Erneut verlässt ein Schiff Falkensee in Richtung Falkenstein mit einem Brief an Schwester Minna vom „Heim des Lachens“. Die Schrift scheint geübter und harmonischer geschwunden als zuvor. Das Pergament mag von minderer Qualität, doch jung zu sein. Auf ihm wurde mit einem gespitzten Kohlestift folgendes geschrieben:
„Liebe Schwester Minna,
Es sind einige Wochen her, da mein erster Brief seinen Weg antrat. Vermutlich wirst du ihn erst kürzlich gelesen haben und dich sorgen, was nur aus mir würde. Ich will dir diese Angst nehmen und warte keine weiteren acht Wochen, bis eine Antwort mich erreicht. Zudem dürfte es jedem Boten schwer fallen, mich im Getümmel dieser Stadt zu finden. Ich habe noch immer kein eigenes Zimmer.
Ich konnte mir meine ersten Dukaten auf redliche Weise verdienen. Die Jagd hat es mir angetan – und nein, deine Sorge ist unbegründet. Ich wurde nicht zerfleischt und alle Gliedmaßen sind noch an Ort und Stelle. Zugegeben, sie weisen hier und da gewisse kleinere Kampfspuren auf. Doch mach dir keine Sorgen! Ich weiß, was ich tue, und bei den Vieren, ich mache es gut. Ich hoffe durch die Beute genug Dukaten zu bekommen, um mir endlich ein eigenes Zimmer leisten zu können. Denn diese Stadt, oh Minna, wie habe ich geflucht!
Ich weiß, du hörst es nicht gern. Aber manchmal wünschte ich wirklich, ich könnte mich einfach wegsperren. Hätte ich gewusst, wie diese Welt aussieht, liebste Minna, ich fürchte, ich wäre nie ausgezogen. Hinter vielen der Gesichter, die mir begegnen, schimmert es dunkel. Es werden tiefe Geheimnisse verborgen, Leid durchdringt die Worte, Wut entflammt, wenn ein falsches Wort den wunden Punkt berührt. Niemand spricht darüber, doch ich kann es sehen. In ihren Augen, ich höre es, in ihren Worten. Ich weiß, was du denkst, meine Minna, du glaubst, es wären die falschen Leute, ein schlechter Umgang. Doch dem ist nicht so – zumindest bei den meisten unter ihnen. Ich frage sie, woher ihre Verzweiflung rührt. Und sie erzählen es mir. Das Leben zerrt sie durch tiefste Abgründe, hinauf zu hohen Bergen, nur um sie wieder fallen zu lassen. Es sind viele Geschichten, so verzweifelt und verbittert. Oh Minna, passiert es jedem von uns? Werden wir früher oder später die Hoffnung begraben, weil das Leben seine Fallen legt? Ich fürchte mich davor, einst so zu werden. Doch trotz mancher Widrigkeit, die ich dir aus Liebe vorenthalte, stehe ich aufrecht und hebe den Kopf. Mich wird sobald nichts brechen.
Ich zeichne ein furchtbares Bild meiner Stadt, nicht wahr? Doch bedenke, liebe Minna, wenn es so furchtbar wäre, würde ich nicht bleiben. Es sind interessante Gesichter, die mir begegnen. Ich wünschte ich könnte sie begreifen, ich wünschte ich würde sie wirklich kennen! Selbst wenn sich dunkelste Türen öffneten, Minna, ich fürchte fliehen können wir davor nicht. Irgendwo wird es immer einen Lichtstrahl geben, der das Dunkle bricht. Und ich glaube, wenn ich nur entschlossen genug suche, werde ich den auch finden.
Ich schließe mit dem innigen Wunsch, eines Tages wieder von euch zu hören. Ich hoffe ihr seid wohl auf im Heim – grüße mir vor allem Zucki und sage ihm, dass weiße Katzen den Fisch nicht verderben. Ich habe es ausprobiert, es ist ein Gerücht.
Alles Liebe, Eure Lani “
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