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 Betreff des Beitrags: De Profundis
BeitragVerfasst: 13.03.08, 22:02 
Einsiedler
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Registriert: 13.03.08, 14:38
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~Prolog~

Angst schneidet tief, fordert Härte heraus. Denn wer sich der Angst beugt, wird niemals stark.

„Mer' wolln keine Landstreicher hier. Schau zu, das'd Land gewinnst!“ Der Bauer, obwohl selbst in eher abgerissene Kleidung gewandet, betrachtete Ardis aus schmal gewordenen Augen mit bärbeissiger Miene. Sie konnte nicht anders, als zurück zu starren. Hilfloser Zorn blitzte in ihren blauen Augen, obwohl sie sich selbst zur Ruhe mahnte. „Was starrst mich so an? Bist vielleicht gar 'ne Hex?“ Ein meckerndes Lachen, der Gedanke schien ihn zu amüsieren.

'Wenn du wüsstest, alter Mann.' Der Gedanke schmeckte bitter, ähnlich wie die Ablehnung. Ardis wandte sich wortlos herum und hinkte den schlammigen Pfad hinab, der wieder auf die kaum besser begehbare Strasse führte, das Gelächter immer noch im Rücken. Obwohl sie diese Reaktion in vielen Facetten bereits erlebt hatte, obwohl sie das Misstrauen der einfachen Bevölkerung verstand, schmerzte es immer noch wie ein feiner Stachel im Fleisch. Sie hätte es besser wissen können, somit war der unangenehme Zwischenfall ihre Schuld. Aber der Hunger war zu groß geworden. Während Morsan war ihre übliche Nahrungsquelle versiegt, keine wilden Beeren, keine Früchte, selbst Fische waren von ihrer kargen Tafel verschwunden. Hätte sie ihren Stolz beiseite schieben und betteln sollen? Ihr Magen schrie nach Nahrung, sie fühlte sich ausgelaugt und schwach. Vor allem schwach.
Ardis zupfte eine der feuchten, wirren Haarsträhnen aus ihrer blassen Stirn. Es war nicht verwunderlich, dass man sie abwies. In ihrer zerlumpten Kleidung, dem hohlwangigen Gesicht mit den übergroß wirkenden Kinderaugen, die einen unpassend distanzierten Ausdruck zur Schau trugen, hielt jeder sie auf Abstand. Sie wirkte immer noch wesentlich jünger als sie tatsächlich war, aber der Bonus ihrer Kindheit war dahin. Wo man für ein kleines Mädchen für gewöhnlich Mitleid empfand, es wie eine streunende Katze fütterte, brachte man für eine erwachsene Streunerin meist nur noch einen misstrauischen Blick auf. In Städten war es einfacher gewesen, niemand außer der Wache kümmerte sich um Fremde, manchmal erhielt sie sogar Arbeit. Doch hier auf dem Land, irgendwo zwischen Ventria und Borast, folgten ihr misstrauische Blicke. Verirrte sich dann noch ein Lichstrahl auf ihr braunes Haar und ließ das tiefe Rot darin aufleuchten, geriet sie noch rascher in Verruf. Es musste nur zur Unzeit Vieh gestorben, ein Kind erkrankt sein oder schlichter Dauerregen das Land überziehen.

Es war eine der ersten Lektionen die sie verinnerlicht hatte: Wo Erklärungen fehlten, fiel die Schuld immer auf den Außenseiter. Und sie selbst würde immer außerhalb stehen, alleine und ohne den Rückhalt einer Familie. Selbstmitleid ertränkte sie allerdings rigoros bei den ersten Anzeichen. Es war eine Tatsache, kein Grund daran zu verzweifeln. Einsamkeit bedeutete auch Stärke, Sicherheit. Selbst wenn die Angst, vermischt mit Sehnsucht am Bollwerk ihrer Seele heulte, daran in langen Nächten nagte, war sie nicht bereit ihr ein Leben zum Fraß vorzuwerfen. Ardis klammerte sich an ihre Existenz, ein hungriger, gieriger Wolf. Sie mochte erbärmlich sein, aber es war ihre. Und sie war voller Fragen.

Warum war der Astreyon so unregelmässig am Firmament zu beobachten, während der Vitamalin beständig seine Bahn zog? Warum wurden manche Menschen krank, starben an Seuchen während andere verschont blieben? Was war Magie? Welcher Art war dieser Fluch, der sie getroffen hatte?

Und warum schmerzte die alte Wunde an ihrem Bein immer noch bei feuchtem Wetter? Ardis zog ihre Lippen zu einem schmalen Strich und quälte sich weiter über die unwegsame Strasse. Man konnte am Horizont bereits über einer Hügelkuppe hohe Baumwipfel ausmachen, unter denen sich ein teilweise geschütztes Lager für die Nacht finden lassen würde.


~Der Weg ist nicht das Ziel~

Obwohl ihr Bein weiterhin ein dumpfes Pochen durch Knie und Oberschenkel aussandte, ebbte der Schmerz langsam auf erträgliches Maß ab. Die Sonne stahl sich durch die endlosen Wolkenbänke der vergangenen Wochen und zauberte in ihrem Untergehen ein farbenprächtiges Schauspiel an den Horizont. Die harte Linie um ihre Lippen lockerte sich, ließ den weichen Schwung in der Mitte wieder aus der Umklammerung von Sorgen und Müdigkeit. Einen Augenblick gönnte sie sich Ruhe, die klare Abendluft einatmend und das idyllische Farbenspiel auf sich wirken lassend. Etwas wie Euphorie kroch langsam durch ihre Adern, ließ ein Lächeln in ihren Mundwinkeln aufkeimen. Tare näherte sich der neuerlichen Wiederkehr Vitamas, ein Neubeginn. Ardis war nicht naiv genug, diesen Neubeginn auch auf sich zu beziehen. Dennoch genoß sie für diesen kurzen Augenblick die Möglichkeit, ihre Suche könnte zu einem Ende finden und die Last von ihr genommen werden.

Dann wandte sie sich vom Pfad ab, um zielstrebig tiefer in das Dickicht zu wandern. Das Glück, eine trockene Höhle zu finden würde ihr wohl nicht gegönnt sein. Doch mit wenigen Handgriffen ließ sich wenigstens ein kleiner Unterschlupf schaffen. Trockenes Holz gab es für das kundige Auge selbst nach Regentagen, sodass bald ein kleines Feuer ihre kühlen Finger erwärmte. Ardis fühlte sich behaglicher, als es hätte sein sollen. Dämmrige Müdigkeit legte sich wie eine Decke über sie, hüllte sie sorgsam ein. Sie hob den Kopf, ihren Blick über den sichtbaren Abendhimmel schweifen lassend, an dem sich der Vitamalin in seiner romantischen Schönheit präsentierte. Waren die Geschichten vielleicht doch wahr? Sie erinnerte sich, in einem Buch über die Legende dieses Mondes gelesen zu haben, eine phantastische Welt. Es war eines jener Bücher gewesen, die Eshra für sie 'geborgt' hatte, wie er es so harmlos umschrieb. Von Zeit zu Zeit erlaubte sie sich, mit einer leisen Wehmut an ihn zu denken.

~~
Sie war ihm in Wegenstein begegnet, als sie gerade ihren neuesten Fund, einen noch warmen Brotlaib aus der Auslage eines unaufmerksamen Bäcker in einem Hinterhof verspeiste. Ardis stahl nicht gerne, war aber pragmatisch genug, ihr Überleben über solche kleinliche Skrupel zu stellen. Und dieses Brot hatte ungemein verführerisch geduftet. Mit vollen Backen hatte sie gekaut, als über ihr plötzlich ein Schatten aufragte. "Was machst du da?" Eine strenge Stimme, deren Autorität sie instinktiv zurückzucken ließ. Sie war damals etwa 16 Jahresläufe alt gewesen, genau konnte sie die Zahl nie bestimmen. Bis vor kurzem hatte sie in einem kleinen Dorf als Dienstmagd unterkommen können. So war sie, selten genug, immer noch mit robuster Kleidung versehen und an die Anwesenheit anderer Menschen gewöhnt. Das Brot in der Hand, wollte sie aufspringen und mit einem weiten Satz die Gefahrenzone hinter sich bringen, als sich vor ihr ein Junge aufbaute, provokativ grinsend. Gegen ihren Willen musste Ardis lächeln, obwohl sie wie üblich zurückwich. "Ich esse. Wonach sieht es denn aus?" Sein Grinsen wurde breiter, und sie stellte fest, das seine Augen faszinierend waren. Ein tiefes, lebendiges Braun voll Leben, noch unterstrichen durch den verwegenen Schwung seiner Augenbrauen. "Nach einem wilden Raubtier, dass seine Beute verspeist." Seine gestenreiche Aussprache brachte sie zum Lachen, ihr Lachen wiederum schien ihn anzuspornen.
Sie hatten im Anschluss das Brot kameradschaftlich geteilt und sich über Belanglosigkeiten unterhalten, bis zu der verhängnisvollen Frage. "Du bist doch nicht aus der Stadt, sonst würde ich dich kennen. Wo kommst du also her?" Sie verstummte, scharrte mit den Fußsohlen unbehaglich über den Boden. Ardis genoss dieses Zusammensein, das ihr Unbeschwertheit vermittelte. Sie wollte nicht an ihre Irrfahrt denken, diesen schönen Moment der Wirklichkeit opfern. Eshra schien ihre plötzliche Stille aufzufallen, denn er wechselte mit seltsamer Rücksichtnahme das Thema. "Egal. Ich möchte dich meinen Freunden vorstellen." Er sprang auf, quirrlig und so abenteuerlustig, dass sie erneut lachte, obwohl die Angst immer noch um ihre Seele schlich. "Komm schon! Keiner wird es wagen, das Raubtier zu beissen." Er zwinkerte ihr zu, und hielt seine Hand ausgestreckt. Ardis starrte fasziniert auf seine sehnige, braungebrannte Hand. Bislang war ihr niemand so vorurteilsfrei, so offen entgegen getreten. Und trotz aller warnenden Erfahrung, trotz aller mahnenden Schreie ihres Verstandes, legte sie ihre Hand in seine.

Diese einfache Geste hatte einen Pakt besiegelt, der beinahe ein Jahr andauerte. Eshra hatte sie seinen "Jungs" vorgestellt, einer kleinen Bande die sich aus Handwerkssöhnen und Streunern rekrutierte. Obwohl einige misstrauisch blieben, überwog doch die Neugierde - sie hatte bereits einiges von der Welt gesehen und konnte Geschichten erzählen. Das sie dabei immer etwas verschwieg, und ihre Erfahrungen beschönigte, fiel den Jungen nicht auf. Und sie selbst geriet mehr und mehr in die Falle dieses Selbstbetrugs. War ihre Vergangenheit nicht etwas vollständig persönliches? Wenn sie beschloss zu vergessen, ihre eigene Geschichte zu erzählen, würde sich die Wirklichkeit beugen müssen.
Eshra und sie verband eine Freundschaft, die die dahinter keimende Liebe unausgesprochen ließ. Er entdeckte, das sie lesen konnte und brachte ihr immer neue Bücher, die sie nach anfänglichen Schwierigkeiten verschlang. In dieser Zeit wuchs ihre Gier ins unermessliche. Es gab niemals ein Ende, immer Neues wurde in diesen Büchern über Tare berichtet. Die einzelnen Bruchstücke, die sie während ihrer Zeit in verschiedenen Häusern und Stellungen erfahren hatte, fügten sich zu einem Netzwerk zusammen. Alles war an irgendeinem Punkt verbunden, alles hatte seine Bedeutung. Wenn sie nur den richtigen Faden entdeckte, würde sie auch ihr Geheimnis lüften, an das sie immer seltener dachte.

Doch was einem bestimmt ist, lässt sich nicht verleugnen. Die Träume kehrten nach einem Jahr zurück, beängstigender und intensiver als je zuvor. Noch bis in den Tag verfolgten sie die Stimmen, diese grauenhaften Bilder, die sie nicht verstehen konnte. Ardis wurde still, zog sich immer mehr von Eshra zurück. Er sah es, drang aber nicht in sie. Nur wenn er ihr ein neues Buch, eine neue Geschichte brachte, konnte sie die unausgeprochene Frage in seinen Augen lesen. Jedesmal öffnete sie ihre Lippen, wollte ihre Last mit ihm teilen. Und tat es doch nicht.

Sie verließ Wegenstein hastig, von ihren persönlichen Dämonen verfolgt. Es durfte nicht wieder geschehen, das sie einen Menschen ins Verderben zog, der gut zu ihr gewesen war. Nicht noch eine Wiederholung ihrer Geschichte, die trotz aller Bemühungen auf ein Ziel zusteuerte, das ihr aus den Fingern glitt. Bilder stiegen auf, halb vergessen und verdeckt von Angst, Scham und einer kühlen Wut, die in diesen Jahren gewachsen war. Die kleine Handwerkerfamilie, die der neunjährigen Ardis Unterschlupf gewährte, weil sie der verstorbenen Tochter ähnlich sah. Die stille, sanfte Frau, die sie Lesen und Schreiben lehrte, ihre Angst mit Zärtlichkeit milderte und ihr Sicherheit bot. Dieselbe Frau, ausgezehrt und in Fieberdelirien, die Finger so fest in die durchnässte Decke gekrallt, das sie aussahen wie bleiche Klauen. Ihr eigene Mutter, die sie aus angsterfüllten Augen anstarrte, die dasselbe tiefe Blau wie ihre eigenen hatten. Den kleinen Bruder an die Brust gepresst, als müsse sie ihn vor Ardis schützen. Die Hand an ihrer Schulter, die sie zurückzog, eine herrische Geste aus dem Dorf hinaus, während ihre Mutter schwieg. Dieses Schweigen war wie Glas, scharfkantig und zerbrechlich.
~~

Ardis sah ihrer Atemluft nach, die in hellen Dampfwölkchen zum Himmel empor stieg. Sie hatte lange mit diesem Schicksal gehadert. Aber ein unsichtbarer Gegner konnte nicht angegriffen werden, und so blieb ihr nichts als diese Suche. In dieser Einsamkeit, in der sie lebte, war jeder Gedanke möglich und nur wenige erschreckten sie. Hatte sie verdient, was mit ihr geschah? Traf sie dieser Fluch, weil ihr Wesen verdorben war, ihre Gier nach Wissen so stark? Oder war sie lediglich ein Werkzeug? Was, wenn ihre letzte Möglichkeit sein würde, sich den Dienern des Namenlosen auszuliefern um ihre Geheimnisse zu erfahren? Ein selbstmörderischer Akt. Aber welche Bedeutung besaß ein Leben unter einem solchen Fluch schon.

Ihre letzte Station, bevor sie endgültig zur Landstreicherin wurde, hatte sie gelehrt über diesen Fluch nachzudenken. Es war ein kleines Städtchen an der Küste gewesen, in welchem sie gerüchteweise von einem Magier gehört hatte. Die Verlockung war zu groß gewesen. Er _musste_ etwas wissen, vielleicht konnte sie über ihn etwas in Erfahrung bringen und ihrem Ziel näher kommen.
Es war Astrael gewesen, warmer Wind strich über grüne Ebenen, und es war nicht schwierig sich saubere Kleidung aus verschiedenen Gärten zu beschaffen. Die Reue darüber dauerte keinen Augenblick, zu groß war die Gier. Sie hatte sich als Magd einstellen lassen, ein dienstbarer Geist. Zu ihrem Glück war der Magier ein gutmütiger Mensch, dessen Bart und durchschnittliches Aussehen ihn harmlos wirken ließen. Wäre dieses Haus nicht voller Bücher gewesen, hätte sie wohl aufgegeben, getäuscht vom ersten Eindruck. So blieb sie beinahe ein Jahr, heimlich von Zeit zu Zeit ihre eingerosteten Lesekünste erprobend. Auch während der Stunden, in denen Trugdar, der Magier des Hauses, seinen Schüler gemächlich unterrichtete, versuchte sie mit allen Möglichkeiten in Hörweite zu bleiben. Es war faszinierend. Manches hatte sie bereits in Büchern gelesen, manches war vollständig neu. Wie ein Schwamm saugte sie auf, was den Mund Trugdars verließ. Er sprach über ferne Länder, über alte Sprachen, über die Sterne und ihre Bedeutung. Über das Leben und seine Notwendigkeiten.

~~~
„Es gab verschiedene Abhandlungen zu diesem Thema, sowohl von Gelehrten wie auch Laien. Oswald, hörst du mir überhaupt zu? Tu' zumindest so, als wärst du aufmerksam. Ja? Danke.“ Der Magier schritt mit gewichtigen Schritten durch den kleinen Studierraum. Ein missbilligender Blick traf den Schüler, der an diesem warmen Tag den Eindruck erweckte, sich bereits im komatösen Tiefschlaf zu befinden. Immerhin brachte er es zu einem verlegenen: „Ja, Meister.“ Dieser setzte seinen Vortrag fort. „Obwohl niemand vollständig in der Lage ist, die Magie zu verstehen, kann man doch davon ausgehen, das diese Kraft verschiedene Ausprägungen besitzt. Die Meinungen divergieren – ist es eine unveränderliche Ausprägung, oder bestimmt das Wesen des Trägers diese Ausrichtung?“ Während der pausbäckige Oswald blinzelte, hielt Ardis im Hintergrund mit ihrem Staubtuch inne. Sie wagte nicht, sich einzumischen. 'Bitte..frag nach du Tölpel.' „Was...bedeutet das, Meister?“ Sie konnte in letzter Sekunde ein erleichtertes Seufzen unterdrücken. „Das bedeutet, mein Schüler, das zur Magie auch gehört, sich selbst zu erkennen und sorgsam zu prüfen. Kannst du mir sagen, ob du diese Gabe verdienst?“ Oswald starrte an seinem Lehrmeister vorüber, der nun erst auf Ardis aufmerksam wurde. „Oh, du bist auch hier?“ Ein zerstreuter Blick, er zwirbelte seinen Schnauzbart unsicher, als wüsste er nicht recht, ob diese Tatsache positiv oder negativ zu werten war. Dann folgte ein prüfender Blick zwischen den beiden jungen Menschen im Zimmer. „Ardis, könntest du unserem Oswald ein Glas kühles Wasser aus dem Brunnen bringen? Es wird während Astrael immer heiß in diesem Zimmer.“ Eine freundliche, aber dennoch bestimmte Art sie hinauszuwerfen. Was blieb ihr, außer artig zu nicken. Als sie hinausging, streifte ihr unfreundlicher Blick den Schüler. Er hatte keinerlei Vorstellung davon, wie glücklich er sich schätzen konnte.
~~~

Letztlich hatte sie den Magier unterschätzt, denn hinter dem harmlosen Äußeren verbarg sich ein scharfer Geist. Er hatte sie zur Rede gestellt, und in seinen Augen meinte sie den keimenden Verdacht zu lesen. Die Angst, die ihr ständiger Begleiter und vertrauter Gefährte war, nahm überhand. Ardis floh, wie so oft. Sie dankte ihm aber im Stillen dafür, sie eines gelehrt zu haben: Die Dinge waren selten so einfach, wie sie schienen. Man musste unter die Oberfläche sehen lernen, die Essenz verstehen.


Sie schob endlich das Laub mit den Händen in eine Ecke ihres provisorischen Unterschlupfes und legte ihren Umhang so darüber, das sie sich noch darin einhüllen konnte. Erinnerungen kamen und gingen, wie sie es wünschten. Aber für diesen Tag war es genug. Ardis schloss die Augen.


~Träume~

Schlafe Kindlein, schlafe ein,
für Morgen musst erholet sein,
ein neuer Tag, ein neues Glück,
lass die Vergangenheit zurück.


Die Stimme war leise, nur am Rande des Bewusstseins wahrnehmbar. Geisterhaft schwebten die Töne im Nichts, antworteten einander als verschwindendes Echo. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, ehe sie verstand, wessen Stimme dieses uralte, so vertraute Schlaflied sang. Und erst da löste sich das Nichts in schleierhaftes Grau, hinter dem ihre Mutter sichtbar wurde. Der kleine Bruder schlief in ihren Armen, die sichtlich schwer geworden waren. Ardis war wieder acht Jahre alt, drückte sich in der kühlen Hütte in Skarndorf, einem unbedeutenden Dorf in Vandrien, gegen die Holzwand. Sie konnte das feuchte Holz riechen, muffig und durchdringend, ebenso wie den schwachen Geruch des einfachen Eintopfes über der Feuerstelle. Die Szenerie erschütterte sie, obwohl ihr Geist unter der trägen Oberfläche des Traumes die Irrationalität mit gnadenloser Schärfe feststellte.

"Mama?" Sie hörte ihre eigene Stimme, ohne sich daran zu erinnern, die Lippen bewegt zu haben. Es klang seltsam, verloren zwischen dem hellen Klang der Kinderstimme und dem scharf gewordenen Alt der Erwachsenen. Auch ihre Mutter schien es gehört zu haben, denn ihr Blick richtete sich misstrauisch auf Ardis. Sie fühlte sich plötzlich nackt und bloß unter diesem eindringlichen Blick, spürte wie eine Träne über ihre Wange rollte und konnte dieses grässliche Zeichen von Schwäche doch nicht aufhalten.
"Mama?" Neuerlich diese Frage, nur noch leise. Ihre Mutter richtete sich auf, und plötzlich nahm Ardis die Furcht in ihren Augen wahr. Kleine Finger ballten sich zu Fäusten, sie starrte zu Boden. Und nahm zugleich wahr, weswegen sie ihrer Mutter Angst machte. Zu ihren Füßen, unter den Strümpfen aus grobem Garn bewegte ich ihr Schatten mit beunruhigender Intensität. Wogte und drehte sich, ein schattenhafter Geist der seinen Fesseln zu entkommen versuchte. Ein leiser Laut, nur ein Schluchzen, dann hob sie den Blick. Die Züge ihrer Mutter waren verschwommen, nur noch ein heller Fleck, doch ihre Stimme konnte sie deutlich hören. "Hexenmädchen!"

Die Szenerie hatte gewechselt, so abrupt das ihr Traum-Ich zurückwich. Erneut war hinter ihr kühles, feuchtes Holz, das Gesicht vor ihr allerdings war ein anderes. Ein Mädchen, nicht älter als zehn Jahre, starrte sie triumphierend aus grauen Augen an. 'Nein..' Der schwache Protest verklang ungehört im Inneren, während die Szene ihren unheilvollen Verlauf nahm. "Hexenmädchen!" wiederholte ihre Peinigerin mit unterstützendem Echo aus dem Hintergrund, und zog dabei schmerzhaft an den rotbraunen Haaren. "Ich bin kein Hexenmädchen!" Ihre Rechtfertigung wurde mit Gelächter belohnt, dann folgte die nächste Zeile. "Hexen mögen kein Wasser. Wollen wir schauen, ob das Hexenmädchen schwimmen kann?" Die Nachfrage wurde mit Jubel belohnt, der seltsam hohl klang. Ardis fühlte, wie grobe Kinderhände ihre Handgelenke packten und sie trotz Protest mitschleiften. 'Bitte...nicht dieser Traum..' Sie sah nur die aufgewühlte Erde, das schlammige Ufer des Tümpels und dann die glitzernde Oberfläche des Wassers. Ihr eigenes, rundes Kindergesicht mit den schreckgeweiteten Augen. Dann durchbrach sie die Oberfläche und verlor jede Atemmöglichkeit. Eine Hand drückte auf ihren Hinterkopf, sie zappelte verzweifelt, versuchte zu schreien und sah Luftblasen empor steigen. Die lachenden Kinderstimmen wurden farblos, tiefer, hämischer. Wispern gesellte sich dazu, stieg in ihrem Geist auf wie eine fremde Macht, die skrupellos die Kontrolle an sich riss. Alles was sie war, jedes Gefühl wurde beiseite geschoben und kauerte sich angsterfüllt in einem Winkel ihres Selbst zusammen. Schwärze näherte sich, eine Wand die alles zu beenden drohte. Dann folgte der Schlag. Ein Ruck ging durch ihren Körper, ließ die kindlichen Gliedmaßen beben. Der Druck an ihrem Nacken ließ abrupt nach, und sie fuhr selbst im Traum panisch empor, um mit triefenden Haaren die kühle Luft in ihre Lungen zu saugen. 'Dreh dich nicht um...' Das Mädchen folgte dem Drehbuch jedoch ohne Widerspruch, wandte sich voll Angst zu seinen Peinigern um. Zu ihren nassen Füßen lag jene im Staub, die sie zuvor so triumphal bedrängt hatte. Alles hielt inne, ein geräuschleerer Raum, in dem jedes Detail klar und doch distanziert war. In den grauen Augen leuchtete eine grünliche Korona um die Pupille, die nur noch ein erschrockener Punkt war. Das Gesicht war bläulich verfärbt, jeden Augenblick intensivierte sich der Farbton, schillerte in der Traumwelt deutlicher als zuvor. Das Raunen kehrte wieder, dann war sie alleine. Das Nichts umfing sie, verwischte ihre Konturen und raubte Farben und Sinn.

'Bitte..'

Dann öffnete sie die Augen.


~Hoffnung~


Über ihr spannte sich ein windgepeitschter Nachthimmel, Wolken zogen mit rasender Geschwindigkeit darüber hinweg. Trotz der Kälte war sie schweißgebadet, ihr Atem ging keuchend und unregelmässig. Sie konnte das helle Licht des Vitamalin wahrnehmen, doch ihr Blick wurde von etwas anderem angezogen. Direkt über ihr befand sich die lichtabweisende, gedämpfte Fläche des Dorayon, der Heimat des Namenlosen. Mit Entsetzen in den weit aufgerissenen, immer noch im Traum befangenen Augen starrte sie empor. Diese Träume kehrten immer wieder, ließen sie erneut jede demütigende, von einem alltäglichen Leben distanzierende Szene erleben. Dieses Wispern, die fremden Stimmen waren ihr nicht fremd. Und doch hatte sie Angst, kalte, nackte Angst vor dem Zugriff Angamons, dessen Name ihre Seele wie ein Brandmale kennzeichnete.

Sie fragte nicht mehr nach dem Warum, diese Nutzlosigkeit hatte sie bereits vor vielen Jahren aufgegeben. Es gab nur noch ein Ziel: Die Ursache für diesen Fluch und ein Heilmittel zu finden. Irgendwo musste es ein Wesen geben, das genug Wissen besaß, um sie aus dieser Falle zu befreien. Sie musste lernen, suchen, erkennen. Jeder Weg war gut, solange er diese Bürde von ihren Schultern nehmen konnte. Jedes Mittel würde recht sein.

Ardis schauderte, zog ihren zerschlissenen Umhang enger um sich, ohne Hoffnung auf Wärme. Das schwache Gefühl von Frieden und Zufriedenheit war vollständig vergangen, verloren im Chaos ihrer Träume. Sie musste einen Schritt weiter gehen, ehe der Wahnsinn sie schärfer im Genick packte. Aber wo konnte sie beginnen? Sie fürchtete die großen Städte, die Magiertürme. Man würde sie entdecken, ausforschen und ihr die Geheimnisse entreissen. Was immer sie in seinen Klauen hielt, es würde Misstrauen provozieren. Ardis kannte die Geschichten nicht nur, sie hatte selbst erlebt was mit Menschen geschah, die nur in den Ruf gerieten, Diener des Namenlosen zu sein. Ihre Beteuerungen, ja ihre Angst würde keinerlei Rolle spielen.

Es blieb eine Möglichkeit, eine Insel deren Name in zahllosen Geschichten gefallen war, die sie auf ihren Wanderungen in Küstenstädten belauscht hatte. Siebenwind. Obwohl ihre Zähne durch die zunehmende Kälte aufeinander klapperten, kostete sie den Klang des Namens. Illusionen waren etwas für Dummköpfe, aber in all den Geschichten musste ein wahrer Kern zu finden sein. Siebenwind schien Abenteuerlustige anzuziehen, Platz für jeden zu bieten. Auch wenn sie sich mit ironischer Selbsterkenntnis eingestehen musste, das man Personen wie sie nicht als Teil dieser Gemeinschaft anerkennen würde, bot ein solches Gemisch doch Sicherheit. Man würde nicht allzuviele Fragen stellen, wenn sie sich unauffällig verhielt.
Siebenwind. Der Name lockte ein Kribbeln in ihren vor Kälte tauben Fingerspitzen hervor. Als sie sich umwandte um wieder tiefer in ihr Bett aus Laub und Zweigen zu rutschen, stellte sie fest das der Dorayon nun vom Nachthimmel verschwunden war. Ein gutes Zeichen? Man würde sehen.

In dieser Nacht blieb Morsans friedliche Umarmung aus. Stunde um Stunde starrte sie in die Sterne, ihren eigenen Atem beobachtend. Sie fror weiterhin, aber es war ihr gleichgültig. Wichtiger war nun ein Plan. Sie musste einen Weg finden, die Überfahrt zu bezahlen. Sie musste einen Weg finden, unentdeckt zu bleiben. Und sie musste lernen nicht nur zu überleben, sondern einem Ziel zuzustreben. Nur ihr Ziel war von Bedeutung, nicht die Opfer auf dem Weg. An diesen Glauben klammerte sie sich mit der Hartnäckigkeit derer, die nichts mehr zu verlieren hatten.


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BeitragVerfasst: 20.03.08, 20:07 
Einsiedler
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~ Ein Anfang ist besser als ein Ende ~

Sachter Wind strich durch die Baumwipfel, entlockte den zaghaft knospenden Blättern ein leises Rauschen. Die Geräusche des Wäldchens waren einlullend, Tares Wiegenlied für alles Leben. Sie mochte diesen Ort, seine Abgeschiedenheit. Hier gewann die Einsamkeit eine andere, bewusstere Qualität. Sie verlor die Kälte, die sich in unachtsamen Momenten langsam aber unerbittlich in ihren Körper und die Seele schlich. Hierher kam sie, um Ruhe und Schlaf zu finden. Ardis zog es vor, ihren Unterschlupf selbst zu wählen, statt sich der unbestreitbaren Tatsache zu stellen: Sie besaß keinen Ort, an den sie gehen konnte. Keine Freunde, die einen solchen Ort besaßen. Und keine Dukaten um sich einen solchen Ort zu kaufen. Nun – fast keine. An diesem Abend schlossen sich ihre kühlen Finger um einen kleinen Beutel, den materiellen Beweis für eine Begegnung, die ihr im dämmrigen Zustand des Halbschlafes unwirklich erschien. „Sitzende Kleidung wäre ein Anfang.“ - Er hatte sie gemustert, seinen Blick an ihr auf und ab wandern lassen. Und zum ersten Mal seit langer Zeit war es ihr nicht unangenehm gewesen, sich durchschaut zu fühlen.

Ardis schmiegte sich in den ausgefransten Stoff ihres Umhanges, der von irgendeiner Wäscheleine 'geborgt' worden war. Sie mochte ihre unpassende, nicht immer saubere Kleidung. Die zu groß geratenen Wäschestücke machten es anderen schwierig zu erahnen, was sich darunter verbarg. Sie waren ein kleiner Schutz, kindisch, aber wohltuend. Eine ihrer lieb gewonnen Marotten, und so war sie selbst von der Bereitwilligkeit überrascht, mit der sie nachgegeben hatte. Andererseits war es nur eine Winzigkeit, angesichts der Dinge, die sie über sich preisgegeben hatte. Sie lehnte den Kopf an den Baumstamm, gegen ihren Willen stahl sich ein kurzes, selbstironisches Lächeln in ihre Mundwinkel.

~~~~
Die Gesellschaft in der Blutigen Ratte war gemischt, vor allem aber rau und schmutzig. Vielleicht lag es daran, dass sie ihre Scheu vor größeren Menschenansammlungen überwand, um ihren Plan in die Tat umzusetzen. Ein Ersatzplan, denn ihr erster war bereits gescheitert. Dieser allerdings war simpler: Sie musste jemanden finden, der nicht sofort misstrauisch wurde, wenn sie Fragen stellte. Es hatte sich einfacher gestaltet, als sie dachte.

„Was sucht eine wie du hier?“ Das war eine ausgezeichnete Frage, und sie wäre beinahe über eine ehrliche Antwort gestolpert. Stattdessen hatte sie aus dem Stehgreif versucht, eine glaubwürdige Geschichte zu erfinden. Ihr Gegenüber war nicht unbedingt sauber, aber sein Lächeln offen und die Bereitschaft zuzuhören, verbunden mit mehr – oder meist weniger schmeichelhaften Kommentaren, lockerte ihre Unruhe. Der verbale Schlagabtausch begann ihr Spaß zu machen, sie lachte sogar. Irgendetwas, tief in ihr verwurzelt, sandte Warnungen aus. Aber sie wischte ihr übliches Misstrauen beiseite, zu wohltuend war ein Gespräch auf gleicher Ebene. Seine Erzählung über die Begegnung mit einer echten Hexe brachte sie erneut zum lachen. Er flunkerte, und das machte es ihr einfach, ohne schlechtes Gewissen nur einen Bruchteil zu erzählen. Tischte er ihr wirklich Märchen auf?

„Ich kann es beweisen.“ Das rief ihre Neugierde auf den Plan. Sein Angebot war harmlos – er würde ihr den Ort zeigen, an dem er die Hexe getroffen hatte. Immer noch angeheizt von ihrem Wortduell und der angestachelten Neugierde folgte sie ihm. Hinein in den Wald, über eine Lichtung. Erst als sich kurz darauf der Zyklus seinem Ende zuneigte und die Dämmerung lange, tiefe Schatten zwischen die Baumgruppen zeichnete, stahl sich ein flaues Gefühl in ihre Magengrube. Er stand nun vor ihr, weder bedrohlich, noch die Distanz zwischen ihnen überschreitend. Und doch hatte sich etwas verändert. Er wirkte größer, präsenter. Der Ausdruck in seinen Augen hatte sich gewandelt. Harmlos? Der Eindruck war verflogen. Ardis wusste, sie hätte Angst haben sollen. Aber da war keine Furcht, nur seltsame Beklemmung.

Er fragte, und sie erzählte. Wann immer sie Ausflüchte versuchte, trieb er sie mit sanfter Bestimmtheit auf den richtigen Pfad zurück. Die Worte kamen stockend, waren quälend. Ihr Fluchtinstinkt trieb sein Unwesen, und vielleicht wäre sie tatsächlich wie ein Kind vor den Wahrheiten und ihm geflohen. Aber seine Finger legten sich wie selbstverständlich unter ihr Kinn, nur ein sanfter Druck, ein leichte Berührung an ihrer Wange, und sie ergab sich. Dieses kleine Quentchen Wärme, Anteilnahme brach ihre Schutzmauern wie lockeren Sand. Sie war blind, tatsächlich das kleine Mädchen, als das er sie mit freundlichem Spott titulierte. Sah weder die gut kaschierte Berechnung in seinen Augen, noch die Tatsache, dass sie sanft, aber bestimmt gelenkt wurde. Und selbst wenn – es wäre ihr wohl gleichgültig gewesen. Sie wollte vertrauen.

Als sie geendet hatte, die Schultern gespannt, als würden die Knochen darunter jeden Moment bersten wollen, erwartete sie das vernichtende Urteil. „Ich fürchte..“ Die Kunstpause nagte an ihrem Verstand. Was würde nun kommen? „..du bist kein Monster.“ Ardis starrte ihn an, verwirrt, ja irritiert. Und dann hörte sie das leise Glucksen, ein unterdrücktes Lachen. Fand er das etwa komisch?! In ihr stieg Wut auf, übertünchte die gigantische Lawine der Erleichterung. Sie schlug nach seiner Schulter, nicht gerade effektiv, aber doch befreiend. Und er lachte weiter.
Nur langsam gewann die Erleichterung überhand, gefolgt von leiser Neugierde. Woher nahm er eigentlich die Gewissheit, so etwas zu behaupten? Die Frage wurde rasch beantwortet, denn nun erzählte er. Über Magie, über Kontrolle, und über die Notwendigkeit zu schweigen.
~~~

Ardis' Gedanken wanderten. Was er sie mit der enervierenden Selbstsicherheit eines Lehrers gelehrt hatte, hielt sie wach, obwohl ihr Körper nach Schlaf gierte. „Die Magie hat vieles mit einem Hund gemein. Es ist gleichgültig, in welcher Sprache man zu ihr spricht, solange sie die Befehle verstehen kann.“ - „Kontrolle ist der Beginn. Lerne, deinen Leib zu kontrollieren, dann kontrollierst du auch die Magie.“ „Gesten, Worte, Imagination.“ Sie hätte ihn gerne zurückgehalten, als er gegangen war. Es gab soviele Fragen. Sovieles, das sie nicht wusste. Aber er hatte ihre Zustimmung zu seinen 'Vorschlägen' mit einem lakonischen „Brav.“ kommentiert, und sich zum Aufbruch gerüstet. Obwohl ihre Antwort bissig klingen sollte, lag doch ein kleiner Funke Wahrheit darin. „Ja, Meister.“


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BeitragVerfasst: 20.03.08, 23:26 
Ehrenbürger
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Wohnort: schon wieder so ein Ösi
Welch ein absonderlicher Ort, nach seinem Gutdünken zumindest, nicht die Art von Gesellschaft obendrein, die er üblicherweise suchte. Aber für heute tat sie ihren Zweck. Manches mal konnte es doch überaus erheiternd sein, dem Pöbel bei seinen Kapriolen zuzusehen, vorallem wenn man selbst mitten darin stand und augenscheinlich nicht gesehen wurde.

Natürlich war dies nicht der einzige Grund seines Hierseins, und siehe da, lange musste er tatsächlich nicht warten um genau das zu finden, wonach er gesucht hatte. Eigentlich nicht besonders aufregend, auffällig weder im Guten noch im Schlechten.
Aber diese Augen, die scharf geschnittenen Züge und , nicht zuletzt, das Gebahren liessen doch sein Interesse erwachen. Was also hatte er da vor sich? Eine nette Ablenkung für den heutigen Abend oder vielleicht doch genau die Sorte , die er gesucht hatte?

Schwer heraus zu finden war es nicht, so wie sie dort stand. Offensichtlich ungewohnt an diesen Ort und nicht gerade Herr der Lage, zeugte doch die blasse Stimme, das artige, kleinmädchenhafte Verhalten davon. Aber das liess sich doch erstaunlich einfach aus ihr heraus locken. Bald war die Zurückhaltung vergessen, ein Scherz hier, ein dumpfes Grinsen da, ein wenig Übertreibung gemischt mit einer Priese knochentrockener Wahrheit und schon frass sie ihm buchstäblich aus der Hand.
Seine Geschichten erheiterten ihn doch selbst, war das amüsanteste daran doch dass sie nicht einmal wirklich gelogen waren, zumindest nicht komplett. Den unangenehmen Teil hatte er natürlich ausgelassen, immerhin war er nicht hier um dies arme Geschöpf zu erschrecken.
Vielleicht ja später...

Nun, die Geschichte über die wollüstige Hexe im Walde und sein nicht minder unverschämtes Auftreten liessen sie anbeissen, liessen sie neugierig werden. Und wie stets war die Neugierde der Haken, der den Fisch an Land ziehen würde.
So also ward alsbald vereinbart, dass er seine Geschichte ja beweisen könnte und selbstredend müsste. Gesagt getan, folgte sie ihm ohne Klage mitten in den Wald hinein, wie schon manch eine vor ihr, ganz genau so. Eine bissige Bemerkung nach der anderen, aber das gehörte un einmal zum Spiel, eines das ihr offenbar ebenso gut zu Gesichte stand.
Wie passend dann auch, dass Fela endlich ihr Antlitz hinter den massiven Bergen verbarg und er im Gegenzug das seine offenbaren konnte.,heute doch einmal freundlich.
Sicher war er dennoch nicht, was genau er nun vor sich hatte. Tatsache nur, dass sie begierig war , zuzuhören, zu lernen. Ein Schritt weiter in seine Fänge, so bereitwillig wie man es sich nur wünschen konnte.
Da fiel es ihm auch nicht schwer, einfach zu erzählen, immerhin war ein gutes Puplikum selten. Und eines, das willig war zu lernen und dabei einen durchaus wachen Geist zur Schau stellte noch seltener.
Das zumindest musste man dem Geschöpf in all seiner kindlichen Art doch lassen, sie war wach und bei der Sache. Manch anderer liess sich dagegen einfach nur berieseln, nickte es ab und sprach ganz nach der Nase des Herren. Sie nicht. Ein gutes Zeichen.

Was sie nun in sich trug, würde die Zeit zeigen, aber verdient gelehrt zu werden, hatte sie allemal.
Eine Schande wäre es, Verstand versiegen zu lassen, vertrocknen wie altes Stroh.
Und nach ihrem Auftreten, nach all dem was er gesehen hatte, würde ihr ohnehin nur dieser Weg bleiben, dieser oder im besten Fall ein tristes Leben auf den Binsen eines ungehobelten Barbaren ,aus dem nahen Drecksloch das sich “Viertel” schimpfte, ohne Sinn und Ziel.
Gespannt war er allemal, wie es sich entwickeln würde, war es auf seine Weise doch auch ein Experiment, die erste Schülerin die er wirklich an sich nahm......die Zeit würde es zeigen.

_________________
<@Shai> Du chauvinistisches Arschloch. :/

dead to the world - Armand Marcoul


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BeitragVerfasst: 27.03.08, 14:33 
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~Spiele~

Der Pfad wand sich zu ihren Füßen durch das Wäldchen, matt erleuchtet von den regelmässig angebrachten Laternen. Im Unterholz zu beiden Seiten fingen sich die Schatten der keimenden Dunkelheit, jedoch nicht bedrohlich. Sie fühlte sich eigenartig wohl, immer noch gesättigt von den seltenen Mengen an Essen, Wärme und nicht zuletzt Gesellschaft. Zu ihrem Wohlbefinden trug das leise Schnauben Felafeders nur noch zusätzlich bei, die Stute trottete am Zügel geführt gemächlich hinter ihr her. Wieder ein unerwartetes Geschenk, wenn auch eines das ihr ebenso Lernfähigkeit und Anpassung abverlangte, wie die Übungen zur Konzentration. Hier, alleine, zog sie es doch vor, ihren Beinen zu vertrauen. Es war wohl ein weiter Weg bis zur Feste und dem Handelsposten, aber von angenehmer Stille begleitet.
Sie war dankbar für diesen Unterschlupf, einen Ort, der Alltäglichkeit inmitten eines Orkans an Neuem bot. Ihr Gewissen wurde mit dem Gedanken an die Notwendigkeit eingelullt. Sie hatte kaum gelogen, es waren auf ihre Weise Wahrheiten gewesen, die ihr zur Anstellung verhalfen. Dann und wann stahl sich jedoch eine vertraut gewordene, belehrende Stimme in ihre Gedanken. „Braves Mädchen.“ War sie das? Wie immer gesellte sich ein Nachhall von Bitterkeit selbstverständlich zu diesen Worten. Sie besaßen den unangenehm abschätzigen Klang eines „nur“, wie man ein kleines Kind tätschelte oder einem Kätzchen das Kinn kraulte. Vielleicht wollte sie diesen Unterton auch nur hören, um sich nicht einzugestehen, wie gut es tat, immerhin jemand zu sein. Und in kurzer Zeit hatte sie gelernt, nicht nur jemand sondern viele zu sein.

Sie war Samantha, das Mädchen mit dem raschen, scheuen Lächeln und dem Drang sich zu beweisen. Sie war Ardis, die gelehrige Schülerin, gierig nach neuem Wissen, die bewusst Schritt um Schritt auf einem Pfad ohne Widerkehr tat. Die Spielerin, eine sorgende Schwester, das ängstliche Kind, die distanzierte Einsamkeit. Sie war, was immer notwendig sein mochte. Vor allem aber die gelehrige Schülerin, und sei es darin, ihre Rollen zu wechseln und nahtlos in eine neue Robe, ein neues Lächeln zu schlüpfen, als hätte sie schlangengleich ihre Haut gewechselt. Es fühlte sich so natürlich an, so einfach, dass sie sich fragte, ob all das nicht schon lange in ihr geschlummert hatte. Ja, es tat wohl, ihr wahres Gesicht hinter diesen Masken zu verbergen, für sich zu behalten, was ihr zum Nachteil gereichen konnte. Es war eine schwache Form der Kontrolle, unvollkommen, aber ein erster Schritt. Nur spät, wenn alle Geräusche verstummt waren und sie der Nacht preisgegeben war, begannen ihre Gedanken zu kreisen. Wo bei Tage alles ineinander floss, sich die neuen Eindrücke zu einem unvermeidlichen Ganzen fügten, versuchte sie bei Nacht die Fäden zu entwirren. Und immer wieder verlor sie sich im Gewirr. „Irgendwann bist du mehr als jetzt und weniger als zuvor.“ War es das, was er meinte? Sie musste manches auf dem Weg zurücklassen, Ballast, um mehr zu werden. Wollte sie mehr sein? Ja.

Fraglich nur, ob sie die Konsequenzen wirklich verstand, oder sie irgendwann enden würde, wie jene, die ihre Abneigung auf dem schroffen Bergpfad heraus geschrieen hatte. Mit Reue, jemals den ersten Schritt getan zu haben. Sie hatte ihm ihre Anklage entgegen geschleudert. Er trug die Schuld. Er hatte sie hierher gebracht, sie auf diesen Weg geleitet.
Und er offenbarte eine weitere Seite seines Wesens, als er auf die Schülerin zuging, den blanken Dolch in seiner Hand. Das Bild traf Ardis wie ein schmerzhafter Widerhall, erinnerte sie an eine weitere Wahrheit: Dieser Pfad war notwendigerweise einsam. Nichts war, wie es schien. Vertrauen mochte manchmal notwendig sein, immer aber war Misstrauen ein schleichender, lauernder Begleiter. Niemals durfte etwas als gegeben hingenommen werden, alles wurde hinterfragt, alles konnte nur ein Spiel sein - oder tödlicher Ernst. Und sie kannte weder die Regeln dieses Spiels, noch war sie in der Lage, sich im Ernstfall zu schützen. Und besonders jener, der sie lehrte, war zugleich Schutz und Gefahr, stete Herausforderung. Sie war nicht so dumm, seine beiläufige Freundlichkeit überzubewerten. Trotz aller Vorsicht war irgendwo unter Misstrauen und Distanz aber die Bereitschaft verborgen, sich seiner Fürsorge bedingungslos anzuvertrauen. Aber sie verstand, auch hier war vieles nur ein Spiel, amüsant, leichtlebig, lehrreich, ein rascher Wechsel von Rollen und Gesichtern. Seine Nähe war eine Gratwanderung, der Lohn für jeden Schritt Wissen. Doch irgendwo lauerte der Abgrund, den sie noch nicht klar zu sehen imstande war.

Und wieder führte alles zu Kontrolle. Kontrolle über sich selbst, über die eigenen Gefühle. Denn wo Gefühle tief, beherrschend wurden, warteten auch die gierigen Stimmen, schmeichelten, forderten, verlockten. Erfolg oder Scheitern, weitere Alternativen gab es nicht. Es war notwendig, die eigene Sicherheit mit Halbwahrheiten und Opfern zu wahren. Notwendig, dieses Geheimnis zu schützen, sich zu verschließen und jedes Gefühl der Disziplin zu unterwerfen. Die Angst begleitete sie, unaufdringlich aber stets präsent. Ein vertrauter Begleiter, der sie vorwärts trieb. Angst zu versagen. Sich zu verlieren, manipuliert zu werden. Furcht vor der Einsamkeit und vor dem, was namenlos und tief verwurzelt in ihr schlummerte. Sie musste lernen, sich mit den Regeln dieses Pfades vertraut machen. Denn Unwissenheit bedeutete Schwäche, und Schwäche war der erste Schritt hinab in den Abgrund. Und gleichgültig, welchen Preis es forderte, Ardis wollte nicht schwach sein.


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BeitragVerfasst: 15.04.08, 18:42 
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~ Schatten um Schatten ~


Der Raum war weitläufig, sein Ende so unabsehbar, dass sie instinktiv erstarrte. Über ihr war nur die endlose Schwärze, unter ihr ein seltsam weicher Grund. Irgendetwas schien sich im düsteren Schiefergrau zu bewegen, blieb allerdings stets am Rande ihrer Wahrnehmung. Es war, als würde der Boden ihre Füße berühren, lauere nur auf eine Bewegung um sie zu Fall zu bringen. Und so stand sie still, wartete, während trockener, heißer Wind spielerisch durch die Strähnen ihres offenen Haares strich. Er trug den Geruch von Asche und gefährlicher Hitze mit sich, ließ ihre Augen schmerzen. Und selbst im Traum spürte sie, wie ihre Schultern sich furchterfüllt verkrampften, der Wunsch keimte, diesen Ort zu verlassen..ihre Augen einfach zu öffnen, und diesen Albtraum zu beenden. Denn das war es..nur ein Albtraum. Oder?

Ein verräterisches, heiseres Geräusch schlich sich zwischen ihren Lippen hervor. Die Finger schmerzten im Versuch, mit aller Macht zurückzuhalten, was da keimte, sich mit tückischer Zielstrebigkeit seinen Pfad an die Oberfläche bahnte. Angst. Nackt und bloß, die gierigen Klauen in ihr Fleisch gepresst. Ein hämisches Kichern hinter ihr, über ihr, unter ihr. Es hallte wie ein Echo wider, vielstimmig als käme es aus einer Unzahl an Kehlen. Sie waren gekommen, die Traumfresser, Furchtverschlinger, und sie waren hungrig. Das Mädchen konnte ihre körperlose Berührung spüren, ihr Wispern hören, und es kauerte sich nieder. Da waren plötzlich Bilder, soviele Bilder, die um sie herum schwebten, hauchzarte Pinselstriche auf feinem, durchscheinenden Material.

~~~
Eine Ebene, ganz wie diese, doch hell unter Felas verhaltenen Strahlen. Gestalten in schwarzen Roben, Gesichter im Schatten, die sie nicht wahrzunehmen schienen und doch beobachteten. Sie wussten. Wussten, das sie Ihn fürchtete, vor dem schieren Namen innerlich floh. Dass sie schwach war.

Ein Gesicht, dessen Züge ewig wandelbar schienen, und doch immer einen Grundton bewahrten. Die Mundwinkel waren in feinem Spott erhoben, der Blick fixierte sie, so intensiv, dass sie sich in ihre Einzelteile aufzulösen schien. Die Farbe lief wie goldene Tränen aus der Iris herab, tauchte diese Augen in milchig-trübes Weiß.

Ein schmerzhaft vertrautes Bild, ein kleines Mädchen mit langem Haar, das Gesicht in kindlicher Genugtuung verzogen, der kleine Zeigefinger ausgestreckt um direkt auf sie zu deuten. Anklagend. Hämisch.
~~~

Und in ihr stieg Wut empor, rang mit der Angst, wurde vom Tropfen zur Woge. - Nein! - Es war ein Schrei ohne Klang und dennoch bebten die Bilder wie feines Glas, wichen die Kreaturen zurück. Sie richtete sich auf, und griff nach dieser Wut, zehrte davon. Die Finger griffen nach dem Bild, schlossen sich um das zarte Ebenbild des Mädchens, mit dem alles begonnen hatte. Der Zorn wurde kalt, klar wie diese zerbrechliche Erinnerung. Und plötzlich war da Kraft und Ruhe, als wäre dieses Eingeständnis von Bitterkeit und Zorn nur ein notwendiger Schritt gewesen. Es war so einfach, so simpel. Und das Bild zersplitterte zwischen ihren Fingern in Myriaden von schimmernden Stücken, die wie Sand zu Boden rieselten. Das Wispern verebbte, verstummte völlig. Doch sie war nicht alleine. Nicht hier. Niemals. Und das Mädchen öffnete die Augen.


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 Betreff des Beitrags: Re: De Profundis
BeitragVerfasst: 23.05.08, 12:28 
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~ The road not taken ~


Erinnerungen kamen und gingen. Den Geist der Flut geöffnet, überließ sie sich dem Wellengang, gleich ob weich oder stürmisch. Sie kostete von Furcht, von Bedauern und Schmerz. Begrüsste Zuneigung, Gier und Berechnung. Wertete nicht, erkundete nur was dort in ihr ruhte. Gefühl war nicht zu vermeiden, doch sie musste lernen, es zu ihrem Werkzeug zu schmieden. Und der erste Schritt war die Bekenntnis zu dem, was sie war, was sie sein wollte. Zu den Mitteln, die sie bereit war einzusetzen, um ihr Ziel zu erreichen. Kalkül und Verstand waren die Triebfedern, Berechnung die logische Schlussfolgerung. Es war eine seltsam distanzierte Art der Neugierde, der Selbsterkundung.

Etwas hatte sich seit jenem Abend verändert, an dem Entscheidungen gefordert wurden, weitere Schritte. Letztlich waren alle Beteiligten in diesem Stück von eigenem Kalkül getrieben, von eigenem Gefühl. Notwendigkeit, Verpflichtung, Spieltrieb. Auf tieferer Ebene waren sie, wie alle Menschen, von Leidenschaften geprägt. Bewusster und disziplinierter vielleicht, als Resultat eines Daseins am eigenen Abgrund. Aber auch näher an den Extremen, ausgeprägter.
Und wo sie bei sich hätte Zorn vermuten sollen, Drang nach Vergeltung oder zumindest schlichtes Bedauern über die Entwicklung, war nur kühle Ruhe. Das keckernde Lachen der Adepta, die gehässige Freude in diesen gelben Augen, es war auf fruchtbaren Boden gefallen. Der Grund war bereits vorhanden, doch nun keimte Wissen darin. Sicherheit. Und absurderweise verspürte sie den Wunsch, sich bei jener Frau zu bedanken – auf spezielle Weise, die wohl wenig Genuss für sie barg. Ja, sie würde sich bedanken. Vielleicht nicht heute, nicht morgen, aber irgendwann. Alleine der Gedanke trieb ihre Mundwinkel in die Höhe, ein versonnenes, verspieltes Lächeln.

Man hielt sie für ein wohlerzogenes Kätzchen, für einen jener Geister, die Gefallen an der Unterwerfung, Anbiederung an stärkeren Willen fanden. Aber wo bislang Empörung darüber, Aufbegehren und Zorn gebrodelt hatten, war nun Ruhe. Klarheit. Denn die Wahrheit war simpel: Sie war es nicht. Ihre Sicherheit resultierte aus einem flüchtigem Moment, der kühlen Analyse, als sie vor eine weitere Wahl gestellt wurde. „Wählt den, der euch formen soll.“ Sie hatte der ersten Reaktion gelauscht, den Argumenten, die auf der gedanklichen Liste erschienen. Sorgsam geprüft, schonungslos beurteilt. Und wäre das lederne Band, Manifest einer ambivalenten Verbindung, der einzige Grund gewesen, um diese Wahl zu Gunsten des Gebers zu treffen, hätte sie ohne zu zögern den anderen Weg gewählt. Sie würde tun, was sie musste um zu lernen und voran zu kommen. Um stärker zu werden, ihr Potential zu nutzen.

Es war eine bewusste Entscheidung gewesen, die ihre Schritte durch die stickige Halle führten, sie erst in jenem respektvollen Abstand halten ließ, der den Meistern zustand. Nicht, weil ein Band zwischen ihr und jenem Mann existierte, dessen schattenhafte Gewänder jede Regung verbargen. Sondern weil sie seinen Ehrgeiz kannte. Seine Gier, voran zu schreiten, nach Wissen zu greifen, weil es Macht bedeutete – und damit Freiheit. Er würde sie voran treiben, sie lehren und wachsen lassen, weil es seinen eigenen Zwecken diente. Weil ihr Fortschritt auch sein Erfolg sein würde. Und wenn der Tag kam, an dem sie auf seine Ebene trat, würde sie ihn herausfordern. Sich jene Freiheit nehmen, die er selbst anstrebte. Und er wusste es, vertraute darauf das sie es tun würde. Es war eine skurile Art von Vertrauen – Vertrauen, dass der Gegner stark genug war, um an der Herausforderung zu wachsen und sie zu erwidern. Und bis zu diesem Tag würde sie ihre vielschichtige Beziehung genießen, würde Schülerin sein und..mehr, wenn sie es wollte. Sie würde sich die Fäden bewusst halten, die sie banden und zu lenken versuchten. Selbst wählen, welche notwendig waren, und welche sie aus eigenem Willen bestehen ließ – um Widerstand zu leisten, wenn es ihrem Ziel nützlich sein konnte. Den spielerischen Kampf, die Herausforderung zu genießen, ihre eigenen Grenzen zu prüfen. Und sie würde ihre eigenen Fäden knüpfen, ein Netz ganz nach ihrem Gutdünken entstehen lassen. Die Gefahr dieses Spieles war ihr bewusst. Jene die über Macht verfügten, konnten die Grenzen dieses Spieles nach eigenem Willen verändern, den Unterlegenen zum Spielzeug degradieren. Einem schlichten Objekt das man genoss und nutzte, dem man jedoch niemals mehr als Zweck zugestand. Aber gerade das war der Reiz daran, die Herausforderung. Es war ein Spiel, das sie wie eine Spirale weiter und weiter empor trieb, ihr neue Horizonte, neue Möglichkeiten eröffnete.

Und was war das Ziel, dass alle Qual wert war, alle Mühe die auf diesem Pfad lauerte?

Die Antwort war so simpel. So klar. Und sie öffnete ihr die Arme, akzeptierte sie in aller Ambivalenz und Konsequenz. Schwarzmaga. Sich beugen, um stark zu werden. Gehorchen, um herrschen zu lernen. Stolpern, um aufrecht zu gehen. Grenzen berühren, um frei zu sein. Die Gefahr schreckte sie nicht. Sie war bereit, in ihren eigenen Abgrund zu sehen und die Dunkelheit darin zu ergründen.
„Willkommen.“ sagte der Schatten. „Willkommen.“ wiederholte sie, und lächelte.


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 Betreff des Beitrags: Re: De Profundis
BeitragVerfasst: 15.09.08, 01:03 
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~ Evolution ~



Vier Wände. Ein klar abgegrenzter Raum, vom matten Schein einer Kerze erhellt. Die Türe in ihrem Rücken, die Sicherheit eines Schlosses. Dunkelheit vor der Öffnung des Balkons, die Illusion von leerem Raum. Das Gesicht von den Händen bedeckt, die vor kaum einem Jahreslauf noch schmutzig waren, rau und gezeichnet von ihrem Leben vor den Türen. Draußen zu sein war einfach gewesen. Die Einsamkeit kalkulierbar.

Schweigen.

Ihre letzte Zuflucht, die zerbrechlichste und endgültigste aller Möglichkeiten. Mit ihm kam die Kälte, die Einsamkeit, das Herz aus Eis. So verlockend, sich dieser Stille hinzugeben, sich nicht mehr berühren zu lassen. Jede Regung diszipliniert, funktionierend. Die Menschlichkeit aufzugeben, die doch nur schmerzte, in schwachen Momenten an ihr nagte. Das Herz in Eis zu kleiden war gefährlich, so hatte der Geist es genannt. Unausweichlich auf diesem Weg, und umso wichtiger, sich anderem zuzuwenden. Für einige Momente war es verlockend gewesen, sich diesem Gedanken hinzugeben. Den Duft jener Blume einzuatmen.

Für kurze Zeit die Illusion, ein normales Mädchen zu sein. Zu sein, was sie hätte werden können, gäbe es keine Gabe, die zugleich Fluch sein musste. Die Leichtigkeit eines Lebens in dem Sicherheit eingekehrt war, Zuversicht. Ihr Lächeln war so natürlich gewesen, unschuldig, unberührt von den Schatten. Vielleicht waren es diese kurzen Momente des Traums gewesen, der Illusion der Illusionslosen, die unweigerlich in diese Ödnis führen musste.

Und obwohl sie wusste, dass Tadschirim nicht recht hatte, nicht recht haben konnte, sehnte sie sich nach dieser vertrauensvollen Ruhe. Der Schmerz war körperlich, die Einsamkeit brannte unter ihrer Haut wie Eis. Der Wunsch eines Kindes, nach einfachen Bildern, nach simplen Entscheidungen. Bösewicht und Held, Schwarz und Weiß. Nach Liebe, die Wärme barg, der Blick in Augen die verstanden. Einer sanfte Berührung. Aber sie war kein Kind. Sie hatte lediglich die Wahl, sich zurückzuziehen, oder zu kämpfen. Und obwohl sie ihn dafür hassen wollte, diese so grausame Wahl für ein Machtspiel zu provozieren, fehlte die Kraft dazu. Sie war so müde in dieser Nacht, zugleich einsam und froh, niemanden um sich zu haben. Was er tat, war seine Natur, und das Ergebnis abzusehen. Er würde eine Widersacherin nicht akzeptieren. Der kühle Teil ihrer Selbst verstand. Der Rest nannte ihn überstürzt. Erfolgsverwöhnt. Knurrte wie ein Tier, dass sich in die Ecke gedrängt sah, zur ungeliebten Entscheidung genötigt.

Die einzige Freundin zu verraten, die ihr nahe war. Eine Verbündete in dieser Zeit, als die Ausbildung voll Schrecken war. Gewisperte Worte im Dunkeln, die einen grauenerregenden Ort wärmer scheinen ließen. Streit. Lachen. Liebe. Ein Mittelweg zwischen den Extremen, ein Lächeln wenn man es benötigte. Und weil es so war, würde sie versuchen, ihr einen letzten Freundschaftsdienst zu erweisen. Der gnadenvolle Tod, voll Ironie auf diesem Pfad, wo man nach allem greifen konnte, aber niemals Gnade erfahren würde.

Langsam begann die Erkenntnis zu sinken, welchen Preis dieser Weg forderte. Wie umfassend die Einsamkeit war, wie notwendig. Und umso weiter man empor stieg, desto mehr war es notwendig, sich gegeneinander abzugrenzen. Um andere zu lehren, musste man hart sein. Um gelehrt zu werden, musste man kämpfen. Und um zu kämpfen, musste man manchmal loslassen, was einem nahestand. Wärme gegen Macht. Freundschaft gegen Fortschritt. Ein schmerzhafter Tausch. Und damit die Erkenntnis, dass es keine Gnade gab. Alles was wahrhaft existierte, war der ewige Kampf. Und selbst der Tod barg nur Verdammnis, niemals aber Erlösung.


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