Das Warten vor einer Schlacht war immer das Schlimmste.
Wann ging es los? War alles vorbereitet? Wer würde zuerst fallen, welcher Fehler würde zuerst geschehen, konnte man ihn abfangen, ausbügeln?
Dass sie nicht gewinnen konnten, war von vorneherein klar. Die Anweisung der Götter deutlich: Durchhalten, so lange es ging.
Er hatte schon sehr lange den Verdacht, dass es töricht war, die Viere in ihrer Aufmerksamkeit ab zu lenken: was, wenn der Eine seine Dämonen nur deshalb hier her gesandt hatte, damit die Viereinigkeit abgelenkt wurde in der Verteidigung des lichternen Walls, des Weltensteins von dem alles abhing?
Der Elf warf einen prüfenden Blick hinauf zu den gespannten Netzen, während sie durch die verlassenen Straßen marschierten, dann auf die Ochsenkarren. Gewiss. All das würde den Feind nicht lange aufhalten. Doch jeder Herzschlag, den sie damit beschäftigt waren, nach Wegen zu suchen, nach Alternativen, der sie von der Kathedrale, dem letzten Zufluchtsort, fern hielt, würde dem Auftrag gerecht werden. Kurz huschte ein bitteres Lächeln über seine Züge. Wie viele seiner Mannen würde diese Taktik den Tod bringen? Ein geordneter Rückzug kostete stets Opfer.
Wer würde es sein?
Der kalte Regen hatte den Boden schlüpfrig werden lassen, hier und da waren im Gewitterlicht kaum sichtbare Flecken knochenbrechend gefährlichen Frostes. Eigentlich hatte er gehofft, zu Pferd arbeiten zu können, um den Überblick zu behalten, doch das Wetter machte einen Strich durch diese Rechnung. Er hatte Dreiden noch geholfen, seine Tiere wieder in einem Stall unter zu bringen, der gesichert war, und nun mussten sie sich eben auf die Flinkheit der eigenen Füße verlassen.
Nach wenigen Minuten erreichte der erstaunlich große Tross das alte Osttor. Der Marschall hatte den Verdacht, dass der große Aufmarsch an den Zweibrücken nur eine Ablenkung war: seit Tagen standen dort Monstrositäten jenseits der übelsten Alpträume. Daher standen überall auf den Mauern Wachsoldaten, ausgerüstet mit Signalhörnern, mit einem ausgeklügelten Signalsystem: jedes Tor hatte ein eigenes Erkennungsmuster, jede Form von Ereignis ein weiteres Signalmuster, das nach kurzer Pause nach der Identifikation durchgegeben werden konnte. Es hatte Tage gedauert, diese Muster aus zu arbeiten und den Soldaten ein zu bläuen, aber das war schon vor Monden erledigt worden; jetzt hatte sich das System zu bewähren.
Mit einigen wenigen Wachen ließ sich die schwach besetzte Mauer wenigstens im Auge behalten; so würden sie einigermaßen zügig reagieren können, so war zumindest die Hoffnung. Der Tross kam am alten Osttor zum Halt, die Kämpen suchten sich ordentliche Positionen. Dreiden ging hinauf in die Hebelkammer, er selbst behielt mit Minios den Himmel im Auge. Denn alles, was zu offensichtlich war, machte den Marschall nervös. Warum sollte ein kluger Feldherr auch dem Feind erlauben, ihm in die Karten zu blicken?
Da!
Ein Schatten sauste über sie hinweg, und er wies seinen Nebenmann mit einem Kopfnicken darauf hin. Wenn man genau hinsah, konnte man sie über der Stadt kreisen sehen: ausser Reichweite seiner Schützen, ja selbst der Magier. Kurz bleckte er die Zähne, sah dann über die Schulter, als Hufschlag erklang.
Gran stand da, auf seinem blutenden Ross, flankiert von einem gewaltigen Biest, das in der Dunkelheit kaum aus zu machen war. Massive Schwärze, dunkler als die Nacht selbst war im Grunde der einzige echte Hinweis.
Der Dämon brüllte seine üblichen Herausforderungen, forderte Verrat unter den Verteidigern und bot großen Lohn dafür an, doch er erntete nur nervösen Spott und Ablehnung. Kurz musste der Elf lächeln - der Mut seiner Kameraden fand in seinem Herzen Resonanz und machte ihm Hoffnung.
"Was immer heute auch geschieht.." murmelte er dem Soldaten neben sich ernst zu, "es war mir eine Ehre, mit euch zu dienen." Dieser erwiderte seinen Blick einen Moment lang, neigte den Kopf, doch seine Antwort ging in jenem eigenartigen Geräusch unter, dass die Flugbestien machten, wenn sie diese fliegenden Nudelmonster und gepanzerte Recken abwarfen. Und während dieses nasse, satte, saugende Platschen erklang, hörte er ein Wachhorn.
Altes Osttor. Angriff.
Seine Klinge flog geradezu in seine Hand, und er tanzte durch die Reihen der Tentakel und Schwerter, Seite an Seite mit seinen Gefährten, bereits ahnend, dass Gran nun das Tor in Angriff nähme, wenn alle mit den Bestien, die einfach die Verteidigung überflogen hatten, abgelenkt waren, aber das war ja auch das, was sie erwartet hatten. Glitschiges Dämonenblut spritzte, Tentakel stoben zitternd und sich windend in die Dunkelheit jenseits der Brücke davon, Menschen schrien Wut und Schmerz heraus, und als er sich den Weg freigekämpft hatte, rief er eine Warnung - dass er sich den Zustand des alten Nordtores ansehen würde - und eilte in die leicht rötliche, sehr nasse Finsternis.
Er war kaum 20 Schritt weit gekommen, als er sie bereits sah: das Tor war geöffnet, die Diener des Einen quollen daraus hervor.
Maichellis bremste, schlidderte ob seines Tempos auf dem schlüpfrigen Untergrund zwei Schritte weiter, hob den Schild. Seine Gedanken rasten - so schnell? Was war mit seinen Leuten? Hatten sie sich auf die Wehrgänge zurückziehen können? Dann zog sein Verstand nach und er füllte seine Lungen. Brüllte die Warnung: "Nordtor gefallen! Rückzug! Rückzug zum neuen Osttor! Nordtor gefallen!" und hoffte, dass seine Stimme durch den Schlachtenlärm drangen.
"Wartet! Wir wollen nur reden!" dröhnte einer der Streiter vor ihm, während der Elf sich rückwärts zurück zog, den Schild angehoben, und hoffte, dass er nicht ausglitt oder irgendwo gegen lief und damit sein Schicksal besiegelte.
Na klar. Und ich bin ein Kaninchen. schoss es ihm durch den Kopf, doch er antwortete schlicht nicht: den Atem konnte er sich auch sparen. Noch einmal brüllte er die Warnung, erreichte die Querstraße, sah über die Schulter. Seine Leute standen immer noch am Osttor und liefen Gefahr, abgeschnitten zu werden! Wenn sie am Tor eingekesselt würden, wären sie verloren, so viel war sicher.
Noch eine Warnung. Dann, endlich, setzten sie sich in Bewegung, zogen eilig an den sich nähernden Feinden vorbei, ein kurzes, heftiges Rückzugsgefecht, der Feind war bereits dabei, seine zersplitterten Reihen zu stürmen, als aus dem Boden ein Wall hervorbrach und die Sicht durchschnitt. Eine Welle der Erleichterung trug ihn zum Tor, durch die Türe und hinauf; den Hebel brach er fast ab, so aufgeputscht hatte ihn das knappe Entkommen. Ein Blick hinaus verriet, dass Gran vor dem Tor stand, sich königlich amüsierte und bereits neue Bestien herbei kommandierte, um sie auf Brandenstein los zu lassen.
Unten angekommen stellte der Marschall fest: seine Leute vom Osttor hatten es nicht geschafft. Zornig wandte er sich an Edelmut: "Lauft zum Südtor und weist die Wachen an, es zu schließen." sie nickte, und sprang sofort los. Gutes Mädchen.
"Was wird aus dem Viertel?" grollte Markwart, von dessen obszön großen Hammer Dämonenblut troff.
"Wer jetzt nicht in Brandenstein Zuflucht gesucht hat, dem kann ich auch nicht mehr helfen." gab Maik zurück, dann rauschte ein Schwarm junger Nachtbestien über sie hinweg. Das erste halbe Dutzend verfging sich in den aufgespannten Netzen, ging als Kneuel zu Boden, doch das war es auch schon: der Rest kam hernieder und stürzte sich gierig auf die Verteidiger; der Kampf war brutal, die ersten Verteidiger stürzten und ein Krachen wenige Herzschläge später verkündete, dass auch dieses Tor den Weg alles tarischen beschritten hatte.
"Rückzug! Karren in den Weg!" brüllte der Elf und scheuchte seine Leute einen Straßenzug weiter, eilte selbst jedoch hinauf zur Burg, um dort die Barrikade zwischen dem Rathaus und der Festungsmauer zu errichten. Dieser Weg würde von seinen Soldaten bewacht werden; das war seine geringste Sorge.
Es kostete Kraft, den schweren Karren mit Hilfe der Soldaten an seinen Platz zu bewegen, anschließend die Achse zu zerstören; anschließend musste er seine Mannen schweren Herzens zurück in die Burg schicken.
Wenn alles gut ging, würden sie gar nicht erst belagert werden; der Fokus würde auf der Kathedrale liegen... Ablenkung war alles.
Über den Marktplatz stieß er wieder zu seinem Trupp, der noch immer kämpfte, aber allmählich unter den Massen der Feinde zusammen zu brechen drohte. Erneut mussten sie sich zurück ziehen; er meinte noch, unter einer gewaltigen Nachtbestie jemanden liegen zu sehen, doch dann drängte der Feind sie weiter zurück.
Noch eine Barrikade - allmählich schwanden dem Elf die Kräfte, während sie den letzten Karren auf der Rampe in Stellung brachten, und er keuchte heftiger als es sollte.
Gran trabte die Rampe hinauf und verspottete die Hindernisse, nichts ahnend, dass sie genau ihren Zweck erfüllten: sie schindeten Zeit. Nicht mehr und nicht weniger; dann, plötzlich, tauchte aus der Dunkelheit Markwart auf, blutend und mit genommen, humpelnd und tobend vor Wut. Ein schneller Blick zu Gran, der den Glatzkopf komplett ignorierte, während hinter dem bärengleichen Mann sich neuerlich Finsternis sammelte.
Markwart erreichte die Barrikade, und Hände griffen nach ihm; er versuchte, geschwächt wie er war, über das Hindernis zu gelangen, als Gran vom Ross stieg, sprang und schwar auf dem Karren zu Stehen kam. Er lachte, spottete, dann endlich gelang es, Markwart hinüber zu ziehen und in die Sicherheit der Kathedrale zu stoßen, während die Verteidiger in ihren Strebebögen Aufstellung nahmen; der Karren wurde mit massiver Gewalt zerschmettert, und alsbald füllte sich der Platz zwischen Rathaus und Kathedrale mit den Streitern der Finsternis.
Nun war Zeit, zu verschnaufen, einen Schluck zu trinken, die zitternden Hände zu beruhigen. Nun war es getan: sie hatten den Bereich dessen, was sie mit ihrer eigenen Hände Arbeit, ihrer Herzen Mut erreichen konnten, verlassen, und konnten nur mehr beten.
Und das taten sie auch.
Gran stolzierte wie ein Hahn vor der Kathedrale auf und ab, Hohn und Spott versprühend, eine Herausforderung nach der anderen brüllend; es dauerte, gewiss, es war nichts anderes als Zeit schinden, doch schließlich und endlich tat ihm der Prior des Bellumsordens den Gefallen und schritt, gerüstet mit dem heiligen Schild Arioms und der Klinge aus dem Bellumsschrein hinaus, stellte sich Gran.
Der folgende Kampf war schmerzhaft mit an zu sehen: er war kurz, heftig und gnadenlos, und der Mensch hatte gegen den Dämon praktisch keine Chance: dieser spielte bestenfalls mit seinem Kontrahenten, so viel war dem Elfen klar, während er stumm zu sah und gegen das erstickende Gefühl bodenloser Hilflosigkeit ankämpfte; und dann, gerade, als es fast um Altor geschehen war loderten die Flammen im Schrein des Herrn Bellum auf und weitere fuhren auf die Kathedrale hernieder.
Im Reflex riss Maichellis Edelmut, die neben ihm stand, in den Schutz seines Schildes, sah zum Schrein, als die Flammen nicht länger blendeten, und wäre vor Erleichterung fast einfach umgekippt: Ewige quollen aus dem Zugang des Schreins, stürmten mit Schlachtrufen auf den Lippen zu den Türen, die sie eilig frei machten. Licht verdrängte die Finsternis, der Himmel war plötzlich ein blendendes, herrliches Goldrot, so abrupt, dass es schmerzte und Tränen in die Augen des Elfen trieb, während seine Mitstreiter sich brüllend den Ewigen anschlossen und die Jäger zu Gejagten machen.
Das folgende Chaos war unbeschreiblich, die Wut der Verteidiger, angestaut durch viele Tage der Belagerung und angestachelt durch die Angst, entlud sich nun auf den Dienern des Einen, und sie wurden über den Platz und die Gassen ringsum gehetzt, doch Gran... Gran lachte. Er rief seinen Herrn an und tötete beiläufig einen vorbeieilenden Ewigen, stellte sich dem prächtig anzuschauenden An'va Ethrendor entgegen... als die Dunkelheit mit Wucht zurückkehrte und die Geweihten allesamt innehielten, als die Ewigen erstarrten und einfach zu Boden stürzten wo immer sie standen.
Die Erde erbebte, Schatten tanzten und kämpften, die Verteidiger zogen sich zurück in die Kathedrale. Maichellis stürzte vor, packte den An'Va um ihn in die Sicherheit der Mauern zu schleppen, doch der verehrte, alte Elf zerstob in seinen blutverschmierten Fingern zu Asche, und nur das, was Maichellis in Händen hielt - ein Stück silbrigen Metalls - verblieb. Für einen Herzschlag, zweie, war der Marschall gelähmt vor Schrecken, dann riss ihn die Menge seiner Leute mit und in die Sicherheit der Kathedrale. Was geschah hier?
Gefühle, wild und lodernd und übermannend strömten unbezwingbar über die Sterblichen hinweg, und ein Himmelsschauspiel bar jeder Beschreibbkarkeit begann; geflügelte Gestalten von unvorstellbarer Größe zogen sich über den Himmel, und die Stimme eines Geweihten sprach schwer: "Bellum hat diese Sphäre betreten."
Und der Kampf in den Himmeln übertraf alles, was irgendwer erwartet hätte. Licht und Dunkelheit, der Boden erbebte, die Finsternis wankte und drehte sich, Silberlicht blendete, dann durchstieß die Dunkelheit das rotgoldene Licht, bis dieses es umhüllte und...
...alles vorüber war.
"Der Eine, der verlorene Sohn, ist wieder Teil der Viere. Sie haben ihm vergeben."
Gran war einen Moment lang still, dann brüllte er frenetisch und wie von Sinnen los, erhob sich und verschwand mit all seinen Mitmonstern: "Wir sind frei! Nie wieder wird ein Gott uns versklaven!"
Dann waren sie fort und alle - die Diener der Sahor, die der Enhor, jene, die einfach nur um ihr nacktes Überleben kämpften und der Feind, die Diener des Einen - standen da und waren des Sinns ihres Kampfes beraubt. Betäubt starrten sie einander an, überwältigt von den Gefühlen der Götter, die sich auf sie auswirkten; er sah, wie unter den Helmen manches schwarz gewandeten Streiters Tränen hervorquollen und hörte Markwart neben sich Schluchzen; der Elf spürte, wie sein Herz sich zusammenzog und ihm die Luft abschnürte, wie Edelmut weinend zusammenbrach und das Licht sie alle überstrahlte, warm und weich und friedlich.
Frieden.
Doch konnten die geschlagenen Wunden heilen?
Konnten sie einander vergeben?
Die Tafeln der Asche werden geschrieben und dereinst davon künden, was große Frauen und Männer auf Siebenwind taten, als die Götter einander Vergebung schenkten. Was wird auf ihnen stehen?
Taten der Gerechtigkeit und der Güte, besonnen und ruhig erdacht?
Oder Geschichten über blutige Rache?