Der Heiler
Übermüdet blickte Haras hinüber zu der Uhr an der Wand des Bereitschaftraums. Er hatte heute freiwillig die Nachtwache übernommen und sehnte sich so langsam nach seinem Bett. Doch bis dahin war es noch fast einen Zyklus hin. Gähnend rieb er sich über sein Gesicht und schrieb an seinem Bericht weiter. Vor kurzem war eine Magd ins Hospital gekommen. Ihr Herr hatte sie mitten in der Nacht aufgeweckt und verlangt das sie ihm eine Gemüsesuppe kochte. Dabei hatte sie sich vor Müdigkeit in den Finger geschnitten. Es war nichts großes gewesen und trotzdem hatte Haras drei Versuche gebraucht bis der Verband richtig saß. Er ärgerte sich darüber. Normalerweise passierte ihm so etwas nicht. Als er den letzten Punkt in den Bericht gesetzt hatte, klappte er erleichtert die Mappe zu und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er fragte sich, welche Nächte wohl schlimmer waren: Jene in denen gar nichts passierte oder jene in denen es Drunter und Drüber ging. Heute war definitiv eine der Nächte vom ersten Typ und wenn er zurück dachte empfand er sie nicht als sehr angenehm. Andererseits bedeuteten ruhige Nächte zumindest das niemand verletzt oder krank wurde. Zumindest hatte man in unruhigen Nächten nicht so mit der Müdigkeit zu kämpfen. Oft stand man dann die ganze Zeit unter ordentlichem Stress. So wie vor einem dreiviertel Jahr, als einer der Kontore am Hafen gebrannt hatte. Mehrere Arbeiter waren unter dem einstürzenden Dach begraben worden. Die ganze Nacht über kamen neue Verletzte herein: erst die Unglücklichen mit den Brandverletzungen, später jene mit Rauchvergiftungen. Damals waren alle Heiler aus dem Hospital die ganze Nacht hindurch beschäftigt gewesen und trotzdem hatten sie nicht alle Verletzten retten können. Am nächsten Morgen waren sie alle zu Tode erschöpft gewesen. Zum Glück kamen einige Diener Vitamas aus dem Tempel herüber und nahmen ihnen so viel Arbeit wie möglich ab. Er musste wohl eingeschlafen sein, denn als er durch eine kräftiges Schütteln an seiner Schulter wieder erwachte, fand er seinen Kopf auf seinen Armen wieder. Blinzelnd hob er seinen Blick und sah in das pickelige Gesicht eines jungen Rekruten der Wache. „Oh, Vitama sei Dank, ihr seid wach Herr!“ „Wssn?“, murmelte Haras verständnislos. „Schnell, ihr müsst mit kommen, die Wache fordert einen Heiler an!“ Gähnend rieb sich der eben erst so unsanft Geweckte über sein Gesicht und blickte hinüber zu der Uhr. Verflucht, noch immer nicht Zeit für die Ablösung. Also würde er sich wohl darum kümmern müssen. Seufzend erhob er sich von seinem Stuhl und griff nach seiner bereitliegenden Heilertasche. „Dann bringt mich mal hin, Rekrut.“, meinte er und beendete den Satz mit einem weiteren herzhaften Gähnen. Der junge Rekrut spurtete sogleich los und Haras hatte Mühe ihm zu folgen. Erst eine Straßenkreuzung weiter hatte er ihn eingeholt. „Wo gehen wir denn hin?“ „In das Rotlichtviertel am Hafen.“ „Mhm… gab es eine Kneipenschlägerei?“ „Nein.“ „Bei Vitamas Lieblichkeit, nun lasst euch doch nicht alles aus der Nase ziehen, Rekrut. Warum fordert die Wache mitten in der Nacht einen Heiler an? Wurde ein Wächter niedergestochen?“ „Nein, kein Wächter. Eine Hafendirne.“ „Ist sie noch am Leben?“ „Nein, Herr.“ „Warum werde ich dann gerufen? Ich kann Tote nicht auferstehen lassen.“ Der Rekrut warf ihm einen missbilligenden Blick zu und zitierte dann offenbar aus irgendwelchen Vorschriften. „Vorschrift 87, Absatz 3: Im Falle des Fundes eines leblosen Körpers, unabhängig von Rasse, Stand oder Geschlecht, ist ein Heiler hinzu zu ziehen, der die Todesursache feststellt.“ „Aha.“ Mehr fiel Haras darauf nicht ein, aber sie bogen ohnehin in diesem Augenblick um eine Straßenecke und stießen auf eine Gruppe von Wächtern und einem bedrückt dreinblickenden Mann in schäbiger Kleidung. Er war damit beschäftigt auf einen der Wächter einzureden, der sich als der Waibel vom Vortag entpuppte. „… ganz schlecht für das Geschäft! Wer wird denn nun noch in mein auserlenes Gasthaus kommen? Und das alles ist nur die Schuld der Wache! Würde sie dieses Viertel nicht so vernachlässigen, wäre das nicht passiert.“ „Höre mal zu … Pawel, nicht wahr? Der Wache ist dein schäbiges ‚Gasthaus‘ vollkommen egal. Hier wurde eine Frau ermordet. Zwar handelt es sich bei ihr, wie du sagst, nur um eine Hure – und davon gibt es wahrlich genug in dieser Stadt – aber trotzdem müssen wir diesem Fall nach gehen. Außerdem wissen wir beide doch sehr genau, dass sich in zwei oder drei Tagen niemand mehr an sie oder diesen Vorfall hier erinnern wird. Und wenn du dich weiter beschwerst und damit die Ermittlungen behinderst, überlege ich mir dich auf die Liste der Verdächtigen zu stellen.“ „Ich habe euch diesen Fall gemeldet! Warum sollte ich das tun, wenn ich sie umgebracht hätte?!“ „Na ich weiß nicht. Vielleicht dachtest du ja, dass wir genau so denken würden.“ Die Fassungslosigkeit stand dem Gasthausbesitzer ins Gesicht geschrieben. Statt etwas zu antworten, machte er auf dem Absatz kehrt und eilte in sein Haus zurück. Haras musste eingestehen, dass das Gasthaus tatsächlich ziemlich schäbig aussah. Aber damit passte es gut in die Gegend. Der Rekrut eilte zum Waibel. „Ich melde mich zurück, Waibel! Ich habe einen Heiler gefunden und mitgebracht, wie ihr befohlen habt, Waibel!“ Der Angesprochene speiste den Rekruten mit einem Nicken ab und wandte sich nun Haras zu. Der Rekrut hatte sich wohl wenigstens ein Lob erhofft, denn er schlürfte mit hängenden Schultern zu seinen Kollegen hinüber. „Ah… mhm… wir kennen uns, oder? Ward ihr nicht der Heiler, der diese Diebin entkommen ließ?“ „Ich ließ sie nicht entkommen, Waibel. Ich konnte ja nicht wissen, dass die Wache gegen sie ermittelt.“ „Wenn ihr das sagt.“ Der Waibel gab sich nicht einmal Mühe seinen Unmut zu kaschieren. Offenbar hatte es ihn ziemlich mitgenommen eine Diebin entkommen zu sehen, die sich eigentlich schon in der Obhut der Wache befunden hatte. Vielleicht hatte sich ja auch der „hoch angesehene Schmied“ bei seinem Vorgesetzten beschwert. Diese Vorstellung ließ die schlechte Laune von Haras mit einem Mal verfliegen. Mit Mühe unterdrückte er ein Lächeln. „Was kann ich für euch tun, Waibel?“ „Hat der Rekrut euch nicht vorbereitet?“ Der Waibel warf einen bösen Blick zum Rekruten hinüber, der daraufhin leicht zusammenzuckte und schnell den Blick abwandte. „Er hat mir das wichtigste erzählt. Das die Wache die Hilfe eines Heilers anfordert, weil eine tote Frau gefunden wurde. Das es sich bei dieser Frau um eine Dirne handelt und das dies laut irgendeiner Vorschrift in so einem Fall üblich sei. Laut dieser Vorschrift soll ich scheinbar die Todesursache feststellen. Allerdings entdecke ich hier keine Leiche.“ „Sie ist dort drüben, unter der Decke.“ Der Waibel deutete hinüber zu einem Schatten am Boden, nahe der anderen Wächter. Haras konnte ihn im trüben Licht des beginnenden Morgens erst jetzt als Decke ausmachen, unter der ganz offensichtlich eine Person lag. „Darf ich?“ „Dafür seid ihr da.“ Der Heiler ging zu der Decke hinüber und schlug sie beiseite. Er konnte nicht viel erkennen, außer den schemenhaften Umrissen einer Frau. „Kann ich eine Lampe haben?“ Einer der Wächter kam seinem Wunsch nach und reichte ihm eine der Lampen, die zur Standardausrüstung der Nachtwache gehörten. Nachdenklich betrachtete Haras die Tote. Sie hatte rote Haare und ihre Kleidung wies sie eindeutig als jemanden vom horizontalen Gewerbe aus. Viel erstaunlicher war aber der Anblick der Arme. Jemand hatte fein säuberlich die Ärmel der Bluse abgetrennt. Die nackte Haut darunter war über und über mit Runen bedeckt, die in die Haut geritzt worden waren. Eine erste Untersuchung des Rests ihres Körpers brachte keine weiteren Verletzungen zu Tage. Allerdings fand er an ihrem Hals eine kleine Schnittwunde. Sie hatte nicht sehr stark geblutet und war nicht tödlich gewesen, aber sicher auch nicht angenehm. Außerdem fand er unter den Fingernägeln der Frau recht viel Dreck. Das war ungewöhnlich für ein Freudenmädchen. Normalerweise achteten sie sehr auf ihr Aussehen. Er musste also erst vor kurzem an diese Stelle gelangt sein. Vielleicht hatte das Opfer versucht von ihrem Peiniger davon zu kriechen? An den Fingern ihrer linken Hand zeigte sich außerdem ein wenig eingetrocknetes Blut. Haras wollte seine Entdeckung gerade dem Waibel mitteilen, da ertönte eine sanfte Stimme. „Der Mutter zum Gruße, meine Herren.“ Die Stimme gehörte zu einem älteren Diener Vitamas, der zu den Wächtern hinzu getreten war. Das Auftauchen des Geweihten schien dem Waibel gar nicht zu passen, denn sogleich vertrat er ihm den Blick auf die Tote. „Ehre dem Grafen, euer Gnaden. Bitte verzeiht, aber hier verlaufen Ermittlungen der Wache. Bitte geht weiter, eure Hilfe wird nicht benötigt.“ „Das sehe ich aber anders, Waibel.“ Wie ein Aal schob sich der Geweihte an dem Wächter vorbei, dessen Laune sich daraufhin merklich noch weiter verschlechterte. Den Geweihten schien das nicht weiter zu stören. „Diese Frau dort – Morsan sei ihrer Seele gnädig – weißt deutlich die Spuren eines Ritualmordes auf. Oder wollt ihr mir erzählen, dass ihr die Runen auf ihrem Arm nicht seht?“ „Ich sehe sie, euer Gnaden.“, bellte der Wächter hinter zusammengekniffenen Zähnen hervor. „Und ich muss euch doch wohl nicht an die Vorschriften der Wache erinnern, oder, Waibel? Ich glaube es ist Vorschrift 87, Abschnitt 4, in der es heißt: Besteht Grund zu der Annahme, das der leblose Körper durch Diener des Ungenannten zu Tode gekommen ist, obliegt die Aufklärung der Kirche. In diesem Fall ist der Leichnam umgehend an einen Vertreter der Kirche zu überstellen.“ Noch immer lächelte der Geweihte und fügte hinzu: „Vielleicht war euch dieser Teil der Vorschrift ja auch nicht mehr geläufig, denn ansonsten hättet ihr ja gewiss sofort einen Geweihten hinzugezogen und nicht erst einen übernächtigten Heiler aus dem Hospital kommen lassen, nicht wahr?“ Der Farbe nach zu urteilen, die das Gesicht des Waibels inzwischen angenommen hatte, würde es gleich einige Arbeit für den ‚übernächtigten Heiler‘ geben, dachte Haras. Andererseits hatte der Geweihte scheinbar Recht. Und warum kümmerte es ihn überhaupt? Er war Todmüde – welch passender Begriff – und hatte keine Lust zwischen die Fronten der Wache und der Kirche zu geraten. Also trat er von dem Leichnam zurück. Scheinbar hatte der Waibel aufgegeben, denn er sagte nichts, als aus dem Schatten zwei Anwärter mit einer Barre heraustraten. Sie betteten den Leichnam auf ihr, bedeckten sie wieder mit der Decke und trugen sie davon. Der Geweihte verabschiedete sich mit einem freundlichen „Die Mutter mit euch, meine Herren.“, und folgte seinen Helfern. „Braucht ihr dann noch meine Hilfe, Waibel?“, fragte Haras schließlich als er überzeugt war, dass der Wächter nicht gleich den ersten Grund zum Anlass nehmen würde ihn in der Luft zu zerreißen. Als Antwort erntete er nur ein Kopfschütteln und ein tiefes Brummen. So griff der Heiler seine Tasche und machte sich auf den Rückweg zum Hospital. Er war noch nicht sehr weit gekommen, als er hinter sich einen lautstarken Fluch hörte. Daraufhin rannten an ihm zwei erschrockene Katzen vorbei. Aber aber, wenn das seine Gnaden hört, dachte Haras lächelnd. In Gedanken kehrte er nochmals zu der Toten zurück. Von den Runen verstand er nichts, aber was hatte es mit diesem Schnitt auf sich? In seinem Hinterkopf schien etwas um seine Aufmerksamkeit zu betteln, aber er war zu Müde um herauszufinden was das war. Er wusste eigentlich nur, dass er jetzt in sein Bett wollte. Und in eben jenes fiel er wenig später, nicht ohne einen seiner Kollegen vorher noch zu wecken.
Am Nachmittag erwachte er. Im Bereitschaftszimmer waren mehrere Stimmen zu hören. Schlaftrunken rutschte Haras aus seinem Bett und streifte sich seine Kleidung über. Nebenan fand er seine drei Kollegen und eine ältere Magd, die heiß miteinander diskutierten. „… niedergeschlagen hab’n sie ihn, einfach so!“, ereiferte sich die Magd gerade. Als sie Haras bemerkten, richteten sich alle Augen auf ihn. „Du hast vielleicht etwas verpasst, Haras!“, meinte Relano. „Stell dir vor, man hat einen Geweihten und zwei Anwärter Vitamas überfallen und bewusstlos geschlagen! Und dann hat man ihnen auch noch den Leichnam gestohlen, den sie gerade zur Krypta bringen wollten! Das waren sicher die Diener des Einen, sag ich dir. Und vor nicht mal einem Zyklus ist dann ein alter Schuppen am Stadtrand niedergebrannt. Irgendeine arme Seele muss es erwischt haben, aber viel ist von ihr wohl nicht mehr übrig gewesen. Vermutlich ein Landstreicher, denn der Schuppen stand eigentlich leer…“ Zufälle gibt’s, die gibt’s gar nicht, dachte sich Haras und ging sich erst einmal einen Tee kochen.
_________________ Benion - vita et amor - Pater Brown Verschnitt, Häretiker und Lord der Vitamith - Geburtshelfer: 8 mal - Ehejahre-Rekordhalter Querdenker aus Leidenschaft.
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