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 Betreff des Beitrags: Leontes te devorant - die Löwen fressen dich auf.
BeitragVerfasst: 12.01.07, 14:31 
Ehrenbürger
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I.

Östlich von Falkensee, Dunkeltief.

Auf dem kurzen Ritt hierher wirbelten ihm zerstobene Gedanken durch den Kopf. Das ist Wahnsinn, so viel wusste er, als er seinen Hengst, den er nicht ohne einen dieser seltenen Anflüge von Humor „Mauerfürst“ genannt hatte, durch die alles verschlingende Finsternis jagte, die man für seine Begriffe etwas verharmlosend Dunkeltief zu nennen pflegte. Dunkeltief… an diesen Tagen hatte seine Mutter die ganze Familie mit löwischer Miene hinter den schweren Türen des Herrenhauses in Ersonts Tal gezwungen; niemand, abgesehen von seinem Vater, durfte auch nur in die Nähe eines der verriegelten Fenster und einen Blick nach draußen wagen. Über die weiten Ebenen und Wälder des nördlichen Reiches peitschten die Winde, drinnen, im Haus, wärmte sich die Familie am wohligen Kamin und man erzählte sich Geschichten aus wärmeren, fröhlicheren Zeiten. Der nächste Vitama, der nächste Astrael waren schließlich nicht mehr fern.

Cendaric zog vorsichtig die schon stark abgegriffenen Zügel an und trieb den Mauerfürsten etwas abseits des Weges, in den Wald hinein. Nicht einmal der weiß strahlende Morsansschnee vermochte dieser gierigen Dunkelheit ernstlich etwas anzuhaben und wenn sich nicht die Hufe seines Pferdes im ruhigen Takt gut hörbar in die weiße Decke gesenkt hätten, hätte er genauso gut meinen können, er reite durch eine endlose Wüste der Lichtlosigkeit. Glücklicherweise kannte er diese Gegend gut, sehr gut sogar. Dieser Gedanke vermochte, erneut, die Schleusen zu öffnen, rief ihm den Grund seines Ausritts wieder mit kalter Unbarmherzigkeit in Erinnerung. Während seine Mutter es stets einer Löwin gleich vermocht hatte, die ganze Familie in der Zeit des Dunkeltiefs hinter den sicheren Mauern des Hauses zu halten, hatte er versagt. Wieder einmal.

Das Grauen hatte ihn unvermittelt erreicht, auf einem Wachgang über die nördlichen Zinnen. Erst wenige Stunden hatte sich die Finsternis über das Land gelegt, als die Horden aus den Bergen herbeiströmten und die Mauer von der ungeschätzten Bergflanke her überrannten. Aus den Bergen! Sie hätten es wissen müssen, zumindest er selbst hätte es ahnen können. Frontal war der Wall bei ausreichender Besetzung auch mit Horden von Untoten nicht zu nehmen, ganz gleich, ob es Dunkeltief oder höchster Astrael war. Aber die Gebirgsflanken waren verwundbar, zu verwundbar…

In diesem Augenblick hatte er sich schwerfällig aus dem Sattel fallen lassen, tief gruben sich die schweren Stiefel mit seinem ganzen Gewicht von Körper und Rüstung in die Schneedecke hinein. Er bemerkte, dass seine Hände leicht zitterten, als er vorsichtig Helm und Schild vom Sattel löste. Wie ein eiskalter Käfig erschien ihm der kupferne Kopfschutz, als er ihn vorsichtig über den Schädel streifte. Mit klammen Hände zottelte Cendaric die schweren Panzerhandschuhe über die wärmenden Fäustlinge aus Leder; heftig schlug der warme Atem von innen gegen das kalte Metall des Helms. Das ist Wahnsinn. Akora hätte ihn schlichtweg für verrückt erklärt, Hali sicherlich ebenso. Velyan vielleicht, er war sich nicht sicher. Jedoch war keiner der drei gerade hier – die eine gewiss bei wohliger Wärme in ihrem Turm, thronend in einer Rotte von speichelleckenden Günstlingen und Verehrern, Hali jenseits des großen Ozeans in den Armen seiner heiß geliebten Frau, für die er alles verlassen hatte, alles vergessen hatte, was auf dieser Insel gewesen ist und Velyan sicherlich bei den Getreuen und Streitern am Nordtor – pflichtbewusst wie immer. Flau wurde sein Magen erst, als er mit der behandschuhten Hand nach dem Griff des Schwertes langte und dieses vorsichtig in die Scheide sinken ließ.

Es war auch Wahnsinn gewesen, dem Befehl des Vaters nicht zu folgen und einfach wegzulaufen, so dräute es ihm, als er in einem Moment bizarrer Zärtlichkeit ganz vorsichtig mit den stählernen Fingern über den warmen Hals des Mauerfürsten strich. Wehmut umfing ihn unwillkürlich und Zorn. Dieses Tier hatte die Fehler nicht begangen, seinen Auftrag stets erfüllt. Er musste es hier im Wald zurücklassen und würde es nicht auf den Weg mitnehmen, der ihm bevorstand. Er hingegen, er hatte abermals versagt. Wie ein Erwachsener einem arglosen Kleinkind spielerisch einen Stock aus den noch tollpatschigen Händen zu entwinden vermag, so hatte man ihm den Wall genommen, seine Mauer. Feierlich hatte er gelobt, die Mauer mit seinem Leben zu verteidigen, bis zum letzten. Mochte der Feind auch in der Überzahl sein, die Schrecken dieser und aller anderen Welten aufbieten – sein Eid war eindeutig und folglich auch sein Versagen. In blanke Panik hatten ihn die Ströme an lebenden Toten versetzt, die urplötzlich die gesamte Mauerkrone säumten. Mit verzweifeltem Mut hatte er sich eine Schneise zur Treppe geschlagen, sich seinen Weg durch das Treppenhaus nach unten gebahnt. Wie eine elende Ratte hatte man ihn vom Wall fortgejagt, ein ehrenvoller Kampf sah freilich anders aus. Stundenlang war er hiernach wie benommen durch den nahen Wald getaumelt, ohne Ziel, ohne klaren Gedanken. Schließlich hatte er irgendwann, mehr zufällig denn geplant, das Nordtor von Falkensee erreicht. Viele bekannte Gesichter erwarteten ihn dort, Lantea, Toran, Pharalis. Allesamt hatten sie den Angriff noch halbwegs gut überstanden, auch wenn Cendaric bezweifelte, dass der Wall bei Torans Anwesenheit so leicht gefallen wäre. Der Rest war schwer verletzt ins Spital geschafft worden. Die Niederlage des Ordens war so komplett, so total gewesen. Nicht einmal wenige Stunden hatten sie es vermocht, den Wall gegen den dunklen Feind zu verteidigen. Nicht einen Tag. Und er war der Truppführer der Wallwächter, ihr Kommandant. Ich hätte nicht fortlaufen dürfen, nicht schon wieder…

Fast erschrak Cendaric, feststellend, dass er tief in Gedanken und unaufmerksam bereits die halbe Wegstrecke durch den Wald zurückgelegt hatte. Die schwere Rüstung lastete auf ihm, das Stahlschild mit der aufgespannten Plane, die einen brüllenden Löwen auf weißem Grund zeigte, erschien merklich schwerer als sonst. Knarzend bahnte er sich seinen Weg durch die tiefste Nacht des Jahres, doch er kannte sein Ziel besser als kaum jemand anderes. Die Kälte kümmerte ihn wenig, letztlich war er ein Ersontiner und ärgeres gewöhnt als den vergleichsweise milden Winter auf Siebenwind. Trotzdem bleibt es Wahnsinn, Cendaric, hallte es abermals in seinem Kopf wider. Wahnsinn oder nicht, ein Eid bleibt ein Eid und ein Auftrag ein Auftrag. Kurz bevor er Falkensee verließ, hatte er Toran angefleht, einen Versuch zur Befreiung der Mauer unternehmen zu dürfen und der Ordensmeister hatte es abgelehnt. Das war überaus vernünftig gewesen; alles was Toran Dur zu tun pflegte, schien vernünftig zu sein – selbst sein Bier trank er ganz erfüllt davon. Also war Cendaric Tibur in einem unachtsamen Moment durch das Nordtor geeilt und hatte sich dem direkten Befehl seines Meisters widersetzt. Doch kam er nicht hierher als sein Stellvertreter, als Getreuer, Löwe oder Diener des Lehens. Er war hier, weil er eine Rechnung zu begleichen war, eine Abrechnung mit sich selbst.

Noch gegen dieses lichtlose Firmament aus Schatten hoben sich die weiten Mauern ab, stellte er fest, als er sich aus der Ferne den Wallfundamenten näherte. Noch immer glommen die Wachfeuer von den Zinnen, die die untoten Schergen sich selbst überlassen hatten. Mit Stöckchen gegen Bären kämpfen, so pflegte man in seiner alten Heimat zu nennen, was in jeder Hinsicht aussichtslos erschien. Nur zog er mit seiner rechten Hand keinen Holzknüppel hervor, sondern ein wohl gepflegtes Langschwert. Er war in den Nächten vor dem Dunkeltief nicht müde geworden, es stets scharf zu halten, doch hatte es nichts genützt, gar nichts. Vielleicht wäre es sogar besser gewesen, wenn die Brut ihn auf der Treppe erschlagen hätte. Lieber getreulich sterben, als lebend davonzulaufen. Seinem Vater hätte das sicher sehr gefallen, Akora Dur hätte vermutlich augenrollend energisch ihren rothaarigen Kopf geschüttelt. Aber dies hier waren sein Kampf, seine Mauer, sein Auftrag, nicht ihre Angelegenheiten. Und es bleibt trotzdem blanker Wahnsinn.

Als er, sich mühsam und gebeugt durch den Schnee schleichend, die mächtigen Mauerfundamente erreichte, hatte er sich entschieden, gegen die Vernunft. Seine zusammengepressten Augen glitten durch den Sehschlitz des Helmes über die nähere Umgebung, die man trotz der Finsternis im Widerschein der verglühenden Wachfeuer noch erahnen konnte. Die hintere Tür, dann die Treppe, die Zinnen entlang Richtung Torhaus, dort wird es sicher sein, mit grimmiger Miene auf einem der aufgestellten Throne im großem Besprechungsraum sitzend. Es war das Biest, welches diesen Trupp scheinbar befehligte, ein wahrhaftiger Leichnam, ein furchtbarer Knecht des Einen Gottes. Er, Cendaric, würde schneller sein als der Nachtwind, der über die Mauerkrone peitscht, würde die unachtsamen Diener überrumpeln und sich seinen Weg geradewegs zum Torhaus bahnen, zum Lich hin, und letztlich dort dem Ganzen ein Ende bereiten. Oder du wirst einfach nur nach wenigen Schritten erschlagen werden, du Irrer!

Als er sich gegen die schattenkalte Mauerbasis lehnte, rücklings, musste er schmunzeln. Hatte ihm der gute Wilhelm doch erst vor wenigen Tagen seinen letzten Willen überantwortet. Eine glatte Fehlentscheidung, das war nun allzu offensichtlich. Ein tiefes Durchatmen später hatte er mit der Routine eines kampferprobten Recken jedwede Gedanken aus seinem Kopf verbannt, nur sein Weg zählte noch. Alles schien mechanisch abzulaufen, wie ein kunstvoll gearbeitetes Uhrwerk: Möglichst leise schlich er am Mauervorsprung entlang und sprang über die Treppenstufen des südlichen Hintereingangs in den Wehrgang der Mauer. Zu seiner allergrößten Überraschung war weit und breit zumindest nichts zu sehen, auch wenn es überall nach Moder, nach Verwesung, nach schierer Dunkelheit stank. Weniger mit den Augen als mit seinen verbliebenen Körpersinnen huschte er die Treppenstufen empor, das Rasseln des Kettenpanzers war ihm noch nie so laut erschienen. Oben angekommen bildeten die beiden Skelette kein größeres Hindernis, denn der Löwe zerschlug sie ohne länger über das Für und Wider nachzusinnen mit seiner stählernen Pranke zu einem kleinen Haufen aus Knochen und verfaultem Fleisch. Die Dunkelheit war sein eigentlicher Feind, das fehlende Licht der heiligen Vier. Können mich die Götter bei dieser Finsternis überhaupt sehen? Die Frage war naiv und sicher auch blasphemisch zugleich, jedoch lag ihm derzeit wenig ferner als ein innerlicher theologischer Monolog. Wichtiger war, dass niemand dieses kleine Scharmützel bemerkt zu haben schien, zumindest hörte er so gut wie nichts. Vielleicht würde der Segen, den die Geweihten den Mitgliedern des Ordens im Tempel vorgestern erteilt hatten, … Unsanft riss ihn eine kleine Gruppe von verfaulenden Wiedergängern, aus der Finsternis in seine Nähe wankend, aus seinen Gedanken. Das sich anschließende Gefecht schien ewig anzudauern: Wieder und wieder schlug er auf diese verrottenden Fleischberge ein, doch ohne jegliches Zögern bestürmten sie ihn unaufhörlich. Fatalerweise sah er sich kämpfend auf der Mauer nach Süden gedrängt, vom Torhaus fort. Das strahlende Weiß seiner Wappentunika gehörte dank der umherwirbelnden Fetzen unlängst der Vergangenheit an, doch glücklicherweise hatte er den plumpen Streichen der Untoten bislang mit seinem Schild begegnen können. Bald, so spürte er, würde er den Südturm erreichen, der Schwall an Verfluchten aus dem Norden mochte allerdings einfach nicht abreißen. Es war Wahnsinn hierherzukommen und du bist bald hier die einzige tatsächliche Leiche auf diesem verdammten Steinhaufen!

Die Angst, das hatte er vor unendlich langen Zeiten zuerst gelernt, ist die größte Schwäche eines Kämpfers, der sichere Nagel an seinem Sarg. Wut glomm schließlich in ihm auf und mit einigen beherzten Schlägen trieb er die auf ihn eindrängenden Knüppel, Äxte und verfaulenden Hände auf Armlänge von sich. Blitzschnell duckte er sich durch das Portal rücklings in den Südturm hinein, den er genau zur richtigen Zeit erreicht hatte. Viel Zeit blieb ihm nicht, soviel war sicher. Nach oben? Nach unten? Der Feigling läuft nach unten und flieht, der Aufrechte wählt den Weg hinauf, bricht alle Brücken hinter sich ab und kämpft. Bis zum Ende. Ein Löwe bewacht sein Reich oder er stirbt. Dazwischen gibt es nichts, rein gar nichts. Die Treppenstufen schienen höher zu sein als sonst. Schnaufend erreichte Cendaric das Ende des steinernen Aufganges, und wandte ruckartig sich herum, Schwert und Schild kampfbereit, um seinen Verfolgern geradewegs in die schrecklichen, verwesenden Züge zu blicken, die dereinst ihre Gesichter waren. Tief sog er, vom kalten Schweiß des Kampfes durchnässt und bebend vor Erregung, die faulige Luft in seine Lungen, allüberall besudelt mit dem Unrat des Todes. Fast vermochte er seinen Herzschlag unter dem engen Helm zu spürenWarum verfolgen sie mich nicht? Das war ganz und gar widersinnig; die Meute hatte ihn zum Turm getrieben, nur um dann von ihm abzulassen? Er wusste um die Beschränktheit dieser willenlosen Diener, dennoch waren sie zweifellos nicht so beschränkt, gerade wenn ein derart übles Wesen sie befehligt.. Vielleicht der Segen der…
Ein unglaublich kräftiger Schlag aus irgendeiner Richtung verwehrte ihm auch dieses Mal, seinen frommen Gedanken zu Ende zu führen. Ein schreiender, klirrender, knallender Schmerz schien seinen Kopf förmlich zu zerreißen, als er die Treppe mit der gesamten Wucht seines Gewichts nach unten stürzte, geradewegs auf den gemauerten Boden des Südturms. Der Riemen des Schilds war zerrissen, das Schwert beim Aufprall geborsten, zerschmettert. Benommen, am Rande der Ohnmacht lag er ausgestreckt am Fuß der Treppe und schnappend ging sein Atem. Er würde weder Hali noch Akora brauchen um sich sagen zu lassen, dass einige seiner Knochen den Sturz nicht heil überstanden hatten. In seinem Mund vermischten sich Blut und Schweiß, während seine Augen wahllos durch die Finsternis glitten und er qualvoll seinen Oberkörper aufrichtete. Waren sie überhaupt noch geöffnet? Oder war es hier wirklich so dunkel gewesen? Es schien keine Zeit mehr zu geben und keinen Raum, nichts vorher, nichts nachher. Er spürte, dass etwas ihn mit einer unglaublichen Kraft packte, über den Boden zog und ihn unsanft gegen die kalte Mauerwand mehr warf als lehnte. Um sich herum vermochte er noch immer nichts zu erkennen, nichts klares mehr zu denken: Gestank, Ächzen, Schweiß, Angst, seine Angst. Zwei Hände rissen ihm den Helm vom Schädel, der festgeschnallte Riemen barst just bevor er ihn schier erdrosselte. Irgendwoher vernahm er das vertraute Geräusch, mit dem Stahl durch Leder gleitet und er schloss die Augen. Es kämpfen siegreich die Heroen, nur die Menschen sterben erbärmlich. Seine Lippen bebten und er zitterte am ganzen Körper. Ein paar schwere Schritte vernahm er aus dem Nichts. Doch woher? Von wem? Wieso? Er vermochte in diesem Moment nicht mehr, die Träne zurückzuhalten, die nun über seine vernarbte, blutverschmierte Wange rollte und so unendlich salzig schmeckte. Löwen weinen nicht, Löwen brüllen! Kraftlos fiel Cendarics Kopf zurück und prallte gegen den kalten, gefühllosen Stein. Surrend zerschnitt eine Klinge die faulige, eisige Luft... Und es war doch Wahnsinn gewesen.


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 Betreff des Beitrags: Vestigium Leonis - Des Löwen Spuren
BeitragVerfasst: 27.01.07, 20:01 
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Kalter Wind fuhr heulend in das Torhaus des Walls, eine Wolke Schnee mit sich bringend, und fegte Asche aus den neuerlich aufglühenden Kohlebecken.
Fröstelnd, wenngleich sie lange Morsan gewohnt war, zog Pharalis den dicken Wollumhang im Blau des Löwenordens enger um sich, lehnte ihre Hellebarde an die Wand und trat an das Kohlebecken heran um sich die Hände zu wärmen. Bei diesem Wetter war herzlich wenig los am Wall, auch die anderen Löwen waren unauffindbar. Eine zweite Windböe heulte um den Wall herum und brachte eine weitere Ladung Schnee mit sich. Die Arme verschränkt, sah Pharalis hinaus Richtung Ödland. Nichts regte sich in der erfrorenen, leblosen Landschaft. Selbst die Wölfe, die sich hin und wieder in das Torhaus verirrten, hatten sich irgendwo verkrochen.
Ein plötzliches, leises Wiehern ließ Pharalis aufhorchen. Pferde im Ödland waren nichts zwangsläufig Ungewöhnliches, doch dieses Wiehern hatte sich nicht angehört wie eines aus der Herde der Wildpferde, wo zweifelsohne sofort eine Antwort erfolgt wäre.
Das Wiehern wiederholte sich, herangetragen vom sich etwas abschwächendem Wind. In ihrer Kindheit hatte Pharalis erlebt, wie ein Pferd auf den schmalen Bergpfaden ihrer Heimat abgerutscht war, und schließlich hilflos auf einem Felsvorsprung stand, eine Seite steil abfallend, die andere zu hoch, als dass das Tier sich selbst hätte befreien können. Das verzweifelte Wiehern dieses Pferdes glich jenem, das nun zum dritten Mal aus dem Ödland drang.
Schnee peitsche Pharalis ins Gesicht als sie das Torhaus verließ und auf die Brücke ins Ödland hinaus trat. Die Augen zusammenkneifend und mit einer Hand abschirmend, sah sie aufmerksam in die Richtung, in der sie das Wiehern vermutete. Das dichte Schneetreiben erschwerte die Sicht auf den Bergkamm, der dort in einiger Entfernung lag. Das verzweifelte Wiehern erklang ein viertes Mal, und diesmal war Pharalis sich sicher, dass es in der Tat aus der vermuteten Richtung kam. Mit einem kurzen Blick zurück zum Wall betrat sie schließlich den gefrorenen Boden des Ödlands, misstrauisch die Umgebung beobachtend, ehe sie sich eiligen Schrittes aufmachte in Richtung des Bergkammes.

Die tiefhängenden Wolken hatten sich etwas gelichtet als das Felsmassiv schließlich vor ihr in die Höhe wuchs. Im Windschatten des Berges rieselten nur noch wenige Schneeflocken auf den toten Boden herab und erleichterten das Fortkommen, als sie zwischen den Baumstümpfen des toten Waldes entlang stapfte. Eine glitzernde Eisschicht lag über dem trockenen Dornengestrüpp, welches so zäh war, dass es selbst hier im Ödland gedieh und flach am Boden zwischen Steinen und toten Baumresten entlangkroch, unter jedem Schritt gespenstisch knisternd und knackend.
Aus weiter Ferne drang das schrille Kreischen einer Harpyie heran. Pharalis' Miene verfinsterte sich. Sicherlich war es keine sonderlich schlaue Idee gewesen, alleine und unberitten ins Ödland vorzudringend, und die Quelle des Wieherns befand sich doch weiter weg, als der Wind es sie hatte glauben machen wollen.
Das Wiehern erklang von neuem, laut, schrill, verzweifelt. Umzukehren kam nicht mehr in Frage, versicherte Pharalis sich selbst, fegte sich im Gehen etwas Schnee vom Umhang, und beschleunigte ihren Schritt. Als sie plötzlich eine Einbuchtung in der Felswand erreichte, und den Ursprung des Wieherns entdeckte, verharrte sie überrascht in der Bewegung.

Der ursprüngliche Ärger des Pferdes über die eigene Misslage war wohl schon vor einigen Tagen in Verzweiflung umgeschlagen. Die Zügel, die lose vom Zaumzeug herabhingen, hatten sich in einem der dornigen Büsche des Ödlands verheddert, und jedes Reißen und Rucken daran hatte die Lage noch verschlimmert.
Es handelte sich jedoch nicht um irgendein Pferd, und nicht erst der Wappenschild, der am mittlerweile schief hängenden Sattel befestigt war, ließ Pharalis das Pferd als Mauerfürst erkennen, dem Pferd des stellvertretenden Ordensmeisters des Löwenordens, Cendaric Tibur.
Wie lange Mauerfürst bereits, mit nur wenigen Schritten Bewegungsfreiheit, hier ausgeharrt hatte, konnte Pharalis nicht genau sagen, doch wirkte er abgemagert, der Sattelgurt war locker und der Sattel hing schief. Nur die Tatsache, dass es sich in seinen erfolglosen Versuchen, sich loszumachen, viel Bewegt hatte, wie die Spuren am Boden um das Dornengestrüpp herum bewiesen, hatte das Pferd scheinbar vor dem Erfrieren bewahrt.
Als Pharalis sich eilig näherte, machte das Pferd einen fast entsetzten Satz zur Seite, wurde wieder von seinen Zügeln aufgehalten und wieherte laut, mit weit aufgerissenen Augen und Nüstern.
"Mauerfürst!" lockte Pharalis, ihre Schritte verlangsamend. "Mauerfürst, ich bin's, du kennst mich doch!"
Das Pferd schnaubte, den Kopf weiterhin so hoch erhoben wie möglich, jede Faser des normalerweise kräftigen, jetzt jedoch ausgezehrten, Körpers angespannt, dem inneren Fluchtinstinkt folgen.
Mit ruhigen Bewegungen zog Pharalis aus der Gürteltasche eines der trockenen Stückchen Brot, die sie zumeist für ihr eigenes Pferd bei sich trug, streckte es auf der flachen Hand aus, und näherte sich Mauerfürst langsam.
Die Zeit schien endlos langsam zu verstreichen bis Cendarics Pferd, jede ihrer Bewegungen beobachtend, schließlich langsam den Kopf senkte, den Hals lang machte, und sich nach dem dargebotenen Stück Brot streckte.

Als sich Mauerfürst schließlich bereitwillig anfassen ließ, war es gar nicht so leicht, ihn aus dem Dornengestrüpp zu befreien, und erst zu guter letzt bemerkte Pharalis, dass die Zügel des Pferdes an einer Stelle gerissen waren, ganz so als hätte es sich irgendwo losgemacht und sei geflohen. Nur einem unglücklichen Zufall war es zu verdenken, dass die losen Zügel sich irgendwie im Gestrüpp hatten verknoten können.
Auf dem gefrorenen Boden gab es nur wenige Spuren. Nach genauerem Hinsehen vermutete Pharalis, dass Mauerfürst scheinbar aus nördlicher Richtung gekommen war - doch im Norden erstreckte sich das Ödland in alle Ewigkeit, einen Hinweis bot das nicht.
Das Pferd am Zügel mit sich führend nachdem sie den Sattel gerichtet hatte, suchte Pharalis die nähere Umgebung ab, doch ohne Erfolg.

Die plötzlich einsetzende Dämmerung überraschte Pharalis. Hier noch weiter zu suchen würde nicht nur zu keinem Ergebnis führen, sondern sie obendrein selbst in Gefahr bringen. Frustriert trat sie gegen einen der gefrorenen Dornenbüsche. Eisbröckchen fielen leise knackend zu Boden, und Mauerfürst, den sie keineswegs so schreckhaft in Erinnerung hatte, machte einen erschrockenen Satz zur Seite. Seufzend klopfte Pharalis ihm den Hals, und sah das Bergmassiv empor. Wo auch immer Cendaric war, hier war nichts von ihm zu finden. Überhaupt konnte er so ziemlich überall sein. Es war zum Verzweifeln. Wenn er nur noch lebte.
Das Heulen zweier Wölfe nicht allzu weit entfernt erinnerte an das einbrechende Dunkel, in dem ein Verweilen im Ödland noch weniger empfehlenswert war als ohnehin schon.
Schweren Herzens kontrollierte Pharalis den Sattelgurt und stellte die Steigbügel in eine für sie passende Länge. Eigentlich sollte Mauerfürst geschont werden, zumal er vorne links ein wenig lahmte, doch wenn sie das Ödland noch vor Ende der Dämmerung verlassen wollten, musste sie reiten.
Mit einem letzten Blick zurück schlug sie eine Raute vor sich in die Luft. "Heilige Viere, beschützt Cendaric," murmelte sie leise, schwang sich in den Sattel, nahm die notdürftig geknoteten Zügel auf, und trieb Cendarics Pferd in einen leichten Trab. Und als hätten die Götter sie wohlwollend beobachtet, brach in genau diesem Moment die tiefstehende Sonne für nur einen kurzen einen Moment durch die Wolkendecke.


Zuletzt geändert von i.like.toads: 17.02.07, 00:54, insgesamt 1-mal geändert.

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 Betreff des Beitrags: Ex cinerem in flammis recentibus – aus der Asche in neue Fla
BeitragVerfasst: 28.01.07, 18:36 
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Stumm stand er einen Moment vor dem Bildnis, mit bohrenden, neugierigen Blicken im Rücken. Die alten, eingeprügelten Narben zogen sich noch immer sichtbar gleich verdorrten Flussläufen und ausgetrockneten Seenbecken durch das gereifte, aber doch vertraute Gesicht zwischen den verzierten Rahmen. Der jüngere Bruder, den er einst und die längste Zeit für schwach und hoffnungslos dem Schicksal erlegen gehalten hatte, er schaute nun auf ihn, den älteren, thronend und siegreich herab. Nun war Cantres der Mickrige, scheinbar der Mann ohne lichte Zukunft. Er kehrte dem Gemälde den Rücken. „Er ist es. Kein Zweifel.“ Angeblich war er verschollen, aber Cantres wollte Cendaric so schnell wie möglich sehen. Doch ein Teil seines Herzens fürchtete sich davor, ihm in die Augen zu blicken, in der Verlegenheit, vor ihm wie ein räudiger Köter um Gnade zu winseln. Dabei schien seine Schuld gering. Allzeit war er gehorsam gewesen, hatte nach ersontinischer Tugend das Wort des Vaters streng befolgt – Cendaric hätte es wohlwahr nicht anders gemacht. Hätte sich dem höchsten Gesetz der Familie gebeugt. Hätte geschwiegen, hätte weggehört, wenn der Vater es aufgetragen hätte.

Die Worte der beiden Ordensleute an Cantres’ Seite, Tactian und Pharalis, drangen nur wie von fern an sein Ohr, er selbst focht in sich selbst einen Kampf. Ein Ersontiner genießt mit Demut; und er büßt im Stolz. Das hatte man ihm jahrelang eingetrichtert. Eingebläut. Doch sich daran zu halten war ihm in früherer Jugend schwer gefallen und er hatte einen hohen Preis dafür gezahlt, sich letztlich aber trotzdem entzogen. Und doch konnte er nun lediglich hoffen, sich der in penibler Prügel- und Gehirnwäschearbeit in ihn eingepflanzten Tugenden am besten zu besinnen. Aber er konnte es in diesen Hallen nicht ertragen, konnte bei der degradierende Buße keinen Stolz, sondern nur Erniedrigung verspüren. Ein Ersontiner flieht nicht. Aber diese Schmach schien schlimmer und schrecklicher als jeder andere Feind. Cantres musste hinaus, brauchte Zeit für sich und seine wüsten Gedanken. Wie immer Cendaric auf diese Insel gekommen war, er musste auf ähnlich ehrlose Weise aus der Armee ausgeschieden sein, wie Cantres selbst. Ihr Vater hatte es verheimlicht, Cendaric wurde totgeschwiegen, dass ein jeder glaube, er werde brav nach Art des Heeres zu einem geformten Diamanten geschliffen. Ihm musste gedämmert haben, dass seinen Söhnen der gleiche Keim innewohnt, der ihn selbst einst aus dem Haus seiner eigenen Eltern getrieben hatte. Er wollte sich dermalen nicht mit einem vorbestimmten Schicksal zufrieden geben, sondern es selbst in die Hand nehmen. Aber er hatte sich zum Wegbereiter dieser angstvollen Ahnung gemacht, denn durch sein strenges Joch und seine unbarmherzige Bevormundung hatte er eben jene Vorherbestimmtheit erschaffen, denen das tibur'sche Herz zu entfliehen sucht.

Cantres nahm das ihm geliehene Pferd bei den Zügeln und bahnte sich einen Weg zurück zu „Cendarics Mauer“. Berstend zertrat er gefrorene Pfützen und watete durch knirschenden Schnee, den der eisige Wind wie feinen Staub bis an den Rand des Weges gefegt hatte. Böen krochen über den Boden und trieben winzige Flocken wie Meeresgischt über die Ebene vor sich her. Über den Wiesen lag ein unberührter und glatt gestrichener weißer Teppich, welcher im nach letztem Halt suchenden Licht der schwindenden Fela glitzerte und funkelte. Cantres stieg in den Sattel und trieb den Gaul zu behäbigem Trab an, der ihn nunmehr träge durch die erstarrte Landschaft trug. Endlich erreichte er das äußere Bollwerk am Rande der Reiches, eine innere Unruhe trieb ihn hierher. Er erklomm den Turm und spähte umher, als gäbe es in der sich ausbreitenden Finsternis einen Hinweis zu entdecken. Er war rastlos, zwischen dem Willen zum Wiedersehen und zur Flucht gleichermaßen zerrissen. – Die kommenden Wochen und Monde würden mit sich bringen, ob sie das Trauma der Vergangenheit noch befangen hielt oder sie wieder mehr Brüder denn Rivalen sein könnten. Es sei denn, man fände nur noch sterbliche Überreste...

_________________
Gespräch unter Fischen:
Versteckter Inhalt bzw. Spoiler :
blibb
sagte der eine fisch zum anderen

blabb
sagte der andere fisch zum einen

blubb
sagte ein weiterer fisch zum dritten

da haben sich alle gestritten


Zuletzt geändert von Hali: 29.01.07, 00:54, insgesamt 1-mal geändert.

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BeitragVerfasst: 29.01.07, 00:47 
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II.

Irgendwo, irgendwann.

Wo…? Einfache Fragen verlangen einfache Antworten. Nur war diese Frage alles andere als einfach. Er wusste nichts, hatte alles vergessen, was seitdem gewesen war. Die letzten Momente wie flüchtige Schatten im Gedächtnis, nicht mehr. Schließlich: Schmerz. Es schien nichts anderes mehr zu geben, kein Gefühl daneben, keine Empfindung. Nur langsam gewöhnten sich die Augen an das Zwielicht ringsherum. Sein Schädel war Amboss, die Sekunden diktierten den Takt der Hammerschläge. Er lag, rücklings, irgendwo. Die Decke – wilder Stein, keine Mauer, eher Höhle. Wie Blitze rauschten Gedankenfetzen durch seinen Schädel, flach der Atem. Die Unterlage war merkwürdig uneben für einen Höhlenboden, und so unförmig, einem Holzhaufen gleich. Matt warf von irgendwoher eine einsame Fackel zitterndes Licht in die Kammer, kein Geräusch. Mochte es eine Kaverne sein oder eine Höhle? Nirgendwo Tageslicht. Das matte Dunkel der Umgebung gewährte ihm nur zögerlich Einblick in seine Umgebung. Und was er sah, mochte nicht gefallen. Wie in Ketten geschlagen lag er dort ausgestreckt… die Wappentunika zerrissen, voll von Blut und Erde. Wie eine metallne Grabplatte lastete das Kettenhemd. Nur unter großem Schmerz vermochte er den Kopf etwas zur Seite zu wenden, das Gewölbe taxierend: Eine Höhle, nichts von Menschenhand. Vielleicht zwei Meter in der Höhe, etwas größer als eine einfache Kammer. Ihm Gegenüber führte ein enger Durchgang tiefer nach unten, in einen Schacht. Mehr konnte er nicht erkennen. Zuletzt durchmaßen die matten Augen den Raum. Unebene Wände voller dunkler Flecken. Keine Möbel, keine Wohnlichkeit. Verdrecktes Stroh, Abfall, etwas fauliges Holz. Und zu Fetzen zerrissene Leiber über den Boden verstreut.

Wie ein Bleigewicht vereitelte seine Benommenheit ein entsetztes Aufspringen, die Flucht, den Kampf, selbst einen verzweifelten Aufschrei, ganz gleich. Nicht einmal eine Hand vermochte sein klammer Körper zu heben, kaum die Finger bewegen. Sein Atem ging schneller, rief stechenden Schmerz in der Brust hervor. Wo…? Sehend fand er auch keine Antwort. Zäh sickerte fauliger Gestank in seine Nasenflügel, rann das erdige Odium der Verwesung in seinen Schädel. Tot. Keine überzeugende Antwort auf die Frage, die ihn – aller Pein zum Trotz – just in diesem endlosen Moment umtrieb. Die Priester singen andere Lieder über Morsans Hallen. Und verspüren Tote Hunger und Durst? Zitternd löste sich die Zunge aus seinem ausgetrockneten Mund, fuhr über die spröden Lippen – die erste Bewegung. Trockenes Blut. Das Blut gerinnt im Sterben, färbt sich dunkel, erstarrt. Also doch? Noch einmal wagte er den Kopf etwas zu bewegen, mehr nach unten hin den Blick wendend, wobei ihm eine lange Strähne seines Schopfes in die Züge fiel wie ein regenschwerer Schilfhalm. Es wird nicht besser. Sein unsanftes Ruhebett war für den erbärmlichen Gestank in dieser Grotte verantwortlich, so dämmerte es ihm. Leichen. Diese hatte man offensichtlich noch aufgehoben, gelagert; und ihn hatte man einfach dazu geworfen. Er ließ das Haupt unbewusst etwas zurücksinken, spürte, wie sein Kopf einen anderen berührte. Keine Wärme, keine Bewegung, kein Geräusch – nur die Fackel spendete ein fahles Leichenlicht. Auf Gastfreundschaft mochte man hier nicht hoffen, noch weniger auf Mitleid oder Gnade. Scheinbar hatte eine höhere Macht Nachsicht mit ihm gehabt und er war rechtzeitig vor Beginn der nächsten Mahlzeit erwacht. Wieso Mahlzeit? Er ahnte es nur, wusste es nicht. Optik und Geruch waren das Eine. Die mörderische Stille jedoch war schlimmer, sie sog ihn in sich hinein, ohne Erbarmen. Wie geschlagen lauschte er in das uferlose Nichts. Unbeweglich wartete er auf sein Ende und die fernen Schritte – warum Schritte? – die es ankündigen würden. Cendaric Tibur schloss langsam wieder die Augen und hoffte, sie nie wieder öffnen zu müssen.


Zuletzt geändert von Nebulon: 29.01.07, 00:56, insgesamt 1-mal geändert.

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III.

Irgendwo anders, später.

Gierig sog er in die Lungen, was man noch nicht einmal im schäbigsten Winkel des Hafens von Venturia Atemluft zu nennen wagte. Faulig schmeckte das, was er den Weg durch seine zersprungenen, zerrissenen Lippenpartien fand. Wie so oft, rächte sich triebhafte Begierde unlängst, schien doch ein jeder Atemzug einen mit nach innen gewirkten Stahlstacheln besetzten Harnisch, der unsichtbar, doch dafür umso fühlbarer um seinen Brustkorb befestigt, straffer zuzuschnüren. Gebrochen, schoss ihm dann und wann, wenn er wieder einen klareren Gedanken fassen konnte, durch den Kopf, einige Rippen sind gebrochen. Er presste die zerrissenen, wegen der Trockenheit blutigen Lippen aufeinander, so als wolle er den Drang nach Luft so lange wie irgend möglich zurückhalten. Immer wieder schossen ihm die letzten Augenblicke durch den Schädel, die letzten bar jedes Schmerzes geführten Luftzüge an diesem verdammten Tag auf der Treppe des Südturms. Ein Narr war er gewesen und wie ein Narr war er dort gefallen. Und das alles ganz ohne jede…, sein schwacher Körper forderte abermals unbarmherzig den lebensverlängernden Tribut, den der geschlagene Verstand ihm nicht zu verweigern vermochte. Und wieder zerrissenen Klauen aus Stahl, die durch seine Eingeweide fuhren, die losen Gedankenstränge in blutige Fetzen. Soldaten und Kämpfer mögen viel erdulden, zahllos waren und sind ihre Wunden auf dem Weg zur Meisterschaft und die allermeisten nehmen sie nur zu gerne in Kauf. Ehrgeizig streben sie danach, verlangen fleischgewordene Erfahrung. Doch nichts brennt schrecklicher als die Narbe, die das Versagen reißt. Faulig, wie sie ist, bedeutet sie keinen heldenhaften Ruhm, keinen wundersamen Fortschritt, sondern nur schmachvollen Niedergang und unweigerliches Vergehen.

Die Treppe… die letzten Stufen… Warum verschwendete er seine wenigen klaren Momente an diesen Augenblick höchster Torheit? Es gibt Punkte im Leben eines jeden Menschen, die nichts bedeuten als Niederlage, als Scheitern. Auf den Treppenstufen war er gescheitert, so viel stand ohne jeden Zweifel fest. Fast schlimmer noch als in dieser unsäglichen, bitterkalten Morsansnacht, in der er – entgegen aller Vernunft - dem übelgelaunten Vater aus jungenhaften Trotz widersprach. Gestoßen, gefallen… , „gestorben“ widersprach den offensichtlichen Tatsachen, wie er sich noch jetzt lebhaft wunderte, doch viel hatte nicht gefehlt. Fehlte nach wie vor nicht. Seine verkrustete Hand glitt so behutsam es eben ging über den kalten Felsen, auf dem er jüngst kauerte. Alles an ihm war zerrissen; die Uniform zu allererst, dann Rüstung, Hoffnung und schließlich zuletzt… Nein! Dieser Gefühlsausbruch schwächte seinen Widerstand und beschleunigte den dornigen Atem. Die Vier hatten sich barmherzig gezeigt, als dass sie jedem Lichtschein den Weg in diese Tunnel und Schächte verweigerten. Wie lange ist er durch diese Finsternis gekrochen, wie schnell mochte er gewesen sein? Schwer zu schätzen, fürwahr. Er kannte keine Zeit mehr. Es war, als durchlebte er einen nicht enden wollendem Albtraum. Nur bereitete im Schlaf das schlichte Luftholen für gewöhnlich nicht derartige Probleme.

Er hatte Schreckliches wagen müssen, um am Leben zu bleiben. Man könnte es Sünde nennen, Verderbtheit oder Schande. Für ihn war es lediglich eine Frage der nackten Existenz, eine Kapitulation vor Hunger und Durst. Der Geschmack wollte seinen Mund einfach nicht mehr verlassen, in seinen Eingeweiden moderte die Schuld. Du wärst elendig verhungert, hättest du es nicht getan. Kaum ein Trost. Vielleicht hätte damit die ganze Angelegenheit ein schnelleres, weniger quälendes Ende gefunden. Immerhin kroch er nun schon eine geraume Zeit – Tage? Wochen? – durch diese engen Tunnel, stets fiebrig nach einem Geräusch lauschend, einem Licht oder einem Duft; Zeichen eben, die Erlösung bedeuten können, Errettung oder Untergang, Tod und Qual. Die Grenzlinie dazwischen war verwischt worden in den letzten Tagen und er fühlte, wie der Wahnsinn in ihm mehr und mehr Raum griff und den Verstand zu überwältigen drohte. Alles Erfahrene, alles Erlebte schien mit jedem Augenblick fortzutreiben auf einem nachtschwarzen Ozeans des kalten, endlosen Nichts. Seine Jugend, seine Jahre in Venturia, die Reise nach Siebenwind, sein Aufstieg in den Reihen des Löwenordens. Auch die Gesichter der Menschen, die ihn dabei begleitet hatten, verloren an Kontur, wurden bleich und versickerten auf seinem Irrweg durch ein steinernes Grab. Kam er voran? Dem Ziel wirklich näher? Was mochte dieses Ziel eigentlich sein? Auf und ab, im ängstlichen, langsamen Tempo eines Todgeweihten, dem die Kraft zur letzten Einsicht fehlt. Vorbei, alles vorbei.

Schließlich beschloss Cendaric, dass er für heute – ein höchst unpräzises Zeitmaß im lichtlosen Nichts – weit genug vorangekommen sei. Kraftlos sank er auf den kalten, mit kleinem Gesteinsgeröll bedeckten Boden, freilich nicht ohne sich den Schädel an irgendeiner granitenen Unregelmäßigkeit zu stoßen. Bizarrerweise hatte der Geschmack von frischen Blut, selbst dem eigenen, etwas Befreiendes an sich, wie er jüngst des Öfteren feststellen musste. Es verdeckte diesen elenden, fauligen, sündigen Geschmack… Mühsam drehte er den bleischweren Oberkörper etwas zur Seite, presste ihn leicht gegen das Gestein des Tunnels, da dies den stechenden Schmerz für gewöhnlich etwas dämpfte. Was für die Augen die Dunkelheit der Tiefe, war für die Ohren die saugende, endlose Stille. Ein jeder Stein, ein jede schürfende Bewegung mit den Knien – an aufrechtes Gehen war aus mehreren nahe liegenden Gründen nicht zu denken, mangelte es doch an Platz und an Raum, also kroch der Ordensmeister auf allen Vieren – war ein hallender Schrei nach Aufmerksamkeit derer, die… Er schloss die Augen, nur um festzustellen, dass es keinerlei Unterschied mehr machte. Allerdings vergaß er auf seinem Weg, wie er meinte, recht schnell und recht viel. Jedoch niemals vergessen würde er den Moment, in dem er wieder erwacht war, da sich Morsan oder irgendeine andere höhere Macht noch an seiner sadistischen Passion zu erfreuen gedachte. Etwas fahrig tastete er mit der rechten Hand nach seinem Kopf. Die langen Haare waren fettig, wie mit frischem Honig um das Haupt gewirkt. Vielleicht hatten sie in dieser Nacht im Turm ihre Farbe verloren. Jedenfalls fühlten sich sich anders an. Vielleicht waren sie auch später erbleicht, als er wieder zu sich kam. Dort unten.

Der Eisenklaue fuhr bei diesem furchtsatten Gedanken wieder ungehalten durch seinen Brustkorb, wie eine ungehaltene Frau, die sich umbarmherzig in Erinnerung zu rufen gedenkt.


Zuletzt geändert von Nebulon: 12.02.07, 20:29, insgesamt 1-mal geändert.

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