I.
Östlich von Falkensee, Dunkeltief.
Auf dem kurzen Ritt hierher wirbelten ihm zerstobene Gedanken durch den Kopf. Das ist Wahnsinn, so viel wusste er, als er seinen Hengst, den er nicht ohne einen dieser seltenen Anflüge von Humor „Mauerfürst“ genannt hatte, durch die alles verschlingende Finsternis jagte, die man für seine Begriffe etwas verharmlosend Dunkeltief zu nennen pflegte. Dunkeltief… an diesen Tagen hatte seine Mutter die ganze Familie mit löwischer Miene hinter den schweren Türen des Herrenhauses in Ersonts Tal gezwungen; niemand, abgesehen von seinem Vater, durfte auch nur in die Nähe eines der verriegelten Fenster und einen Blick nach draußen wagen. Über die weiten Ebenen und Wälder des nördlichen Reiches peitschten die Winde, drinnen, im Haus, wärmte sich die Familie am wohligen Kamin und man erzählte sich Geschichten aus wärmeren, fröhlicheren Zeiten. Der nächste Vitama, der nächste Astrael waren schließlich nicht mehr fern.
Cendaric zog vorsichtig die schon stark abgegriffenen Zügel an und trieb den Mauerfürsten etwas abseits des Weges, in den Wald hinein. Nicht einmal der weiß strahlende Morsansschnee vermochte dieser gierigen Dunkelheit ernstlich etwas anzuhaben und wenn sich nicht die Hufe seines Pferdes im ruhigen Takt gut hörbar in die weiße Decke gesenkt hätten, hätte er genauso gut meinen können, er reite durch eine endlose Wüste der Lichtlosigkeit. Glücklicherweise kannte er diese Gegend gut, sehr gut sogar. Dieser Gedanke vermochte, erneut, die Schleusen zu öffnen, rief ihm den Grund seines Ausritts wieder mit kalter Unbarmherzigkeit in Erinnerung. Während seine Mutter es stets einer Löwin gleich vermocht hatte, die ganze Familie in der Zeit des Dunkeltiefs hinter den sicheren Mauern des Hauses zu halten, hatte er versagt. Wieder einmal.
Das Grauen hatte ihn unvermittelt erreicht, auf einem Wachgang über die nördlichen Zinnen. Erst wenige Stunden hatte sich die Finsternis über das Land gelegt, als die Horden aus den Bergen herbeiströmten und die Mauer von der ungeschätzten Bergflanke her überrannten. Aus den Bergen! Sie hätten es wissen müssen, zumindest er selbst hätte es ahnen können. Frontal war der Wall bei ausreichender Besetzung auch mit Horden von Untoten nicht zu nehmen, ganz gleich, ob es Dunkeltief oder höchster Astrael war. Aber die Gebirgsflanken waren verwundbar, zu verwundbar…
In diesem Augenblick hatte er sich schwerfällig aus dem Sattel fallen lassen, tief gruben sich die schweren Stiefel mit seinem ganzen Gewicht von Körper und Rüstung in die Schneedecke hinein. Er bemerkte, dass seine Hände leicht zitterten, als er vorsichtig Helm und Schild vom Sattel löste. Wie ein eiskalter Käfig erschien ihm der kupferne Kopfschutz, als er ihn vorsichtig über den Schädel streifte. Mit klammen Hände zottelte Cendaric die schweren Panzerhandschuhe über die wärmenden Fäustlinge aus Leder; heftig schlug der warme Atem von innen gegen das kalte Metall des Helms. Das ist Wahnsinn. Akora hätte ihn schlichtweg für verrückt erklärt, Hali sicherlich ebenso. Velyan vielleicht, er war sich nicht sicher. Jedoch war keiner der drei gerade hier – die eine gewiss bei wohliger Wärme in ihrem Turm, thronend in einer Rotte von speichelleckenden Günstlingen und Verehrern, Hali jenseits des großen Ozeans in den Armen seiner heiß geliebten Frau, für die er alles verlassen hatte, alles vergessen hatte, was auf dieser Insel gewesen ist und Velyan sicherlich bei den Getreuen und Streitern am Nordtor – pflichtbewusst wie immer. Flau wurde sein Magen erst, als er mit der behandschuhten Hand nach dem Griff des Schwertes langte und dieses vorsichtig in die Scheide sinken ließ.
Es war auch Wahnsinn gewesen, dem Befehl des Vaters nicht zu folgen und einfach wegzulaufen, so dräute es ihm, als er in einem Moment bizarrer Zärtlichkeit ganz vorsichtig mit den stählernen Fingern über den warmen Hals des Mauerfürsten strich. Wehmut umfing ihn unwillkürlich und Zorn. Dieses Tier hatte die Fehler nicht begangen, seinen Auftrag stets erfüllt. Er musste es hier im Wald zurücklassen und würde es nicht auf den Weg mitnehmen, der ihm bevorstand. Er hingegen, er hatte abermals versagt. Wie ein Erwachsener einem arglosen Kleinkind spielerisch einen Stock aus den noch tollpatschigen Händen zu entwinden vermag, so hatte man ihm den Wall genommen, seine Mauer. Feierlich hatte er gelobt, die Mauer mit seinem Leben zu verteidigen, bis zum letzten. Mochte der Feind auch in der Überzahl sein, die Schrecken dieser und aller anderen Welten aufbieten – sein Eid war eindeutig und folglich auch sein Versagen. In blanke Panik hatten ihn die Ströme an lebenden Toten versetzt, die urplötzlich die gesamte Mauerkrone säumten. Mit verzweifeltem Mut hatte er sich eine Schneise zur Treppe geschlagen, sich seinen Weg durch das Treppenhaus nach unten gebahnt. Wie eine elende Ratte hatte man ihn vom Wall fortgejagt, ein ehrenvoller Kampf sah freilich anders aus. Stundenlang war er hiernach wie benommen durch den nahen Wald getaumelt, ohne Ziel, ohne klaren Gedanken. Schließlich hatte er irgendwann, mehr zufällig denn geplant, das Nordtor von Falkensee erreicht. Viele bekannte Gesichter erwarteten ihn dort, Lantea, Toran, Pharalis. Allesamt hatten sie den Angriff noch halbwegs gut überstanden, auch wenn Cendaric bezweifelte, dass der Wall bei Torans Anwesenheit so leicht gefallen wäre. Der Rest war schwer verletzt ins Spital geschafft worden. Die Niederlage des Ordens war so komplett, so total gewesen. Nicht einmal wenige Stunden hatten sie es vermocht, den Wall gegen den dunklen Feind zu verteidigen. Nicht einen Tag. Und er war der Truppführer der Wallwächter, ihr Kommandant. Ich hätte nicht fortlaufen dürfen, nicht schon wieder…
Fast erschrak Cendaric, feststellend, dass er tief in Gedanken und unaufmerksam bereits die halbe Wegstrecke durch den Wald zurückgelegt hatte. Die schwere Rüstung lastete auf ihm, das Stahlschild mit der aufgespannten Plane, die einen brüllenden Löwen auf weißem Grund zeigte, erschien merklich schwerer als sonst. Knarzend bahnte er sich seinen Weg durch die tiefste Nacht des Jahres, doch er kannte sein Ziel besser als kaum jemand anderes. Die Kälte kümmerte ihn wenig, letztlich war er ein Ersontiner und ärgeres gewöhnt als den vergleichsweise milden Winter auf Siebenwind. Trotzdem bleibt es Wahnsinn, Cendaric, hallte es abermals in seinem Kopf wider. Wahnsinn oder nicht, ein Eid bleibt ein Eid und ein Auftrag ein Auftrag. Kurz bevor er Falkensee verließ, hatte er Toran angefleht, einen Versuch zur Befreiung der Mauer unternehmen zu dürfen und der Ordensmeister hatte es abgelehnt. Das war überaus vernünftig gewesen; alles was Toran Dur zu tun pflegte, schien vernünftig zu sein – selbst sein Bier trank er ganz erfüllt davon. Also war Cendaric Tibur in einem unachtsamen Moment durch das Nordtor geeilt und hatte sich dem direkten Befehl seines Meisters widersetzt. Doch kam er nicht hierher als sein Stellvertreter, als Getreuer, Löwe oder Diener des Lehens. Er war hier, weil er eine Rechnung zu begleichen war, eine Abrechnung mit sich selbst.
Noch gegen dieses lichtlose Firmament aus Schatten hoben sich die weiten Mauern ab, stellte er fest, als er sich aus der Ferne den Wallfundamenten näherte. Noch immer glommen die Wachfeuer von den Zinnen, die die untoten Schergen sich selbst überlassen hatten. Mit Stöckchen gegen Bären kämpfen, so pflegte man in seiner alten Heimat zu nennen, was in jeder Hinsicht aussichtslos erschien. Nur zog er mit seiner rechten Hand keinen Holzknüppel hervor, sondern ein wohl gepflegtes Langschwert. Er war in den Nächten vor dem Dunkeltief nicht müde geworden, es stets scharf zu halten, doch hatte es nichts genützt, gar nichts. Vielleicht wäre es sogar besser gewesen, wenn die Brut ihn auf der Treppe erschlagen hätte. Lieber getreulich sterben, als lebend davonzulaufen. Seinem Vater hätte das sicher sehr gefallen, Akora Dur hätte vermutlich augenrollend energisch ihren rothaarigen Kopf geschüttelt. Aber dies hier waren sein Kampf, seine Mauer, sein Auftrag, nicht ihre Angelegenheiten. Und es bleibt trotzdem blanker Wahnsinn.
Als er, sich mühsam und gebeugt durch den Schnee schleichend, die mächtigen Mauerfundamente erreichte, hatte er sich entschieden, gegen die Vernunft. Seine zusammengepressten Augen glitten durch den Sehschlitz des Helmes über die nähere Umgebung, die man trotz der Finsternis im Widerschein der verglühenden Wachfeuer noch erahnen konnte. Die hintere Tür, dann die Treppe, die Zinnen entlang Richtung Torhaus, dort wird es sicher sein, mit grimmiger Miene auf einem der aufgestellten Throne im großem Besprechungsraum sitzend. Es war das Biest, welches diesen Trupp scheinbar befehligte, ein wahrhaftiger Leichnam, ein furchtbarer Knecht des Einen Gottes. Er, Cendaric, würde schneller sein als der Nachtwind, der über die Mauerkrone peitscht, würde die unachtsamen Diener überrumpeln und sich seinen Weg geradewegs zum Torhaus bahnen, zum Lich hin, und letztlich dort dem Ganzen ein Ende bereiten. Oder du wirst einfach nur nach wenigen Schritten erschlagen werden, du Irrer!
Als er sich gegen die schattenkalte Mauerbasis lehnte, rücklings, musste er schmunzeln. Hatte ihm der gute Wilhelm doch erst vor wenigen Tagen seinen letzten Willen überantwortet. Eine glatte Fehlentscheidung, das war nun allzu offensichtlich. Ein tiefes Durchatmen später hatte er mit der Routine eines kampferprobten Recken jedwede Gedanken aus seinem Kopf verbannt, nur sein Weg zählte noch. Alles schien mechanisch abzulaufen, wie ein kunstvoll gearbeitetes Uhrwerk: Möglichst leise schlich er am Mauervorsprung entlang und sprang über die Treppenstufen des südlichen Hintereingangs in den Wehrgang der Mauer. Zu seiner allergrößten Überraschung war weit und breit zumindest nichts zu sehen, auch wenn es überall nach Moder, nach Verwesung, nach schierer Dunkelheit stank. Weniger mit den Augen als mit seinen verbliebenen Körpersinnen huschte er die Treppenstufen empor, das Rasseln des Kettenpanzers war ihm noch nie so laut erschienen. Oben angekommen bildeten die beiden Skelette kein größeres Hindernis, denn der Löwe zerschlug sie ohne länger über das Für und Wider nachzusinnen mit seiner stählernen Pranke zu einem kleinen Haufen aus Knochen und verfaultem Fleisch. Die Dunkelheit war sein eigentlicher Feind, das fehlende Licht der heiligen Vier. Können mich die Götter bei dieser Finsternis überhaupt sehen? Die Frage war naiv und sicher auch blasphemisch zugleich, jedoch lag ihm derzeit wenig ferner als ein innerlicher theologischer Monolog. Wichtiger war, dass niemand dieses kleine Scharmützel bemerkt zu haben schien, zumindest hörte er so gut wie nichts. Vielleicht würde der Segen, den die Geweihten den Mitgliedern des Ordens im Tempel vorgestern erteilt hatten, … Unsanft riss ihn eine kleine Gruppe von verfaulenden Wiedergängern, aus der Finsternis in seine Nähe wankend, aus seinen Gedanken. Das sich anschließende Gefecht schien ewig anzudauern: Wieder und wieder schlug er auf diese verrottenden Fleischberge ein, doch ohne jegliches Zögern bestürmten sie ihn unaufhörlich. Fatalerweise sah er sich kämpfend auf der Mauer nach Süden gedrängt, vom Torhaus fort. Das strahlende Weiß seiner Wappentunika gehörte dank der umherwirbelnden Fetzen unlängst der Vergangenheit an, doch glücklicherweise hatte er den plumpen Streichen der Untoten bislang mit seinem Schild begegnen können. Bald, so spürte er, würde er den Südturm erreichen, der Schwall an Verfluchten aus dem Norden mochte allerdings einfach nicht abreißen. Es war Wahnsinn hierherzukommen und du bist bald hier die einzige tatsächliche Leiche auf diesem verdammten Steinhaufen!
Die Angst, das hatte er vor unendlich langen Zeiten zuerst gelernt, ist die größte Schwäche eines Kämpfers, der sichere Nagel an seinem Sarg. Wut glomm schließlich in ihm auf und mit einigen beherzten Schlägen trieb er die auf ihn eindrängenden Knüppel, Äxte und verfaulenden Hände auf Armlänge von sich. Blitzschnell duckte er sich durch das Portal rücklings in den Südturm hinein, den er genau zur richtigen Zeit erreicht hatte. Viel Zeit blieb ihm nicht, soviel war sicher. Nach oben? Nach unten? Der Feigling läuft nach unten und flieht, der Aufrechte wählt den Weg hinauf, bricht alle Brücken hinter sich ab und kämpft. Bis zum Ende. Ein Löwe bewacht sein Reich oder er stirbt. Dazwischen gibt es nichts, rein gar nichts. Die Treppenstufen schienen höher zu sein als sonst. Schnaufend erreichte Cendaric das Ende des steinernen Aufganges, und wandte ruckartig sich herum, Schwert und Schild kampfbereit, um seinen Verfolgern geradewegs in die schrecklichen, verwesenden Züge zu blicken, die dereinst ihre Gesichter waren. Tief sog er, vom kalten Schweiß des Kampfes durchnässt und bebend vor Erregung, die faulige Luft in seine Lungen, allüberall besudelt mit dem Unrat des Todes. Fast vermochte er seinen Herzschlag unter dem engen Helm zu spüren… Warum verfolgen sie mich nicht? Das war ganz und gar widersinnig; die Meute hatte ihn zum Turm getrieben, nur um dann von ihm abzulassen? Er wusste um die Beschränktheit dieser willenlosen Diener, dennoch waren sie zweifellos nicht so beschränkt, gerade wenn ein derart übles Wesen sie befehligt.. Vielleicht der Segen der… Ein unglaublich kräftiger Schlag aus irgendeiner Richtung verwehrte ihm auch dieses Mal, seinen frommen Gedanken zu Ende zu führen. Ein schreiender, klirrender, knallender Schmerz schien seinen Kopf förmlich zu zerreißen, als er die Treppe mit der gesamten Wucht seines Gewichts nach unten stürzte, geradewegs auf den gemauerten Boden des Südturms. Der Riemen des Schilds war zerrissen, das Schwert beim Aufprall geborsten, zerschmettert. Benommen, am Rande der Ohnmacht lag er ausgestreckt am Fuß der Treppe und schnappend ging sein Atem. Er würde weder Hali noch Akora brauchen um sich sagen zu lassen, dass einige seiner Knochen den Sturz nicht heil überstanden hatten. In seinem Mund vermischten sich Blut und Schweiß, während seine Augen wahllos durch die Finsternis glitten und er qualvoll seinen Oberkörper aufrichtete. Waren sie überhaupt noch geöffnet? Oder war es hier wirklich so dunkel gewesen? Es schien keine Zeit mehr zu geben und keinen Raum, nichts vorher, nichts nachher. Er spürte, dass etwas ihn mit einer unglaublichen Kraft packte, über den Boden zog und ihn unsanft gegen die kalte Mauerwand mehr warf als lehnte. Um sich herum vermochte er noch immer nichts zu erkennen, nichts klares mehr zu denken: Gestank, Ächzen, Schweiß, Angst, seine Angst. Zwei Hände rissen ihm den Helm vom Schädel, der festgeschnallte Riemen barst just bevor er ihn schier erdrosselte. Irgendwoher vernahm er das vertraute Geräusch, mit dem Stahl durch Leder gleitet und er schloss die Augen. Es kämpfen siegreich die Heroen, nur die Menschen sterben erbärmlich. Seine Lippen bebten und er zitterte am ganzen Körper. Ein paar schwere Schritte vernahm er aus dem Nichts. Doch woher? Von wem? Wieso? Er vermochte in diesem Moment nicht mehr, die Träne zurückzuhalten, die nun über seine vernarbte, blutverschmierte Wange rollte und so unendlich salzig schmeckte. Löwen weinen nicht, Löwen brüllen! Kraftlos fiel Cendarics Kopf zurück und prallte gegen den kalten, gefühllosen Stein. Surrend zerschnitt eine Klinge die faulige, eisige Luft... Und es war doch Wahnsinn gewesen.
Zuletzt geändert von Nebulon: 29.01.07, 00:48, insgesamt 1-mal geändert.
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