Waren es zwei Stunden? Oder vielleicht drei? Er vermochte es nicht mehr zu sagen. Nur eines wusste Cendaric in dieser kurzen, zäh fließenden Zeitspanne zwischen wenigen, müden Augenaufschlägen nur zu gut - die Götter hatten den Menschen für lange Nächte an Schreibtischen nicht erschaffen. Zumindest nicht ihn. Und der rastlose, von drückender Müdigkeit erzwungene Schlaf in einem unbequemen Stuhl, das kraftlose Haupt in Berge an Papier gebettet, war ganz sicher seine Sache nicht. Kriege werden nicht an Schreibtischen gewonnen und Schlachten nicht mit dem Federkiel entschieden, dröhnte es matt irgendwoher aus der Tiefe seines noch schlafklammenden Verstandes. Langsam, fast scheu hob er den Kopf, wandte ihn vorsichtig bald hierhin, bald dorthin. Um ihn herum: Trügerische Dunkelheit, der sanfte Geruch verloschener Wachskerzen hing noch im Raum, kaum noch vernehmbar. Und Kälte. Nachtkälte, der das verglimmende Holz in den Öfen nichts entgegenzusetzen hatte. Ein Lächeln legte sich über seine Lippen. Nichts. Als koste es ihn unendlich viel Kraft, langte er mit der rechten Hand nach dem angeschrammten Holzbecher, der wie ein trotziger Turm inmitten einer schneefarbenen Ödnis aus Pergament aufragte. Leer, natürlich. Es war eine lange Nacht. Langsam drängten die letzten Stunden, Tage wieder vor seine Augen. Dunkeltief... der Wall... die Gräben... das Lager. All das hatte an seinen Kräften gezehrt, mehr als ihm lieb sein konnte. Geschwächte Truppen ziehen nicht in die Schlacht. Sie ziehen in den Tod. Wieder ein Gedankenfetzen aus einer fernen, fast unwirklichen Zeit, der sich in seinen behäbigen, nachtschweren Gedanken festkrallte. Unerbittlich wie ein ausgedorrtes, wildes Tier an einem Fetzen frischen Fleisches.
Schwerfällig drückte er sich hoch. Im Ordenshaus war es totenstill. Blaues Zwielicht, graue Schemen, fahles Licht sickerte durch die Fenster und warf groteske Schatten in das Büro. Einige Getreue mochten in den Kellerräumen tief schlafen, andere waren am Wall, durchsuchten das Lager nach Spionen, von denen es in den letzten Tagen nur so zu wimmeln schien. Sie spüren unsere Schwäche, riechen unsere Angst. Seine schlaftrunkenen, schweren Augen glitten langsam auf den Schreibtisch herab. Auf dieses winzige Schlachtfeld, übersät mit Schreibgeräten, Pergament, Notizblättern, Briefen. Es fehlten einzig noch das Wimmern der Verwundeten, die Todesschreie, der süßliche Wind der Verwesung und das schmatzende Geräusch der Krähen, die wie schwarze Könige durch die Leichenberge stolzierten und gierig das von Menschenhand bereitete Blutmahl genossen. Dieses Schlachtfeld war... anders. Er hatte die Nacht durchgearbeitet. Die Diskussionen am Wall waren nach und nach flirrend durch seinen Kopf gerauscht. Die Ritter, die Richterin, Eredar, Hadrian, Akora, Zora, Wolfgang. Die Stimmen hallten nach, die Meinungen, die Einwände, die Zweifel. Er wollte es aufschreiben, festhalten. Er wollte nichts dem Zufall überlassen. Er durfte nichts dem Zufall überlassen. Man verließ sich auf ihn, seine Ordensbrüder, seinen Orden. Es war ihre Aufgabe. Der größte Feldherr aller Zeiten wird Zufall genannt. Ein bitterer Geschmack erfüllte seine Zunge, breitete sich kriechend in seinem trockenen Mund aus. Er hatte stundenlang geschrieben, bis ihm die rechte Hand elend schmerzte. Er hatte den grauweißen Federkiel, dieses sanfte, tödliche Schwert, zu hassen gelernt. Immer wieder. Sein Vater hatte seine Fehden bevorzugt damit ausgetragen. Spitze Feder und dunkle Tinte waren jedoch niemals Cendarics bevorzugte Waffen gewesen. Allein es half nichts. Schreiben, lesen, durchstreichen, umschreiben, neuschreiben, lesen, durchstreichen... die Zeit rann schier zwischen seinen Fingern dahin wie der feine, goldgelbe Sand der endophalischen Wüsten. Und wofür? Zu welchem Zweck? Er hatte versucht, seine Gedanken festzuhalten, auf das geduldige, mattbraune Pergament zu zwingen. Doch gerade in dieser Form offenbarten sich nurmehr ihre Schwächen, zeigte das Unbedachte seine hässliche Fratze, taten sich unerbittliche Leerstellen, Spekulationen, Annahmen auf.
Hatte er zumindest das Wichtigste bedacht? Wieder so ein Gedanke, der dem verzweifelten Griff nach dem rettenden Seil glich, während sich unter den eigenen Füßen endlose, pechschwarze Abgründe auftaten. Mit unruhigen Schritten umrundete er den Tisch. Ihm fröstelte, Cendaric drückte diese Empfindung jedoch beiseite, zwang sich, nicht zu frieren. Der Gegner auf dem Schlachtfeld ist nicht dein größter Feind. Dein größter Rivale ist der Selbstzweifel. Niemand anderem sah er sich in diesem stillen Moment so schutzlos gegenüber. In wenigen Stunden würde das Konvent beginnen. Der Ordensmeister musste Selbstsicherheit ausstrahlen, entschlossene Siegesgewissheit, trotzige Zuversicht. Cendaric jedoch musste darauf hoffen. Nein, daran glauben. Unsicherheit, Schwäche, Zweifel - all das waren vergiftete Todsünden, die jedoch ein jeder Krieger nur zu gut kannte. Kennen musste, wenn er Morsan nicht in jungen Jahren gegenüberzutreten wünschte. Fluch und Segen liegen nahe beinander. Er seufzte schwer und ließ sich wieder kraftlos in den Stuhl sinken. Vielleicht sollte er sich ein Bett suchen. Oder ein Fell. Irgendetwas. Jedenfalls keinen Schreibtisch. Erst als er seine beiden Hände hob, bemerkte er im fahlen Zwielicht das leichte Zittern. Er schloss die Augen und um ihn herum war wieder schwere, drückende Dunkelheit, die seine Gedanken ausfüllte wie ein Schwall dunkler Tinte ein weißes Blatt Papier.
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