Spät am Abend , sich vergewissernd, daß er allein in der Bibliothek des Ordo Astraeli, schloß er die Truhe auf, die er sich hatte anfertigen lassen und zu der nur er allein einen Schlüssel besaß. Klein und unscheinbar, in einem Winkel der Bibliothek hingestellt, würde die kleine Truhe wohl kaum einem auffallen. Er nahm das Buch aus der Kiste, setzte sich an den Tisch und schlug das Buch auf. Die auf der ersten Seite stehenden Zeilen las er nochmals
Ich weiß, daß all das, was ich weiß, nicht den heilgen Vieren ist, und daß all das, was ich begreife, ihnen nicht ähnlich ist
Er grübelte nach über diese Zeilen, doch konnte er nur eines in dieser Zeilen herauslesen: Ketzerei
Calmexistus war schon drauf und dran, sich dazu zu entschließen, dieses Buch den Flammen zu übergeben. Doch blätterte er die zweite Seite des Buches auf und erkannte sofort, daß der Schriftzug auf dieser Seite ein anderer war. Er blätterte mehrmals hin und her, verglich und bemerkte dann wiederum doch Ähnlichkeiten in den Schriftzügen. Er kam zu dem Schluß, daß sehr wohl ein und derselbe Josef Knecht die Zeilen auf der ersten als auch auf der folgenden Seite geschrieben haben mußte und die Unterschiede sich dadurch erklären lassen würden, daß die Zeilen auf der ersten Seite zu einer ganz anderen Zeit seines Lebens jenes Josef Knecht wohl geschrieben haben mußte als die Zeilen auf der zweiten Seite. So fiel ihm auch auf, daß die Zeilen der ersten Seite einen ruhigen, klaren Schriftzug aufwiesen, dagegen die Zeilen der zweiten Seite auf ihn wirkten ungestüm in ihrem Schriftbild. So kam Calmexistus zu dem Schluß, da es sich um ein Tagebuch handelte, daß wohl die Zeilen der ersten Seite jener Knecht am Ende seines Lebens geschrieben habe nachträglich
Nun widmete sich Calmexistus dem Inhalt der Schrift der zweiten Seite und las
De mundo sensibilis et de mundo intellegibilis
Ich frage mich, wo das Göttliche ist. Ich fragte die Erde und sie sprach: Ich bin es nicht, und was auf ihr ist, bekannte das Gleiche. Ich fragte das Meer und die Abgründe, und was von Lebendem sie bergen, und sie antworteten: Wir sind nicht das Göttliche; suche über uns. Ich fragte die wehenden Lüfte, und es sprach der ganze Dunstkreis samt allen seinen Bewohnern: Die in uns das Wesen der Dinge suchen, täuschen sich. Ich fragte die Flammen des Feuers und sie sprachen: Wir sind nicht das Göttliche, das du suchst. Und ich erkannte , daß es nur eines gibt, das Antwort erteilt auf meine Frage nach dem Göttlichen: die eigene Seele.
Und die Seele sprach: Kein Auge, kein Ohr kann dir mitteilen, was in mir ist. Das kann ich dir nur selbst sagen. Und ich sage es dir auf unzweifelhafte Weise. Ob die Lebenskraft in der Luft oder im Feuer, im Wasser oder der Erde liegt, darüber möge man zweifeln, aber wer wollte zweifeln, daß er lebt, sich erinnert, versteht, will, denkt, weiß und urteilt? Wenn er zweifelt, so lebt er ja, erinnert er sich ja, weshalb er zweifelt, versteht er ja, daß er zweifelt, will er sich ja vergewissern, denkt er ja, weiß er ja, daß er nichts weiß, urteilt er ja, daß er nichts voreilig annehmen dürfe.
Und so ist mir klar nun, daß die Außendinge sich nicht wehren, wenn wir ihnen Wesenheit und Dasein absprechen. Aber die Seele wehrt sich. Sie könnte ja nicht an sich zweifeln, wenn sie nicht wäre. Auch in ihrem Zweifel bestätigt sie ihr Dasein. Ich bin und ich erkenne mein Sein und liebe mein Sein und mein Erkennen: In diesen drei Stücken kann mich kein dem Wahren ähnlicher Irrtum beunruhigen, denn ich begreife sie nicht wie die Außendinge mit einem körperlichen Sinne.
Als Calmexistus den ersten Absatz las, entfuhr ihm ein Wohl wahr, wohl war – Recht hast du damit , Josef Knecht. So sah ich es schon immer und sehe ich auch jetzt noch: Die Priester dieser Ecclesia Elementorum sind nicht nahe dem Göttlichen – wenn sie nicht gar Ketzer.
Als Calmexistus den zweiten Absatz las, hätte man ihn bestätigend hm hm sagen hören, wenn auch etwas zögerlich. Beim Lesen des dritten Absatzes sah man, wie seine Stirn sich runzelte. Mehrmals las er diesen Abschnitt mit einem fragenden Gesichtsausdruck, seinen Bart dabei kraulend und aus selbigem Speichel mit dem Handrücken wegwischend.
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Furchtbar ist es, zu töten. Aber nicht andere nur, auch uns töten wir, wenn es nottut. Da doch nur mit Gewalt diese tötende Welt zu ändern ist, wie Jeder Lebende weiß.
Zuletzt geändert von Calmexistus: 16.09.03, 08:20, insgesamt 1-mal geändert.
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