Die Nachthimmel ruhte klar und schweigend über den verschlungenen Waldstücken um Falkensee. Die meisten Bären schliefen zu diesen Zeiten, den Göttern sei dank, und Wölfe schienen zumindest im Moment anderer Orts zu jagen. Erst langsam bemerkte Ilana den Juckreiz, den die Kratzer und Schrammen der letzten Kämpfe hervorriefen – ein unangenehmes Brennen, kein Todesstoß, doch sicher lästig. Sie bahnte sich ihren Weg durch die Waldstücke, der Blick hatte sich langsam geklärt und prüfte nun das Umfeld aufmerksam.
Finde einen ruhigen Ort zum Nachdenken, hallte es in ihrem Kopf, seit sie den Berg verlassen hatte. Sie fand diesen Ort, nah an der Stadt und doch durch zwei Mauern getrennt. Nur wenige Bäume schirmten den ruhigen Platz von umliegenden Wiesen ab, im Nordosten rauschte das Meer, dessen auslaufende Wellen zu ihren Füßen versiegten.
Ilana schloss die Augen und genoss den kühlen Meereswind, der ihr Haar immer wieder tanzen liess. In ihrem Innersten war es ruhig – keine Gedankenstürme und dennoch keine Stille. Sie wußte, was in dieser Nacht passiert war, es brannte frisch in ihrem Kopf. Für einen ewig scheinenden Moment hatte sie Vertrauen geschenkt und Nähe empfangen. Selbst hier schien sie die nackte Haut und viele sanfte Küsse noch an ihrem Rücken zu spüren, so dass ihn eine Gänsehaut schüttelte. Nun war er vergangen, jener Moment. Ilana öffnete die Augen und ein nachdenkliches Hm... entwich ihren Lippen. Sie hatte die warmen Küsse genossen, das stimmte, doch irgendetwas hatte sie abgehalten, mehr zu fordern, zu ersehnen. Während ihr Blick zum Meer entschwandt, zogen die Gedanken nach Falkenstein.
Die Stadt war ein dreckiges Loch, gefüllt mit Dirnen und gierigen Söldnern, mit Ratten – und das war derzeit eine ungünstige Plage – und Müll in den kleinen Seitengassen. Sie erinnerte sich an den Geruch, den Falkenstein mit sich trug. Im Hafen roch es nach allerlei Fischen und salzigem Rauch. Hier waren die Unterschiede am gravierendsten: zur einen Seite wurden edelste Waren, feinste Gewürze und fremdes, süßes Obst geliefert, zur anderen Seite standen Müll, umrandet von Bettlern, Abfälle, Fischreste und Blutlachen – Zeugen der verschiedensten Prügelleien. Das war nicht, was sie Heimat nannte. Das „Heim des Lachens“ stand weit abseits der Stadt. Doch es gab ein Band zwischen diesen Erinnerungen und den Eindrücken dieses Abends. Und dieses Band hieß Loreen...
Die Erinnerungen an die Schankmaid des „Kupferdrachen“, ihre Mutter, waren spärlich. Es war nur eine Nacht, in der sie sich begegneten. Loreens Gesicht schien verlebt, tiefe Fugen durchzogen die Stirn, die Haut war eingefallen und grau. Ilana sah sie und erkannte das Leben, welches sie geführt hatte: Zwischen Krügen und freizügigen Röcken, im Tumult des Stadtlebens, umringt von maßlosen Händlern und anzüglichen Söldnern, Reisende, die hier ein Paradies der Gelüste erhofften und wohl auch fanden. Es mochte manchem gefallen hier zu leben, doch Loreen strahlte weder Freude, noch Zufriedenheit aus. Resignation und Hoffnungslosigkeit sprachen aus den leeren Augen der Frau, die sich dem Leben ergeben hatte.
Warum Loreen? Warum zogen die Gedanken sie an diesen Ort? Ilana sog die salzige Luft tief ein und öffnete die Augen zum Meer. Der freie Wille – Loreen hatte ihn lange verloren. Der freie Wille zu tun, was man selbst als richtig erachtete, gleich was andere sagten, gleich welche Erfahrungen sie vor die Nase legten, gleich der verführenden Worte, mit denen sie schmeichelten. Instinkt – das unschuldige Hören auf den ersten Impuls, die Natürlichkeit des ersten Gefühls. Ein erhellender Moment: Es geht nicht um Bedürfnisse oder besondere körperliche Empfindungen, nicht um Moral oder Amoral, nicht um Jugend und Unschuld. Nicht mehr, sie hatte den ersten Kuss empfangen und erkannte langsam, welche Gefühle sie empfinden könnte, worin der Genuss solcher Taten liegen würde. Doch das Vertrauen, die Bindung – und sei es nur in einem Moment waren entscheidend. Loreen folgte fremden Rufen, sie lebte im Trott ihres Umfeldes. Ihre eigene Kraft war längst versiegt, ihre Wut auf Ilana vielleicht nur ein verzweifelter Appell: Lerne aus mir! Gib dich nicht einfach hin!
Ilana wußte, sie hatte nicht viel, doch ihr Instinkt lenkte sie stets richtig und ihr freier Wille schwieg nur seltenst. In dieser Nacht hatte er verharrt, gewartet und gesehen. Er hatte begriffen und die Erkenntnis vermerkt. Er legte den Pfad, der Kriterien, Wünsche, Phantasien und Grenzen der jungen Frau festsetzten würde. Ilana hatte ihre Augen der Welt geöffnet, das stimmte, doch sie würde ihren eigenen Weg darin gehen. Und ihr Instinkt gab ihr den entscheidenden Hinweis... Schweigen.
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