Er hatte ein langes Gespräch am vergangenen Tag mit dem Großmeister geführt. Sorgen, die ihn plagten, Bedenken, die ihn nicht ruhen ließen. Er war des öfteren beim Großmeister und hatte stets verfolgt, wie er sich zurückzog und distanzierte. Jedoch hatte Tion es nicht als seine Aufgabe gesehen noch es als den richtigen Weg empfunden ihm den mahnenden Finger hin zu halten. Doch nun war etwas geschehen, dass alles was Tion in den vergangenen Wochen erfahren hatte über die große Umwälzung zusammenführen könnte, wo ihm zugleich aber zahlreiche neue Fragen in den Kopf stiegen.
Die Feder, welche der Großmeister erwähnte, irgendetwas störte Tion an dieser Feder. Er hatte eine Ahnung, eine Vermutung. Er hatte die Beschreibung dieser Feder schon einmal irgendwo gesehen. In einer vergangenen Vision, einer Vision von einem Horwah, der ihm so bekannt und vertraut zugleich war, aber der nicht mehr der Horwah war, den er einst darstellte. Er war einen neuen Weg gegangen, den Weg Angamons.
So viele Fragen verfolgten ihn. Seit Tagen schon konnte er kein Auge mehr zudrücken, seit Tagen quälten ihn immer mehr Fragen aus neuem Wissen, dass er generierte. Unruhe machte sich immer noch breit, er kam nie wirklich zur Ruhe um einmal rein zu horchen. Dämonen tauchten hier und da auf. Seit jüngstem im Hafenviertel, ein Kulmar Sanghulis-Dämon, dann noch Yogmir und sein Drachenschiff, ebenso ein Dämon. Und dann, dann war da noch Tarrant, dem er versprochen hatte alles dafür zu tun um ihm zu helfen. Er musste also Ruhe finden, er musste endlich Antworten auf so viele Fragen finden, auch wenn er wusste, wenn er die Antworten darauf erhielt, würden zahlreiche neue Fragen auftauchen.
Er beschloss endlich diese Antworten zu finden, aktiv zu werden, neben dem Weltlichen. Also errichtete er im Schrein Bellums einen Schildkreis, wie es ihm vor vielen Jahren gelehrt wurde. Er spezialisierte diesen Schildkreis jedoch mit den Statuen Briseis, richtete ihre Augen auf das Zentrum des Schildkreises und setzte sich selbst hinein. Balthom, der Templer, verschloss den Schrein, auf dass niemand diesen Ritus hätte stören können. Und so begann er in sich hinein zu horchen.
Erst war da das Prasseln des Feuers, der Windzug, das Pochen seines Herzens, das Rauschen seines Blutes, der seinige und der Atem des Templers. Mehr und mehr versuchte er all das auszublenden und in sich hinein zu horchen. Und dann war Stille. Absolute Stille. Und absolute Dunkelheit. Er spürte, wie er seinen Körper verließ. Wie sein Geist an einen anderen Ort gezogen wurde. Als er die geistigen Augen öffnete, da offenbarte sich ihm ein helles Licht und eine Stimme erschallte überall und nirgendwo.
"Diener."
Der Schall der Stimme kam von überall. Es war die Botin des Schwertherrn selbst, die Stimme der Gerechtigkeit, die Künderin von Mut und Tapferkeit, der Klang der Ehre, die Heroldin der Horen selbst. Ihm schoßen so viele Fragen durch seinen Geist und sie formten sich in Worte. Und erstmals in seinem Leben erhielt er klare Antworten. So präzise Antworten hatte er noch nie erhalten. So viele Fragen stellte er über all das, was war, ist und sein würde. Und zu allem bekam er Antworten. So vieles an Wissen, dass so vieles verändern würde. Vollkommen neue Herangehensweisen, vollkommen neue Möglichkeiten, vollkommen neue Denkweisen. Vieles davon würde die bestehende Lehre der Kirche der heiligen Viere verändern müssen. In alle dem vergaß er jedoch auch nicht, nach jenen zu fragen, die ihm anvertraut wurden. Und so wusste er, er musste zurück zum Großmeister. Er, der sich so weit von den Vieren entfernt hatte. Und Tion wusste, dass er daran mitgewirkt hatte, in indirekter Weise. In aller tiefstem Dank und mit der Erkenntnis, was seine Erzweihe für folgenschwere Auswirkungen hatte, beladen mit einer gewaltigen Last auf seinen Schultern, kehrte sein Geist zurück in seinen Körper.
"Diese Feder, sie entstammt einem der Horwen Angamons. Womöglich dem Lafay selbst." Er hatte dem Großmeister so vieles zu sagen und doch musste er vorsichtig sein, was er ihm jetzt sagte. Nicht, dass er ihm nicht vertraute, nein, ihm vertraute er, wie er nur wenigen auf dieser Insel vertraute. Doch der Großmeister musste zunächst zu sich selbst finden und wieder fest in seinen Stiefeln stehen, bevor er ihn mehr sagen konnte. Er würde an seiner Seite stehen und ihm helfen, egal, zu was er sich entscheiden würde, denn er hatte einen freien Willen um dies zu tun. An ihm war es zu entscheiden, ob er zurückfindet zu den Vieren oder ob er zu dem wurde, was er sah. Auch wenn letzteres nicht mehr die Dunkelheit war, für die Tion sie so lange hielt. Angamon, einer von fünf Horen. Doch schlussendlich war all das nicht wichtig, wichtig war was Briseis ihm sagte.
"Dein Verständnis von Zeit und das unsere ist nicht gleich. Du wirst nicht verstehen was von dir verlangt wird, weil dein Geist dazu nicht in der Lage ist. Das was du siehst, hörst, riechst, schmeckst und tust ist das Resultat dessen was du sehen sollst. Und daraus leite deine Aufgaben ab. Die Aufgabe eines Einzelnen muss die Aufgabe aller werden. Nicht diese Insel alleine, nicht du alleine, ändern die Geschicke Tares. Nur das was verbindet, wird die Macht aus dieser Sphäre verdrängen, die sich verzerrt und vernichtend über sie legt. Du bist nur ein Wort und eine Tat. Erst wenn andere sprechen dürfen und tun dürfen, werden aus einem Wort eine Stimme und aus einer Tat eine Aktion. Es gibt jene die Führung suchen und jene die ihren Platz alleine finden."
Und so blieb ihm nichts anderes übrig als dem Großmeister ein Wegweiser zu sein. Der Großmeister selbst musste entscheiden, ob er Führung bedarf oder seinen Platz allein fand. Womöglich aber, galt auch beides. Womöglich hatte Tion ihm ein wenig Führung gegeben, doch den Platz finden musste er alleine. Und so streckte er sich und hängte das große Banner in der Burgkapelle auf. Jenes, dass in voller Einheit, ein Wegweiser sein konnte.