Einsiedler |
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Sie konnte unmöglich sagen, welcher Zyklus angebrochen war. Durch die schwere Metalltür drang kein Licht. Nur die kleine Kerze, die ihr gestern die Frau zurücklief brannte noch auf dem Tisch, so konnte sie wenigstens etwas in dem Raum sehen. Sie hatte damals in Rothenbucht die Zellen gesehen, schmutzig und eiskalt. Hier war es hingegen erträglich. Ein Korb mit frischem Obst, Wasser, einer kleiner Tisch, ein Stuhl und ein Bett.
Sie blickte hinüber zu dem Tisch, zu dem Korb mit Obst und seufzte. Ihr war der Appetit sichtlich vergangen. Sie verstand es nicht, warum sie hier war, aber andererseits war sie froh, dass sie in der Zelle war. Noch wandelte sie unter den Lebenden. Wie lange würde das wohl andauern? Und was war überhaupt geschehen? Sie hatte es nie verstanden, es stimmte etwas nicht mit ihr, ihre Erinnerungen verblassten immer wieder vor ihrem geistigen Auge und sie fühlte sich noch unwohler dabei. Die erste Nacht hatte sie, trotz Dunkelheit nicht schlafen können und selbst jetzt schaffte sie es nicht, die Augen zu schliessen. Zu groß die Angst, nicht mehr zu sich zu komen.
Es war immer öfters über sie gekommen, damals am Festland, in Rothenbucht. Sie erinnerte sich an nur wenige Fetzen, an Ausrisse aus ihrem Leben. Sie hatte im Waisenhaus gelebt, sie hatte angefangen auf dem Schloss zu arbeiten, zwischen all den Dienstmägden war sie nie etwas besonderes gewesen, nur gewöhnlich. Sie erinnerte sich, an die verhängnisvolle Nacht, die ihr Leben und die Hoffnung auf eine Familie zu nichte gemacht hatte. Sie öffnete die Augen und versuchte, nicht mehr an den Moment zu denken, als der junge Mann sie in seine Kammer zerrte, als sie sich gegen ihren Willen auf dem Bett wieder fand. Alles schreien, alles wehren hatte nicht geholfen, er war stärker gewesen. Und er hatte die Oberhand gehalten. Auch als sich Tornala für sie eingesetzt hatte, als der einzigen Person, die sich jemals für sie eingesetzt hatte, brutal das Leben genommen wurde, hatte sie stillschweigend zugesehen, was hätte sie auch tun können? Und dann? Sie hatte sich abgefunden, nicht mehr die Herrin über ihren Körper zu sein, verloren in den Gedanken an bessere Zeiten hatte sie es über sich ergehen lassen, sich bespucken und benutzen lassen. Irgendwann würden bessere Zeiten kommen, das hatte sie gewusst.
All das, was ihre Eltern ihr beigebracht hatten, in der wenigen Zeit, die sie miteinander hatten, verlernt. Sie mochte inzwischen nichtmal mehr Buchstaben richtig entziffern oder deuten. Wie eine Hülle kam sie sich vor. Und dann tauchten diese Stimmen auf in ihrem Kopf, immer und immer wieder. Voller Angst, was sie tun sollte, war sie vermummt in den Tempel, auf der Suche nach Hilfe. Weggejagt hatte man sie, hinaus in die kalte Welt, noch unwissender als vorher. Was danach passierte, für sie war es nur noch schmenhaft vor Augen gewesen. Sie erinnerte sich an die Nacht in der Kammer, sie hörte immer mehr Stimmen, danach hatte sie nur noch Fetzen vor Augen, spürte ihren Körper nicht mehr, fast wie im Traum sah sie, wie der Mann unter ihren Händen starb, wie seine Gedärme hervorquollen, wie sie sein pulsierendes Herz in den Händen hielt. Danach wurde es schwarz, sie fiel in einen tiefen Schlaf, erinnerte sich an nichts mehr. Die letzten Erinnerungen, die sie hatte, war ein schwarzgekleideter Mann, vermummt. Das lange Gewand fiel glatt an ihm hinab und sie, nackt und missbraucht im Dreck liegend, um sie herum Leichen, die Hände voller Blut.
Schwarz.
Nichts mehr. Als sie wieder zu sich kam, wankte der Boden unter ihr. Sie hatte ihren Blick zu Boden gerichtet, die Holzplanken unter ihr schaukelten hin und her. Auf einem Schiff? Was war geschehen? Warum hatte sie dieses Kleid an, warum war sie nicht mehr in Rothenbucht? Bestürzt blickte sie sich auf dem Schiff um, ein großer Drei-Master, die Matrosen zerrten gerade das Segel hinauf. Panik überkam sie. Es war ein warmer Tag, sie erinnerte sich zuletzt an Bellum, die Sonne brannte förmlich, als ob es schon Astrael war. Der Wind hatte ihr durch die Haare geweht, das schwarze Haar verdeckte ihre Augen kurz. Noch mehr Panik überkam sie, die Hand griff nach dem Haar, führte es vor ihre Augen und sie erstarrte. Dort, wo einst ihre blonde Pracht gewesen war, ihr ganzer stolz, befand sich nun pechschwarzes Haar. Zitternd riss sie sich eine Strähne aus dem Haar: Nichts. Kein Ansatz vom Blond. Düster, schwarz. Sie blickte sich verwirrt auf dem Schiff um, das Blut verließ augenblicklich ihren Kopf, sie schluckte schwer, als sie immer blasser wurde.
Aber in ihrem Kopf... da war Stille eingekehrt. Keine Stimmen mehr, kein Aufschreien in ihren Gedanken. Es war durch und durch ruhig geworden, niemand flüsterte ihr mehr grausige Sachen zu.
Torkelnd machte sie sich auf, hinab in den Bauch des Schiffes, sie polterte in irgendeine Kabine, ein kleiner Spiegel stand auf dem Tisch. Die Neugierdige überwog der Furch, als sie sich vor diesen kauerte. Das Gesicht blass, die Augen ebenfalls düster, das lange schwarze Haar fiel in Wellen hinab. Eigentlich hätte sie jetzt das Gesicht sehen sollen, anfang der 20 Astrael, voller Lebensfreude, oder zumindest das, was nach all dem übrig war. Aber nichts, dort war eine ältere Frau zu sehen. Sie war gealtert, ohne teil davon gewesen zu sein, vollkommen überfordert sackte sie vor dem Spiegel zusammen.
Schwarz.
Da stand sie nun, in Falkensee. Falkensee? Hieß so diese Stadt? Eigentlich erinnerte sie sich an wenig, aber daran erinnerte sie sich. Menschen grüßten sie auf der Straße, es war ein geschäftiges Treiben. Sie durchkramte ihre Beutel, ein kleiner Schlüssel. Zu einer Kammer? Ein Holzanhänger, eingebrannt ein paar Zeichen. Sie kannte diese Zeichen, es waren Buchstaben. Eiligst fragte sie einen Gardisten, der ihr zwar stirnrunzelnd, aber freundlich half. Als sie das Haus erreichte und betrat, stellte sie fest, dass es der Schlafsaal war. Und im oberen Stockwerk befand sich die Kammer. Das Herz bis zum Hals pochend schloss sie die Tür auf und ging hinein. Ein Bett, ein Tisch, beschriebenes Pergament. Wer lebte hier? Es kam ihr so vertraut vor. Leise schloss sie die Tür und verriegelte sie von innen, durchsuchte das Zimmer. Nichts. Frauenkleider, scheinbar alle in ihrer Größe. Auf dem Tisch erblickte sie einen kleinen Spiegel. Erneut ein Blick? Wollte sie dies riskieren? Sie musste es tun. Ruhig setzte sie sich vor den Spiegel, gefasst auf alles. Kleine Falten. Sie verzog das Gesicht augenblicklich. Krähenfüße. Wieviele Astrael waren vergangen, als sie sich zuletzt erinnern konnte? Sie blätterte durch das Papier, konnte aber nichts lesen. Wie konnte man Lesen nur verlernen? Sie ärgerte sich, sie wüsste gerne, was auf dem Pergament gestanden hätte.
Es war ihr Zimmer. 'Mein Zimmer?' - Ja, dein Zimmer.' Sie zuckte auf, als sie die Stimme in ihrem Kopf ihr antwortete, voller Furcht drehte sie sich herum, schloss die Tür auf und verschwand. Versuchte irgendwo zu sich zu kommen und nicht wieder in Ohnmacht zu fallen. Völlig unverhofft prallte sie mit einem Kistenstapel auf dem Marktplatz zusammen. Wem konnte sie davon erzählen? Wer würde ihr das alles glauben? Zwei Männer halfen ihr auf, einer von beiden hieß Janus. Er... war nett gewesen zu ihr. Sie hatte versucht so normal wie möglich zu sein, doch in ihrem Kopf kreisten die Gedanken immer noch. Wer bin ich?
In nebensächlichem Gespräch hatte sie erörtert, dass sie eine Stelle suchte. Suchte sie eine? Wahrlich? Oder hatte sie eine? Und was geschah mit ihr, wenn sie nicht bei vollem Bewusstsein war? Er half ihr einen Aushang zu schreiben. Das war gut, irgendwie. Sie hatte Kuchen dabei und fing an zu plaudern, die Worte entglitten ihrem Mund fast automatisch. Was tat sie hier? Ein normales Gespräch? Ihr fehlten ganze Astraelläufe in den Gedanken und sie plauderte? Vielleicht würde sie so etwas mehr Herrin ihres Geistes.
Zyklenlang war sie danach wach geblieben, bloß nicht einschlafen, bloß wach bleiben, nichts tun. Zu spät. Doch als sie wieder zu sich kam, erwachte sie immer noch in ihrem Bett. Ein beruhigendes Gefühl. So ging es mehrere Zyklen, immer war sie klar, ihr Leben zurück, sie wusste nicht, warum sie auf Siebenwind war. Aber hier war es angenehm. Immer wieder erkundigte sie sich, ob es irgendwo eine Anstellung gab. Nichts hörte sie. Vielleicht gab es in Seeberg neues. Doch auf den Weg dorthin geschah es wieder... sie taumelte auf der Brücke, es wurde schwarz vor Augen, dann zuckten Blitze, das sah sie noch, es donnerte um sie herum, sie wollte laufen, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht.
Schwarz.
Sie kam zu sich, taumelnd auf den Weg hinein nach Falkensee. Der Name hatte sich in ihren Kopf gebrannt. Sie kannte die Menschen, die sie sah. Ein vertrautes Gefühl, aber auch ein vollkommen unbekanntes machte sich in ihr breit. Und warum schmerzte ihr Arm so? Blut. Alles voller Blut. Ihr Arm blutete wie verrückt, ihr Kleid ebenfalls, voller Blut. Sie torkelte die Gasse entlang, auf den Marktplatz. Jemand hatte sie angegriffen, sie erinnerte sich. Eine Person, es war so schnell gegangen, irgendetwas auf der Brücke.
Angst, immer mehr Angst hatte sie. Man versorgte sie, man behütete sie, aber sie selber verlor die Kontrolle. Die Kontrolle über ihren Geist, immer wieder sinnierte sie, über die verlorene Zeit und versuchte zu ergründen, was mit ihr geschah. Jemanden davon erzählen? Niemals, die würden sie für verrückt erklären oder für eine Dienerin des Einen. Sie kannte dies schon aus Rothenbucht.
Schwarz.
Und dann war es wieder geschehen nur kam sie diesmal nicht zu sich in irgendeiner Kammer, auf einer Bank oder auf einem Schiff. Sie befand sich in einer Zelle, voll mit Blut, es roch streng nach Urin. Ihr Mund schmeckte nach Blut, ihr Gesicht schmerzte überall. Die Beine, beide Fußgelenke weggeknickt wie Streichhölzer, die Kleidung blutverschmiert, der Kopf dröhnte. Sie begann zu weinen, an die Tür zu hämmern. Sie verstand Tare nicht mehr. Was ist hier nur los? Warum hatte man sie so behandelt? Und was war das für ein Metallkragen? Er schmerzte so fürchterlich, das Metall, an den Kanten scheinbar nicht sauber entgratet, schnitt ihr in den Hals, hinterließ kleine blutigen Strähnen. Es war ein unerträgliches Gefühl.
Noch weniger verstand sie, als Gardisten die Tür aufzerrten, sie packten und fesselten. Grimmig blickten alle zu ihr, selbst Gardisten, die sie vor kurzem kennengelernt hatte, schienen sie voller Wut und Hass anzustarren. Viele Menschen standen dort, mit großen Stäben in den Händen, komischen Hüten auf den Kopf auch ein paar Geweihte waren dort, alle musterten sie mit abfälligen Blicken. Tränen füllten sich in ihren Augen, ihr Gesicht brannte wie feuer. Die Beine hingen leblos hinab. Immer wieder hörte sie Getuschel, das Wort Ketzer viel zu häufig, als dass sie es verkraften könnte.
In der Zelle hatte man sie versorgt, sie verbunden. Aber fast alle waren auf Distanz gewesen zu ihr, sie hatte nicht ganz verstanden, was geschehen war. Sie solle Skelette auf die Gardisten gehetzt haben? Warum? Sie? Was tat sie hier nur?
Ihr Blick ruhte auf der Tür, immer noch kein Appetit oder Durst. Die Haare noch verklebt von Blut, das Hemd zwar sauber, doch darunter eingetrocknet das Blut auf ihrem Oberkörper. Ob man sie baden lassen würde? Und was hatte es mit diesem Kragen auf sich, der so schwer auf ihren Oberkörper drückte? Sie wollte Fela sehen, in der Sonne sitzen. Und gerne nicht in dem Zyklus, in dem man sie zum Galgen führte. Sie musste die Leute überzeugen, dass sie nichts böses im Schilde führte. War dem so? Sie konnte nur für ihren kleinen Teil sprechen, aber irgendwie spürte sie, dass in ihr noch ein anderer Teil schlummerte. Und der war gefährlicher, als sie es sich wahrscheinlich ausmalen konnte.
Zuletzt geändert von Mysterion: 24.08.11, 13:31, insgesamt 1-mal geändert.
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