Kapitel 4: 19 nach Hilgorad Rülpsend torkelte der verdreckte Nortrave aus der ranzigen Spelunke, schwenkte die bauchige Flasche billigen Rums und stürzte vornüber mit dem verfilzten Bart in die nächste dreckige Lache Schweinescheiße. Blubbernd schüttelte der Mann den Kopf, um sich mit trüben Augen, immer noch im Dreck badend, schwach blinzelnd umzusehen. Träge registrierte er die umstehenden Menschen, die ihn geflissentlich ignorierten, als gehöre er schon wie selbstverständlich zum Straßeninventar dazu. Mit dreckiger Kralle klammerte er sich krampfhaft an die Rumflasche, die seinen Sturz jedoch nicht überstanden hatte. Lediglich der abgebrochene Flaschenhals befand sich noch in den versteiften Fingern seiner rechten Hand, während die linke immer noch ihren Weg aus dem Dreck suchte, um sich irgendwo abzustützen. Kaum hatte der aufgedunsene Leib des lahmen Nortraven es geschafft sich ansatzweise hochzuhieven, erfasste ein Beben dessen Körper. Thjarnulf Jernsvärd zitterte. Er musste sich über seine eigenen Arme übergeben.
Es war ein Mondtag Morgen. Thjarnulf stank.
Heute auf den Tag war es vier Jahre her, dass er von der Mannschaft der „Jarle“ aus der Gefangenschaft erlöst worden war. Damals hatte er die Hoffnung schon aufgegeben gehabt. Allein der Gedanke von seinen Fesseln befreit zu werden hielt er für bloßen Wahnsinn, sodass er sich schon widerwillig mit seinem Schicksal abgefunden hatte. Er hatte Thjareks Willen in Frage gestellt und das genau in dem Moment, als er von ihm errettet werden sollte. Vielleicht war es der Wille der Götter, vielleicht nur Zufall, doch Thjarnulfs Schicksal sollte sich als noch verwobener erweisen, als bisher.
Der trunkene Mann wischte sich das Erbrochene vom Mund und stand nun wirklich auf. Etwas wacklig auf den Beinen wankte er von Laterne zu Laterne und tastete sich trüben Blickes die Straße entlang bis zu seinem maroden Haus. Die ehemals so charmante Fischerhütte war nun ein heruntergekommenes Bauwerk, das kaum an frühere Zeiten erinnerte. Selbst die Küche war so verstaubt wie der Schuppen, die Töpfe hatte schon lange Zeit niemand mehr angerührt.
Der erste wirkliche Freund, den er bei seiner Rückkehr wiedergesehen hatte, war sein alter Kamerad Wotgar, doch dieser erwartete ihn nicht mit guten Neuigkeiten. Wotgar berichtete ihm, dass während seiner Gefangenschaft seine Mutter verstorben war. Und sei dies nicht genug, sei auch seine Schwester in den Piratenkriegen verschleppt worden und vermutlich ebenfalls bereits tot.
Der gebrochene Mann war in seine Heimat zurückgekehrt und fand ein verlassenes Haus und schmerzhafte Erinnerungen vor. Und mit einem Mal war Thjarnulf entsetzt über sein Leben, in dem er immer nur Leben hatte nehmen können, keines geben. Und das machte ihn krank.
Kopfschüttelnd stieß der taumelnde Nortrave die morsche Holztür zu seinem Heim auf. Missmutig wollte er einen Schluck aus seiner zerbrochenen Rumflasche nehmen, doch als ihm kein müder Tropfen entgegenkamen, schmiss er sie wütend in eine Ecke. Er besah beiläufig den verstaubten Topf in dem seine Mutter früher immer den Kräuterschnaps gebraut hatte, und warf sich dann gleich, ungewaschen und faul auf das durchgelegene Bett in der Ecke des Raumes. Er schlief unruhig.
In einem Traum sah er sich selbst, wie er damals nach seiner Rückkehr von Selbstzweifeln geplagt, durch das Haus irrte und die Sachen der Familie ordnete. Wie er schon früher seiner Mutter im Haus geholfen hatte, räumte er auch diesmal das Haus auf, lüftete, reparierte kleinere Schäden. Doch dieses Mal schien es seltsam leer und seine Arbeit sinnlos. Thjarnulf war müde und zornig. Er musste wieder zur See – sei es um wieder in die alte Form zu kommen oder nur um sich abzulenken. Für den Ruhestand war er allerdings noch längst nicht bereit.
Als er zurückkehrte, war jedoch nichts wieder wie vorher. Bei der ehrenhaften Zeremonie der Wiederaufnahme in die Marine des Hetmanns fühlte sich Thjarnulf seltsam fehl am Platze. Seine alte Uniform saß nicht mehr wie früher, der Orden an der Brust kam ihm bizarr vor, hatte er sich seine Gefangennahme doch selbst zu verschulden. Alte Gesichter die ihn vor Wiedersehensfreude anblickten, wirkten plötzlich leer und fremd. Und mit 40 Jahren befand er sich in einem Alter, in das er sich noch nicht so recht einfinden wollte.
Der Mann erwachte. Seine Träume suchten ihn immer noch heim, seine Glieder schmerzten, sein Magen rebellierte und obendrein brummte ihm der Schädel. Doch er kannte dieses Gefühl, bekämpfte es sogleich mit einem mürrischen Griff zum Regal in dem die Wein-, Rum- und Schnapsvorräte gelagert waren. Es wäre wie jeden Morgen in den letzten zwei Jahren gewesen, doch dieses Mal gab es einen feinen Unterschied: seine Hand fasste ins Leere.
Es war eine sehr kalte Nacht im Morsan gewesen, als Thjarnulf seine Schicht hatte. Er befand sich an Bord der „Jarle“ auf die er auf seinen Wunsch hin versetzt worden war, sie durchquerten gerade die Küste des Iswindfjords auf der Suche nach Schmugglerverstecken. Der Nortrave seufzte. Er machte sich nichts vor, dies war eine Routinefahrt und er war Wache, kein Kampf, kein Kommando und mit Sicherheit keine Wiederherstellung seiner Ehre. Er sah sich um. Diese Steilküsten wären ein prima Versteck, zumindest was Festungen anging, denn für Schiffe war es hier viel zu eng. Der Steuermann konnte kaum manövrieren. War es vielleicht leichtsinnig gewesen hier hindurch zu fahren? Thjarnulf verlor sich in seinen Gedanken. Dieser Auftrag war ein Witz! Er war an einem Punkt angelangt an dem er begann sich seiner Arbeit zu schämen.
Wurde ihm nicht extra solche Fahrten anvertraut, damit er immer in der Nähe Sturmbachs war, wenn es mal wieder hieß, man bräuchte eine Marionette um die Armee zu vertreten? Einen Kriegshelden, der auf Festen und Repräsentationen eine gute Figur machte?
Thjarnulf schüttelte verächtlich den Kopf. Er ekelte sich vor sich selbst. Damals in Gefangenschaft hatte er sich vorgenommen wieder Großartiges auf See zu vollbringen. Und ja, gleich Morgen würde er der Armee den Rücken kehren. Vielleicht würde er eine Söldnertruppe anführen, vielleicht alleine mit dem Schiff hinausfahren, doch so zurückgedrängt war das Soldatenleben nichts mehr für ihn wert. Er seufzte. Thjarnulf wünschte es wäre tatsächlich so einfach, wie es sich anhörte.
Und in diesem Momenthörte er das grimmige Feuer mehrerer schwerer Ballisten aus der Dunkelheit erklingen. Das Splittern des Eichenholzes und der Schmerz in seinem Bein, als er unter dem Mast begraben wurde ließen ihn das Bewusstsein verlieren. Der Hinterhalt der Schmuggler war perfekt.
Rasend vor Zorn und Kopfschmerzen zertrümmerte der mittlerweile nüchterne Nortrave die Einrichtung seines Hauses. Er fühlte sich hundselend, sein Kater hatte mittlerweile die Größe einer Raubkatze angenommen, er wusste nicht mehr was er tun sollte. Etwas eintauschen konnte er nicht, war er doch als Säufer und Nichtsnutz verschrien. Vermutlich nicht einmal zu unrecht, doch das war nicht das eigentliche Problem. Müde sackte er auf den Boden, rote Augen und leichtes Zittern machten seinen Zustand noch deutlicher und dann fiel sein Blick auf etwas, das ihn aus dieser Lage befreien sollte.
Als Thjarnulf damals im Hospiz erwachte, sah er nur Wotgar neben sich sitzen. Sein ehemaliger Kamerad, den er seit einem Jahr nicht mehr gesehen hatte wirkte angespannt und wenig vertraut. Er trug seine Uniform, Thjarnulf sah, dass er jetzt befördert worden war. Doch er hatte den Eindruck, Wotgar war nicht als Freund gekommen, sondern offiziell bei ihm. Und tatsächlich, das folgende Gespräch war gezeichnet von Kälte und Förmlichkeit. Wenn man die wenigen Sätze, die sie austauschten überhaupt als Gespräch bezeichnen konnte. Er war gekommen um ihm seine Entlassung zu bescheinigen – was Thjarnulf doch sehr verwunderte, hatte er doch noch gar nicht darum gebeten – doch im nächsten Augenblick wurde ihm der Ausdruck auf Wotgars Gesicht gewahr. Er folgte seinem Blick, der zu seinem linken Bein hin ging und Thjarnulf schrie.
Thjarnulf schrie, wie er noch nie geschrien hatte. Verzweiflung, Zorn und blanke Angst hatten die völlige Kontrolle über ihn ergriffen. Und in dieser Situation verließ Wotgar seinen Freund mit trauriger Miene.
Er klopfte sich gegen sein Holzbein. An Tagen wie diesen, an denen einfach alles schiefging, meinte er schon fast die Schmerzen in seinem Bein wieder spüren zu können. Doch Thjarnulf hatte sich bereits wieder beruhigt, es gab immerhin wieder Alkohol im Haus. Er lächelte, als er den selbstgebrannten Kräuterschnaps seiner Mutter begutachtete. Den ganzen Tag hatte er daran gesessen, hatte seine Schmerzen wieder vergessen – und jetzt, wo er das kühle Destillat in den Händen hielt, merkte er, dass er gar keinen Durst mehr hatte. Sein Kater war verschwunden, sein Geist zumindest im Ansatz wieder klar und sein Bein schmerzte nicht mehr. Mehr aus Gewohnheit nahm er einen kräftigen Schluck und der kühle Schnaps brannte in seiner Kehle wie kein anderer. Und Thjarnulf der Rote kehrte nach kurzem Lichtblick zurück in sein altes Milieu, für ein letztes Mal.
„GAURR!“ hörte er sich schreien, „HUND, ERBÄRMLICHER!“ krächzte es aus seiner rauchigen Kehle und seine vom Alkohol getränkte Stimme hallte in den Gassen wieder. Es war dunkel, er befand sich vor einer Taverne im Schlamm. Erst als er sich so rufen hörte, wurde ihm langsam bewusst was er gerade tat. Er kniete im rasenden Blutrausch über einem anderen Mann, ein Mensch so wie es aussah, und sah seine eigenen Fäuste im Sturm auf ihn niederpreschen. Das blutige, zertrümmerte Gesicht des Mannes war nur noch eine verformte, bizarre Fratze und schon lange, das sah der Nortrave, schon lange gab dieser Mann kein Lebenszeichen mehr von sich. Bevor er einen zweiten Gedanken fassen konnte, bevor er hätte sehen können, dass er selbst von Schnittverletzungen und Stichen gezeichnet war, lies er erschrocken von seinem Opfer ab, stolperte Rückwärts in den Schlamm und blieb neben einer Flasche seines eigenen Kräuterschnapses sitzen und wartete. Wartete Stunden, bis er von mehreren Nortraven dort entdeckt und festgehalten wurde. Thjarnulf sah sein Ende gekommen.
_________________ Ehemalige: Ranim, Thjarnulf, Ubald, Bolgo, Remus, Jesko Aktuelle: Tobias Knopf, Mama Vadhu, Klunkerbart -------- http://www.merkenau.de
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