Ob sie es sich einbildete? Ihr Blick huschte hinab zu den Stiefel, die von der Feuchtigkeit des Schnees beinahe dunkler wirkten, als das gefärbte Leder es eh schon war. Nein... sie hatte sich doch keine nassen Füße geholt... die kühlen Zehen mussten ihren Sinnen einen Streich spielen. Awa, mitten auf der Türschwelle zum öffentlichen Schlafraum stehend, warf einen kurzen Blick zurück auf die Straße, die zum Nordtor führte... oder auch zur Bernsteinschenke. Sie war seit vielen Tagen nicht mehr dort gewesen... sie konnte zwei Vorstellungen nicht ertragen: Archie dort anzutreffen.... oder ihn dort nicht anzutreffen. Warte nicht auf mich. Das sagte er zu ihr als er aufgestanden war und sie mit ihrer Verwirrung und ihrem Kummer hatte alleine sitzen lassen. Nun hatte sie Angst ihn dort zu sehen und Angst vor der Vorstellung, dass er wirklich nicht zurückkäme... dass sie wirklich nicht zu warten brauchte. Alleine die Gedanken ließen ihr so elend werden, wie es ihr die letzten Tage immer wieder passierte. Aber da sie nichts gegessen hatte, brauchte sie kein Unglück zu fürchten. Die Tür wurde aufgedrückt, Awa trat in den Schlafsaal ein. Warum eigentlich? Wollte sie sich vergewissern, dass es besser war hier zu schlafen als im Handelskontor Falkensees? Die sonst so warme, leicht stickige Luft wurde aufgefrischt und aufgewirbelt, als Awa die Eingangstür für wenige Augenblicke hatte offen stehen lassen. Der Frau vorne wurde zugenickt. Awa war nicht nach reden. Denn sie glaubte ihrer eigenen Stimme keinen Ton, der Freundlichkeit ausdrücken sollte. Still war es. Ihre Stiefel hinterließen nasse Abdrücke auf dem Boden. Ein Husten ließ sie aufblicken, die Augen leicht verengt. Sie wanderte im Schlafsaal umher. Erneut dieses schwere Husten. Stimmt. Die Grippe sollte hier kursieren. Awa schob den pflaumenfarbenen Schal über ihren Mund. Warum sie das tat? Ein bitterer Geruch von Kräutern lag in der Luft und reizte ihre Atemwege. Noch im Gehen nahm sie den Rothirschfellumhang von ihren Schultern und legte ihn über beide Unterarme, jene leicht an den gequälten Bauch gedrückt. Dort in den Schatten lag jemand in einem Bett. Seine Hand hing über den Rand der Matratze baumelte herab. Die junge Frau blickte sich nochmals um. Scheinbar war sie alleine. Die Füße kaum vom Boden hebend schlenderte sie auf das Bett zu. Ein Röcheln. Wenig trocken. Ihre Augenbrauen sinken leicht nieder. Ihr Blick verschärft sich etwas, gewöhnt sich an die Lichtverhältnisse. Ein älterer Mann wohl...für Awa sah er noch älter aus, als er es wohl tatsächlich war. Für sie wirkten seine Wangen bereits eingefallen, der Bart, leicht ergraut, ungestutzt. Ihre behandschuhten Finger umfassten vorsichtig die herabhängende Hand und hoben sie hinauf, neben den Leib des Erkrankten ablegend. Seine Finger zuckten kurz, als tasteten sie auf der Decke kurzweilig nach etwas. Die Haare an seinen Schläfen waren dunkel und klebrig. Aber niemand schien hier zu sein. Warum kümmerte sie das? Vielleicht weil Awa dachte, dass immer jemand an einem Krankenbett wachen sollte... vergessend, dass auf Siebenwind vielleicht nicht jeder jemanden hatte oder seine Besucher zu dieser Stunde in ihren eigenen Schlafräumen verweilten. Awa allerdings konnte sich nicht an das Gesicht des hier liegenden Mannes erinnern...so sehr sie sich auch anstrengte. Vorsichtig hockte sie sich auf den Boden. Dabei raschelte das pflaumenfarbene Kleid leise. Die Umhängetasche wurde geöffnet, eine Lage Stoff herausgezogen... mit einem Dolch zerschnitten... an der Klinge hingen sogar noch einige schwarze Wollfasern. Denn mit diesem Dolch scherte sie sonst Waldi die dunkle Wolle vom Leib. „Guter Mann, dann werdet mal bald wieder gesund... Ihr macht den Schlafsaal zum Geisterhaus.“ Sie sprach mehr zu sich selbst, während sie den restlichen Stoff verstaute. Ihre Stimme klang durch den Schal eh gedämpft, kaum wiederzuerkennen. Aber das Sprechen tat ihr recht gut, sie hatte lange mit niemanden mehr ein Wort gewechselt...aus Angst man könne sie nach Archie fragen. Und der Kranke würde ihr schon nicht antworten, während sie ihm die Stirn abtupfte. Ihre Stimme war nicht mehr als ein gedämpften, monotones Gemurmel, wenn auch nicht ganz unentspannend, wenig aufdringlich... Als Awa dem Fremden ein Glas Wasser auffüllte und neben sein Bett stellte... da öffnete der Kranke kurz seine Augen. Der Blick schien glasig, die Augäpfel gerötet... dunkle Augenringe auf dem bleichen Gesicht. Sie schien keine Anspielung darauf zu machen, dass der Fremde reagieren könnte. Denn seine Augen waren bald schon wieder geschlossen. Er mochte auch nicht viel mehr als ihre Bernsteinfarbenen Iriden erkannt haben... in diesem halb vermummten Gesicht. Awa erhob sich wieder. Die Luft hier drin war widerlich. Dick, stickig, stinkend. Und durch den Schal bekam sie selbst kaum genügend Luft in die Lungen. Ihr war schon schwindelig davon. Sie sollte heute Nacht wirklich nicht hier schlafen. Vielleicht ging sie einfach in die Schenke zurück...
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