„Bringt Eure Toten raus.“
Baron Rha
Der Wall fiel.
Mit einem ohrenbetäubenden Gebrüll ging der Körper des Riesen, einer wahrhaft massigen Gestalt die kaum in das Torhaus des Falkenwalles zu passen schien zu Boden, fast zwei Kämpfende unmittelbar neben ihnen mit sich reißend. Der Löwe der zusammen mit ihr den Riesen zu Fall gebracht hatte wandte sich dem nächsten Gegner im Überfüllten Torhaus zu, während Pharalis nur mühsam den Schlag eines Trolles mit ihrem Schild abwehren konnte.
Der Wall fiel. Einen Tag länger als im Vorjahr hatten sie ihn gehalten, und doch war die Ähnlichkeit des Moments kaum abzustreiten. Als die Zugbrücke endgültig versagte, waren die Fluten der Kreaturen des Ungenannten ihnen entgegen gebrandet, in das Torhaus, und für jeden geschlagenen Gegner schienen zwei neue dazu zukommen.
Gebrüll und Schlachtrufe mischten sich mit Schmerzensschreien und magischen Formeln mit denen einige Magier den Lärm zu übertönen suchten, die Schreie von Orken und Menschen vereinten sich mit jenen von Trollen, Riesen, Harpyien und Gargoyles.
Mit dem Schild stieß Pharalis eine Harpyie zur Seite ohne ihr viel Beachtung zu schenken, holte mit dem Schwert aus und stach es einem der lebenden Skelette zwischen die Rippen um auszuhebeln und sich bereits dem nächsten Gegner zuzuwenden während die Knochen des Skelettes allen Halt verloren und reglos in sich zusammenfielen.
Es wurden immer mehr Gegner. Sie zwängen sich durch die ausgerissene Ausfalltüre oder kamen von vorn, und immer mehr Kämpfer der eigenen Reihen schienen im Kampfgeschehen zu straucheln und in den Massen an Kreaturen zu verschwinden. Irgendwo läutete eine Glocke.
Nimm das Pferd mit, war Pharalis' erster Gedanke als der Ruf zum Rückzug sich über den Lärm erhob. Sie hatte letztes Jahr ihren treuen Fuchs fast verloren, als der Rückzug über den Nordturm des Walles verhinderte, zu den Pferden zu gelangen, dieses Jahr würde das nicht passieren.
Und plötzlich stand diese Gestalt wieder im Torhaus.
„BRINGT EURE TOTEN RAUS!“ Die laute, krächzende Stimme bezwang selbst den Lärm des letzten Kampfes. Fast zeitgleich wiederholte sich der Ruf zum Rückzug. Aus dem im Büro des Walles errichteten Lazarett wurden, gedeckt von einigen Kriegern, die Verwundeten durch den Torraum gelotst, während sich draußen vor dem Wall Mensch wie Ork, Schattenjäger wie Stadtwache, sammelte, um sich zurückzuziehen nach Falkensee.
Unter einem fallenden Riesen in letztem Moment hindurchtauchend sah Pharalis die seltsame Gestalt die, gehüllt in eine finstere Robe mit einem unheilvoll wirkenden Zweizack in der Hand durch das Kampfgetümmel schritt, als bemerke sie es kaum. „BARON RHA HOLT SICH DIE TOTEN!“
Ein ganzer Schwarm Harpyien stürzte sich von der Westseite des Walles herab auf Fliehende und letzte Verteidiger, und plötzlich blieb die unselige Gestalt stehen, geradewegs vor Ritter Fedral Lavid, inmitten des Torhauses, als einer der verbleibenden Trolle sich Pharalis' Unachtsamkeit zu Nutzen machte. Ein harter Schlag gegen die linke Schulter ließ sie zu Boden gehen, und als sie sich mühsam aufrappelte und sich an der Seite eines Schattenjägers – verflucht sollten sie sein, aber Halgars Befürchtung immerhin hatte sich nicht bewahrheitet, und kämpfen konnten sie – des Trolles entledigte, krächzte die Stimme der seltsamen Gestalt wieder über den Kampflärm. „DU!“ geiferte sie, vor Ritter Lavid verharrend, „DU GEHST ZU DEN TOTEN!“
Mehr und mehr Kämpfer verließen das Torhaus, und Pharalis' Blick ging suchend umher. Gardist Telan Pharell erwehrte sich in einer Ecke des Torhauses eines letzten Gargoyles, während mitten im Torhaus Ritter Lavid und jene seltsame, unselige Kreatur, 'Baron Rha', verblieben, Stab gehoben gegen das Schwert des Ritters, Stimme erhoben gegen Stimme.
„BARON RHA HOLT SICH DIE TOTEN! DU BIST DES TODES!“
Mehr Harpyien drangen von der Grünlandseite des Walls in das Tor ein, während immer weniger Kämpfer der eigenen Reihen dem noch entgegen standen. Der Wall war gefallen. Wer nun nicht mehr hinauskam, der war des Todes. ...und wer an Dunkeltief starb...
„Sire!!“ rief Pharalis über den Kampflärm hinweg nach hinten, den Blick nur kurz zu Rha und Lavid wendend, ehe die scharfen Klauen zweier Harpyien ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorn lenkten. Dumpfer Schmerz pochte in ihrer Schulter und lies ihren Schildarm lahm werden, während ein letzter anderer Krieger das Torhaus verließ.
Ein weiterer Blick über die Schulter, zu Ritter Lavid, als das Geschehen viel zu plötzlich seinen Lauf nahm und sie erstarren ließ. Der Zweizack der Kreatur traf den Ritter, das Schwert des Ritters trennte dem Baron eine Hand ab, von irgendwo krachte ein Blitz herab, der Ritter wurde durch das Torhaus geschleudert und kam irgendwo auf, und wieder dröhnte der Ruf nach den Toten durch das Torhaus.
Von irgendwoher tauchte Telan auf, eine Harpyie zu Boden reißend, ehe ein lauter Schrei Ritter Lavids Pharalis loslaufen ließ. Wenig elegant knallte sie einem dunklen Skelett ihren Schild vor den Körper, erreichte den Ritter, der in einer zunächst kleinen, doch größer werdenden Lache aus Blut am Boden vor Rha lag.
Pharalis schüttelte ihren Schild vom immer lahmer werdenden Arm irgendwo auf den Boden, scheidete die Klinge und griff kurzentschlossen und nicht sonderlich sanft nach dem ersten Arm Lavids den sie erwischte, zerrte ihn hoch und fasste den leblosen Körper unter die Arme. Ein neuerlicher Vorstoß der Waffe der dämonischen Kreatur traf Lavid, während Pharalis wie gehetzt versuchte, den Ritter ins Freie zu ziehen.
Telan deckte in letzter Anstrengung ihren Fluchtweg, als die Kreaturen des Einen sich über den ganzen Wall zu verteilen schienen.
Der plötzliche Stoß der Pharalis traf ließ sie stolpern. In der Verzweifelten Bemühung, sich zu fangen, ohne den Ritter fallen zu lassen, verdrehte sich ihr rechtes Bein seltsam und sackte für einen Moment mit einem stechenden Schmerz im Knie unter ihr weg.
Dieses Jahr kommst du nicht mehr aus dem Wall raus, schoss ihr durch den Kopf als sie taumelte, am Rande ihres Blickfeldes wahrnahm wie Telan eine Harpyie im Sturzflug zurückfocht, und es irgendwie schaffte, Ritter Lavid mit sich die Rampe des Walles herab ins Grünland zu ziehen.
Erst ein ganzes Stück weiter, als Ritter Laske und Gardemeister Gropp ihnen entgegenkamen und sich einige Löwen und andere Krieger gesammelt hatten, ließ sie los. Der Hochmeister des Falken plumpste in den Schnee, umgehend rote Blutspuren hinterlassend. Erschöpft lies Pharalis sich daneben fallen, als ihr Bein neuerlich den Dienst versagte.
Wie konnte ein einzelner Mensch nur so viel Blut verlieren. Stummes Entsetzen lag in Pharalis' Blick während sie beobachtete, wie verschiedene Leute um Ritter Lavid herum standen, ein Magier versuchte ihn zu heilen, und aus Richtung des Walles das Kreischen der Harpyien drang.
Vielleicht hätte sie die Gefahr für Ritter Lavid eher bemerken müssen. Statt einen sinnlosen Kampf mit den stetig nachströmenden Kreaturen zu führen, hätten die zu dem Zeitpunkt verbliebenen Kämpfer Baron Rha vielleicht in die Flucht schlagen können. Aber nun war es zu spät für derartige Überlegungen, und alles was ihr übrig blieb war zu beten, daß Vitama ein Einsehen hatte.
Mein Pferd ist noch am Wall, schoss es ihr durch den Kopf. Zacharias' „Ich hols,“ unmittelbar neben ihr ließ sie erst bemerken, daß sie es laut ausgesprochen hatte, während Rias schon zurück in Richtung Wall verschwunden war.