Sternlein, Sternlein in der Nacht
Hast du mir ein' Träumlein mitgebracht?
Sternlein, Sternlein am Himmelszelt,
mach schön für mich die Traumeswelt!
Sternlein, Sternlein, nicht allein
Kannst du mir meine Sünden denn verzeih'n?
Sternlein, Sternlein immerzu
führst du mein Herz zur schlafesruh'
Sternlein, groß und klein
lass mich nimmer mehr allein!
Den ganzen Text des Liedes bekam sie nicht mehr zusammen, aber wer konnte schon erwarten, dass sie einen Text behielt, den sie vor bald 15 Jahren das letzte
mal gehört hatte?
Dennoch klang die sanfte Stimme ihrer Mutter immer noch in ihren Ohren, doch nur, wenn sie an dieses lied dachte. Und auch dann entsann sie sich an das
schemenhafte Gesicht der gutmütigen, schönen Frau, die immer am Bett ihrer Kinder gesessen und dieses Lied gesungen hatte.
In allen anderen Erinnerungen waren Stimme und Gesicht verzerrt, rotblutig verschleiert und schrill, mit Schmerz verbunden.
Daher vermied sie es, daran zu denken und besann sich lieber auf jene wenigen Zeilen des Kinderliedchens, derer sie noch habhaft werden konnte.
Manchmal fiel die Stimme ihrer jüngeren Schwester mit ein, fiepsig wie die Stimme einer vierjährigen nun einmal war, doch erkennbar schon talentiert für den Gesang.
Warum dachte sie gerade jetzt wieder an dieses Lied und damit unwillkürlich an jenen Teil ihrer Vergangenheit, den sie nicht vor Augen haben wollte?
Den Teil, der sich beständig einen Weg durch die Barrieren ihres Geistes suchte und sie in feurigen Träumen heimsuchte?
Doch diesmal beschränkten sich die Bilder auf schöne Momente, Gelächter, dem unbeholfenen Versuch eines kleinen Mädchens, einen Schmetterling zu fangen und die Trauer in den Augen der Mutter, als es gelang und das kleine Insekt dem Tode geweiht in den Händen des Kindes zuckte.
Wieder spührte sie die Wärme aus den Fingern der Mutter fließen, in ihre eigenen Hände, und von dort in den Schmetterling, der taumelnd abhob und sein Heil erneut in der Flucht suchte.
Sie wusste noch, niemals wieder hatte sie einem Tier absichtlich weh getan, allein um nicht noch einmal diese Traurigkeit in diesen Augen sehen zu müssen.
Ein leises Seufzen entfloh ihrer Kehle gen Decke und sie rollte sich auf die Seite. Das würde wieder eine unangenehme Nacht werden, darauf freut sie sich irgendwie garnicht so recht.
"Warum ist niemand da?" flüsterte sie in die Stille des Raums. Sicher, sie war es gewohnt, alleine zu sein, sich durchzuschlagen und um sich zu beissen, doch sie hatte längst gespührt, welchen Preis dies forderte.
"Warum ist niemand da?"
Hatte sie das gedacht oder ausgesprochen?
"Egal... es sind nur Träume" erklärte sie der Wand, im Versuch, fest und übereugend zu klingen, doch ihre Stimme zitterte. vielleicht lag es an den unvergossenen Tränen, vielleicht am Blut auf ihrer Zunge?
Morgen würde alles besser aussehen. Bestimmt. Vielleicht würde sie jemanden sehen, vielleicht etwas empfinden, vielleicht auch nicht. Sie spührte, wie die Melodie verklang und nur mehr eine neue Zeile verblieb, bevor sie in tiefen, traumvollen Schlaf hinabsank.
Sternlein, Sternlein... warum lässt du mich allein?
Zuletzt geändert von Miana Tialis: 12.05.04, 02:01, insgesamt 1-mal geändert.
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