mit etwas Erde vom Morsansanger und schloss ihn sehr gründlich, ehe sie dann begann, diesen am langen Lederband mittig zu befestigen und die Holzkugeln rechts und links vom Beutel aufzufädeln.
Zum Schluss verknotete sie die beiden Enden des Lederbandes fest und betrachtete nochmal gründlich ihr Werk, während Fela weit im Westen im Horizont versank und nur noch die Felsen in einem rötlichen Licht tauchte und sich ein bläulich-nebulöses Zwielicht über den Wald senkte, ihn langsam in Dunkelheit tauchte.
Nun war der Moment da, um dem Talisman noch den letzten, magischen Schliff zu geben. Einem Anker gleich sollte dieser seinen Träger auf dieser Insel halten. Statt sich dem Meer zu übergeben, sollte er stärker an die Erde gebunden werden und entsprechend hatte sie den Talisman gestaltet, doch es fehlte noch etwas. Oder besser gesagt: jemand.
Sidra wandte sich nun dem Baum zu, legte den Talisman behutsam zwischen den dicken Wurzeln auf dem Boden ab und kniete sich ebenso zwischen sie. Einen Moment hielt sie inne, hielt innere Zwiesprache mit dem, der ihr vor ein paar Götterläufen ihre Macht verliehen hatte.
Bleibst du bei mir?
Wo soll ich sonst hin, Mensch?
Das Gebirge ist nah.
Du wirst mich danach hinbringen.
Abgemacht.Sie atmete tief und ruhig wieder durch, schloss langsam ihre Augen und vergrub dann ihre Finger im Erdreich zwischen den Wurzeln. Einen längeren Moment blieb sie so hocken, konzentrierte sich einzig auf ihre direkte Umgebung und das Leben, was hier sprudelte und verging. Gleichmäßig in einem Rhythmus zog sie tief die Luft ein und gab sie wieder ab, bis sich ein Kribbeln in ihren Händen und Füßen sowie rund um ihren Mund einstellte. Dann lenkte sie ihre Aufmerksamkeit auf den Baum, glaubte zu fühlen, wie Ströme aus dem Boden über die Wurzeln in den Baum übergingen, wie er sich davon nährte und dadurch gedieh. Und nicht nur er.
Sie löste die Finger aus dem Erdreich, strich über die Borke behutsam und liebevoll und legte die Hände mit gespreizten Fingern ab, neigte sich vor und legte dann ihre Stirn mit ihrem eingestochenen, dritten Auge auf seinem Stamm ab. Die Ströme änderten sich nur wenig, aber es fühlte sich so an, als wenn der Baum ihre Berührungen erwiderte. Und sie fühlte sie.
Kleine Wesen, für die meisten Sterblichen nicht sichtbar, huschten über den Stamm, die Äste, lebten auf Blätter, segelten auf ihnen hinab und umschwärmten seine Wurzeln. Je ursprünglicher ein Wald war, desto mehr Geister lebten dort. Je mächtiger ein Baum war, desto mehr Geister zog er an. Einem Schamanen nicht ganz unähnlich. Doch was dieser Baum an Energie und Geistern beherbergte, war kein Vergleich zu ihr und ihren Begleitern.
Neugierig näherten sich die Baumgeister und es war ihr, als huschten sie neugierig um ihre Hände.
Leise begann sie zu sprechen, in der Sprache, der sie sich sicher war, Endophalisch, doch es war gleich, was sie gesprochen hätte, sofern der Sinn gleich geblieben wäre.
"Du weißt, was Wurzeln sind, Geist des Baumes. Hilf mir, einen Bruder an Land zu verwurzeln, bis sein Fluch von ihm genommen ist. Folgst du mir?"
Sie fühlte die Bereitschaft des kleinen Baumgeistes, spürte die Aufregung der anderen Geister. Sidra griff zu dem Talisman, der noch immer zwischen den Wurzeln lag und hob ihn auf ihren beiden Händen an, die Augen blieben weiterhin geschlossen, bis auf jenes auf ihrer Stirn, was sich nie zu schließen schien.
Es war vollbracht. Sidra öffnete ihre Augen wieder, sah hinab auf den Talisman und strich kurz behutsam über diesen. Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihre Gesicht und sie erhob sich wieder, während sie fühlte, dass auch Teh'Fennek wieder bei ihr war.
Nur wenig später saß Sidra an einem kleinen Lagerfeuer in den Bergen. Der Blick ging weit über den Wald zu Füßen des Gebirges, wo sie den Talisman hergestellt und zu einem Anker für einen Bruder ihres Blutes gemacht hatte. Sterne funkelten über ihr Haupt und hinter ihr schnaufte leise Halima im Schlaf. Sidras Blick glitt hinauf zum Sternenzelt, doch wenn sie sonst immer mit Faszination zu diesen hinauf geblickt hatte, sah sie nun besorgt im Geiste etwas anderes - halb Mensch, halb Krake.
Nur die Anwesenheit des Teh'mahit'Ehir, der einen nicht unwesentlichen Teil ihres Ichs ausmachte, dämpfte die Sorge, denn solange die Ewigkeit anhielt, gab es für ihn keinen Anlass zur Sorge.