"Du hast dich entschieden." Hatte sie sich entschieden? Sie betrachtete den Mann vor sich eine Weile lang. Wie kam er nur darauf? Und wer war er überhaupt?! Bruder... leise hallte das Wort in ihr nach... Bruder. Ja, genau das war er für sie. Schon lange sah sie ihn ihn mehr nur als einen Freund und Vertrauten, sie sah in ihm ihren Bruder und vielleicht war es genau das, was sie nun nur umso verzweifelter machte. Hatten sie nicht immer zusammen gestanden? Hatten sie nicht so vieles, gutes und schlechtes, miteinander durchgemacht?
"Du hast dich entschieden." Wie konnten so ein paar kleine Worte sie nur derart tief treffen? Wie konnte er das überhaupt nur denken? Sie liebte ihn, als wären sie als Geschwister aufgewachsen. Nie hatte sie auch nur annähernd daran gedacht ihm in den Rücken zu fallen. Sie war immer da gewesen. Nie war sie von ihm gewichen, auch nicht, als er sich so verändert hatte und all seine Lebensfreude verloren hatte. Er war so hartherzig geworden, hatte alle anderen von sich gewiesen gehabt, aber sie blieb. Egal was war, sie hatte ihn immer verteidigt, vor jedem, der sich über ihn ausgelassen hatte.
"Du hast dich entschieden." Etwas zerbrach in ihr, tausende kleiner Splitter bohrten sich tief in ihr Innerstes. Etwas, was sie über all die Jahre gehegt und gepflegt hatte, so wie andere einen wertvollen Schatz, zerran vor ihren Augen, wie Sand durch die Finger. Sie hatte das Gefühl, als würde ein Teil ihrer Selbst in genau diesem Moment sterben.
"Du hast dich entschieden." Es war als würde ihr Herz in Eis getaucht und als würde aus Herzenswärme, Eiseskälte. Es schnürrte ihr die Kehle zu und hätte sie nicht gesessen, so hätten ihr ihre Beine den Dienst versagt. Die Kälte durchströmte ihren gesamten Körper und machte sie nahe zu Bewegungsunfähig. Selbst ihre Gedanken kamen für einen Augen blick zum Stillstand, bis auf diese Worte, welche immer wieder in ihr kreisten.
"Du hast dich entschieden." Zorn stieg siedend heiß in ihr auf, brodelte in ihr wie ein Vulkan. Sie würde keine Schwäche zeigen, nicht vor ihm, nie wieder. Als sie aufstand, fand sie zu ihrer Stärke zurück, welche durch ihre Wut nur noch gestärkt wurde. Wenn er so dachte, bitte, dann würde sie ihm hier und jetzt recht geben. Er hatte sein Urteil über sie ja sowieso schon gefällt. Warum also noch dagegen anreden?
"Du hast dich entschieden." Ja, ja sie hatte sich entschieden. Sicher hatte sie das! Wie ein Wasserfall sprudelte es nur so aus ihr heraus. Sie sagte genau das, was er anscheinend hören wollte. Und genau das war ihre Entscheidung. Es war ihre Entscheidung ihrem Zorn den Weg freizumachen, anstatt ihn hinab zu schlucken und noch einmal auf ihn zu zu gehen. Wenn er meinte, dass er ihr egal war, gut, so würde sie ihm nun recht geben. Jedes einzelne Wort, welches ihr über die Lippen kam, waren nur Ausdruck tiefster Betroffenheit und Enttäuschung, verpackt in unbändigen und gedankenlosen Zorn.
"Du hast dich entschieden." Noch als sie zu Hause ankam, hörte sie seine Worte. Sie verwüstete das halbe Zimmer, schrie und zerschlug Flaschen, dann rannte sie weg, wollte nur ihre Ruhe haben, doch die Ruhe stellt sich nicht ein. Als sie nach einer Weile wieder zurückkehrte ging zum Schrank und nahm die große, alte Tasche aus diesem, jene, die sie schon begleitet hatte, als sie damals auf diese Insel gekommen war. Nichts bis auf seine Worte drang in ihren Geist vor und so packte sie wahllos irgendwelche Sachen in die Tasche. Sie wollte weg, wollte so viel Weg zwischen sich und ihm bringen, wie überhaupt möglich. Irgendein Schiff würde sie schon zum Festland bringen.
"Du hast dich entschieden." Selbst als man bereits vor ihr stand, ihr die Tasche wegnahm und auf sie einredete, hörte sie nicht mehr als diese vier Worte, alles andere war nicht mehr als ein Rauschen in ihren Ohren, trat völlig in den Hintergrund, bis man es nicht mehr beachten musste. Kein Gedanke daran, dass sie mit ihrem Handeln und ihrem Schweigen anderen die sie liebte verletzte.
"Du hast dich entschieden." Dieser einfache Satz, der für viele nichts weiter sein würde, als irgendein anderer Satz, den man so im Laufe eines Tages leichthin von sich gab, verfolgte sie selbst bis in ihren unruhigen Schlaf.
"Du hast dich entschieden." Genau in diesem Moment hatte sie sich wirklich entschieden.
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