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 Betreff des Beitrags: Eine kalte Nacht
BeitragVerfasst: 16.01.09, 21:03 
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Eine kalte Nacht


Nur allmählich kam Archie wieder zu Bewusstsein. Es war ein merkwürdiges Gefühl, so als läge er schon eine Weile im Halbschlaf im dunklen Zimmer. Wie spät war es? Ein Drehen des Kopfes verschaffte ihm nur Gewissheit, dass es hier keine Fenster gab. Richtig, er lag im Keller der Schenke. Eigentlich ein Wunder, wenn man bedenkt, was ihm widerfahren ist. Als er sich leise stöhnend mit den Ellbogen zur Kopfseite des Bettes zog um sich, zumindest so gut es ging, aufrecht hinzusetzen, bemerkte er von neuem den dumpfen Schmerz an seiner linken Seite.
Erst als er den Blick demonstrativ nach rechts wandte, um den Schmerz zu vergessen, erkannte er eine Gestalt, die mit auf den Unterarmen gebettetem Kopf an der Matratzenkante schlief. Archie schloss noch einmal für einen Moment die verklebten Augen, um sie an die Dunkelheit zu gewöhnen. Als er sie wieder öffnete, sah er Awas schönes, braunes Haar. Er hatte es bei seinem Versuch sich etwas aufzurichten versehentlich mitgezogen, sodass es ihr über das halbe Gesicht hing. War sie die ganze Zeit an seinem Bett gesessen? Unweigerlich musste er dabei lächeln. Wie lange war es her, dass sich jemand um ihn gekümmert hatte? Es dürften nun schon an die zehn Vitama sein, vielleicht etwas weniger. Doch das wohlige Gefühl wich rasch wieder, stattdessen überkamen ihn die Schuldgefühle. Sie saß dort auf dem Boden, neben ihr eine Schale mit Wasser. Wie von selbst wanderte seine Rechte zu seiner Stirn, um das gefaltete Tuch zu finden, das aber wohl schon eine ganze Weile neben ihm lag. Seine Stirn war noch immer ziemlich warm. Wie warm genau vermochte er nicht zu sagen, denn seine Hände konnten ja vielleicht auch einfach zu kalt sein. Er hatte ihr doch gesagt, dass sie nicht nach ihm sehen müsse. Als Archie die Hand wieder sinken ließ, strich er Awa vorsichtig die Haare aus dem Gesicht und betrachtete sie, ohne dabei auf die verstrichene Zeit zu achten. Sie schien gut zu schlafen. Einen verdienten Schlaf. Sie hatte ihm gestern erzählt, dass sie selbst einst zwei Wochen lang gefiebert hatte. Archie hoffte, dass auch bei ihr jemand so an ihrem Bett gewacht hatte. Hoffte es von Herzen. Mehr und mehr driftete er wieder ab in seine Gedanken. Wie war das alles geschehen?


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 Betreff des Beitrags: Re: Eine kalte Nacht
BeitragVerfasst: 16.01.09, 21:05 
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Archie hatte Angst. Eine Angst, die er noch immer nicht los geworden war. Als er vor vier Tagen ins Ödland aufgebrochen war, war Lania schon seit fast zwei Wochen verschwunden. Archie hatte natürlich Angst um sie, schließlich wurden in allen Siedlungen der Insel Aushänge angebracht, doch sie blieb spurlos verschwunden. Wenn er ehrlich war, dann hatte er aber mehr Angst um Eliath. Seit Lanias Verschwinden war er nicht mehr derselbe. Archie wollte wieder albern mit ihm sein. Er wollte durch Eliaths Leid aber auch nicht daran erinnert werden, wie es ist, einen wichtigen Menschen zu verlieren. So wie er selbst einige Tage vor seiner Abreise vom Festland seinen Bruder Helnar verloren hatte. Und es war allein seine Schuld gewesen. Weil er zu nichts zu gebrauchen war. Archie glaubte sich zu erinnern, in Awas Anwesenheit seine eigene Nutzlosigkeit erwähnt zu haben. Er war sich aber nicht mehr so sicher, das Fieber vernebelte seine Sinne. Würde sie ihn tatsächlich nochmal darauf ansprechen, dann würde er es wohl einfach leugnen. Er hätte nicht die Kraft, sich einer Person zu öffnen. Das hatte er vor einiger Zeit sogar Lania gestanden. Warum er das tat? Er wusste es nicht. Vermutlich, weil ihn auf dieser Insel alle nur oberflächlich kennen. Ansonsten hätte Awa nie an seinem Bett gewacht, dessen war sich Archie sicher. Dabei war Awa diejenige, der er am meisten von seinem großen Bruder erzählt hatte. Bisher mochte er ihn meist verschweigen können, aber durch Eliaths Verlust wurde ihm der seine wieder ins Gedächtnis gerufen. Nun werden wohl die Gefühle aufgearbeitet, die er seit knapp einem halben Götterlauf versucht hatte zu verdrängen.
Dies alles müsste er wohl aufzählen, um seine alleinige Suche nach Lania erklären zu können. Aber das würde er nicht tun. In nächster Zeit würden sicher tadelnde Worte von Rufus oder Eliath kommen, möglicherweise sogar von Tiberias. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als ihnen vorzuspielen, dass er verstünde, einen Fehler gemacht zu haben.
Ein leichtes Seufzen im Schlaf riss Archie für einen Augenblick aus seinen Gedanken. Was sie wohl träumte? Er konnte es sich nicht vorstellen, sie war meistens noch recht verschlossen. Hätte ihn jemand gefragt, dann hätte er Awa als eine Rose beschrieben. Eine Rose, die noch nicht wusste, welche Farbe sie annehmen sollte. Doch ihn fragte niemand. Und so schweifte er wieder ab zum Tag seines Aufbruchs ins Ödland. Er versank so tief in seinen Gedanken, dass er den größten Teil davon vermutlich als Traum in sein Gedächtnis rief, denn er fühlte sich wie dorthin zurückversetzt und aus dem warmen Bett gerissen.


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 Betreff des Beitrags: Re: Eine kalte Nacht
BeitragVerfasst: 16.01.09, 21:13 
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Er war früh aufgestanden an diesem Tag, früher als sonst. Nur Awa hatte er von seinem Vorhaben erzählt. Archie hatte sich schon am Vorabend verabschiedet, und wollte sich nun davonstehlen, ohne ihr nochmal unter die Augen treten zu müssen. Mit Proviant für einige Tage in der geschulterten Tasche ging er in die Bernsteinschenke, um für Eliath eine Nachricht zu hinterlassen. Lediglich um zu erklären, dass er einige Tage nicht hier sei. Das Ödland erwähnte er mit keinem Wort. Als er die Taverne betrat, blieb ihm für einen Moment das Herz stehen. Awa stand an den Stufen zum Keller, das fahle, weiße Licht, das durch die großen Fenster der Taverne drang, ließ ihr braunes Haar glänzen. Verdammt. In ihrer Gegenwart fiel ihm das Fortgehen noch schwerer. Archie wusste nicht warum es so war, doch er wusste sehr wohl, dass es so war. Wie auch immer, er wollte den Abschied kurz halten, und verschwand ohne große Worte. Nur ein kurzer Blick über seine Schulter ließ ihn selbst erkennen, dass er es mehr bedauerte als er zu erkennen gab.
Die Wache am Nordtor stand frierend da und hatte wohl größere Probleme mit ihrer Disziplin, als dass ihr Archie aufgefallen wäre, der beim Verlassen der Stadt verstohlen in seine Tasche griff, um sich zu vergewissern, dass er das Wichtigste dabei hatte. Seinen Mut. In Form von getrockneten Blättern mit süßlichem, aber auch bitteren Geschmack.
Die Reste des Walls waren rasch überwunden, und Archie fand sich in dem Teil der Insel wieder, den er noch nie weiter als höchstens 30 Schritt betreten hatte. Sollte Lania noch auf der Insel sein, wo sollte sie sich sonst aufhalten? Durch die Aushänge in der Stadt hatte er von einer Siedlung namens Radak gehört. Er musste dorthin, dort würde er sie sicher finden. Oder zumindest jemanden, der sie gesehen hatte. Er musste es für Eliath tun. Doch noch viel mehr musste er es für sich tun. Sein Bruder Helnar wäre schon vor Tagen aufgebrochen, jetzt war es an Archie zu zeigen, dass auch er nützlich sein konnte.
Doch wo war dieses Radak? Nicht sehr viel später stellte er sich eine weitere Frage, die plötzlich weitaus wichtiger war: Wo war er selbst auf einmal?
In der Ferne ragten schwarze Gebäude in die Höhe. War er schon angekommen? Archie fragte sich, warum diese Siedlung verborgen sein sollte, stand sie doch nicht zu übersehen vor ihm. Als er vor den ruinierten Gebäuden stand war er sich nicht mehr ganz so sicher, was er nun gefunden hatte. Radak konnte es wohl kaum sein, hier konnte nicht sehr viel leben. Hätte er sich nicht so erschrocken, wäre er wohl amüsiert darüber gewesen, wie recht er damit hatte, denn auf einmal stand ein wandelndes Skelett hinter ihm. Begleitet wurde es von den dumpfen Schritten eines anstürmenden Ogers. Auf der Flucht schlug er zu viele Haken, um die Orientierung behalten zu können. Überall diese schwarzen Bäume. Sie kamen ihm vor, als ob ihre dürren, vermutlich toten Äste nach ihm greifen wollten. Kaum hatte Archie die Verfolger abgehängt, da wurde es auch schon dunkel. Bei Vitama, allein im Ödland zu sein war doch schon schlimm genug. Es dauerte nicht lange, da sah er nur noch so weit, wie es der Lichtkegel seiner Fackel zu ließ. Auch wenn er es nur einige Minuten früher nicht geglaubt hätte, so wünschte er sich die schwarzen Bäume wieder zurück, denn im Dunkel waren sie noch sehr viel Furcht einflößender. Wie abgebrüht mussten die ganzen Krieger sein, die so oft im Ödland unterwegs waren? Konnte man sich an die Schrecken hier etwa gewöhnen? Weit und breit war nichts als Dunkelheit. Er kniff die Augen zusammen und horchte auf, als ihm plötzlich klar wurde, wie auffällig er für all die Kreaturen sein musste. Er musste weiter, oder es wäre nur eine Frage der Zeit, ehe er... Nein,diesen Gedanken wollte er nicht fortsetzen. Sein Herz raste, seine Fackel wurde ständig von links nach rechts geschwenkt. Seine Schritte wurden immer schneller, bis er schließlich fast gegen einen schwarzen Zaun gelaufen wäre. Was war das? War er in Radak? Endlich Radak?


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 Betreff des Beitrags: Re: Eine kalte Nacht
BeitragVerfasst: 16.01.09, 21:46 
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Er stand im Ödland. Ungläubig betastete er den kalten Zaun, der wohl den ganzen Komplex umringte. Archie hielt die Fackel höher, und ihm bot sich ein schrecklicher Anblick. Es war nicht Radak, sicher nicht. Es war ein Friedhof. Archie ließ die Fackel fallen und macht einen Schritt zurück. Diesen Schritt sollte er nicht bereuen, denn genau in diesem Moment sauste eine Hand mit filigranen, knöchernen Umrissen vor seiner Nase hinab. Die schwarzen Augenhöhlen des Skeletts bohrten sich in Archies Gehirn. Das Grinsen des Untoten hatte wohl ähnliche Züge wie das erschrockene Gesicht von ihm selbst, als er wie von Sinnen seinen Degen vom Gürtel zog. Wenigstens eine Waffe hatte er sich vor seinem Aufbruch besorgt, wenn er auch sonst ziemlich schlecht ausgestattet fortgegangen war. Der Schein der am Boden liegenden Fackel ließen die Kampfbewegungen der Schatten wie einen Tanz aussehen. Einen Tanz, bei dem Archie doch tatsächlich führte. Er verstand nicht viel vom Kämpfen, doch er konnte sich das Skelett lange genug vom Leib halten. Zu vertieft in den Kampf bemerkte er nicht den hungrigen Wolf, der ihn hinterrücks ansprang und sich in seinen Rücken zu krallen versuchte. Ohne seinen dicken Mantel wäre er verloren gewesen, dessen war sich Archie sicher. Der Mantel aus Mäusefell, den er von Tiberias geschenkt bekommen hatte, war zwar nicht besonders hübsch, das musste er zugeben, doch seine Dicke verhinderte, dass Archie mehr als ein paar Kratzer abbekam. Dabei hatte Lania ihn immer wegen des Mantels gehänselt. Unter anderen Umständen hätte er sich gefreut, aber jetzt musste er handeln. Er schnappte sich seine Fackel und rannte zum Eingang des Friedhofs. Die Dämmerung war mittlerweile eingekehrt, und der Hof sah verlassen aus. Verlassen und noch wichtiger: Abgegrenzt. Hier würde er seine Wunden betrachten und sich vor den Verfolgern verstecken können.
Archie öffnete die Tür und trat ein. Zumindest dachte er das, denn im nächsten Moment war der Himmel blutrot. Der Rückweg war versperrt von einem roten Fluss oder dergleichen, hier ließ ihn seine Erinnerung im Stich. So leer der Hof anfangs war, so voll war er nach einem Wimpernschlag. Der Friedhof wimmelte nur so von Untoten. Bis auf die Gebäude des Hofes war es, als ob er an einem komplett anderen Ort war. Wie viele andere waren schon auf diese Täuschung hereingefallen? Ehe er sich versah, wurde er auch schon von den Untoten angegriffen, die Feuerbälle warfen, wie er sie bisher nur von Tiberias gesehen hatte. Es gab kein Zurück, nur den Weg in den Hof. Welche Wahl hatte er also? Archie zog, wenn auch nur aus Verzweiflung, wieder den Degen und stürmte durch die Tür, direkt auf die Skelette zu.


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 Betreff des Beitrags: Re: Eine kalte Nacht
BeitragVerfasst: 16.01.09, 22:27 
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Archie wollte die Augen aufschlagen, doch er konnte nicht. Er wusste, dass er alles schon einmal erlebt hatte. Wusste, dass er in einem Bett lag. Aber sein Fieber und seine Erinnerungen ließen ihn nicht gehen. Er erlebte das bittere Ende seines Traumes.
Die Skelette waren fort. Er war wieder im Ödland, das nun allmählich wie der Rest der Insel von Fela beleuchtet wurde. Hatte er sich die Untoten nur vorgestellt? Sein angesengter Mantel verriet ihm das Gegenteil. Der Friedhof war ruhig. Der Zaun schien die Wesen des Ödlandes abzuhalten, auch wenn er bestimmt nicht viel mit einem gewöhnlichen Morsanacker gemeinsam hatte. Wenigstens gab es hier einige Gebäude, in denen er für einen Moment seine Verletzungen begutachten konnte. Doch dazu sollte es jetzt noch nicht kommen.
Archie war nicht allein auf diesem Friedhof. Kaum hatte er die knarrende Tür geöffnet, da bebte auch schon der Boden. Was war das? Noch einmal bebte der Boden, diesmal zusammen mit seinen Knien. Er lehnte sich zur Seite um hinter die Gebäudeecke zu sehen. Seine Augen weiteten sich, als er den Oger sah, der seinen Angstschweiß anscheinend schon ausgemacht hatte. Archibald rannte in das Gebäude, das wohl einst eine Kapelle gewesen war. Vorbei an den überraschend sauber aufgestellten Bänken, um den einzigen Ausweg anzusteuern. Es gab Stufen nach unten. Vitama sei Dank. Es war keine Sackgasse. Er stürmte die leicht vermoderte Treppe hinab in ein Gewölbe. Konnte er sich hier verlaufen? Es war ihm egal, der Oger verfolgte ihn sogar bis hier runter. Er rannte einen der engen, gemauerten Gänge entlang, die Kreatur wütend hinter ihm her. Archie erreichte einen kleinen Raum mit steinernen Särgen. Nicht mehr und nicht weniger. Der Geruch war bedrückend und ekelhaft, da einer der Särge zum Teil offen stand. Keuchend sah er sich hektisch um. Es ging nicht weiter. Er blickte über seine Schulter und hob schützend die Arme an, als ihm der Oger im vollen Lauf in die linke Seite schlug. Archie wurde durch den kompletten Raum und hinter die Särge geschleudert. Seine Rippen wohl angebrochen, doch davon bemerkte er nichts mehr. Nie hätte er gedacht, dass ihn der Gestank des Raumes retten würde, denn der Oger hatte ihn aus den Augen verloren und konnte ihn durch den stechenden Geruch der Leichen nicht mehr ausmachen.
Archie kam überraschend schnell wieder zu sich, so als ob ihm der Schock noch in den Knochen säße. Schon beim Aufstehen erkannte, dass er seine linke Seite nicht belasten konnte. Die Schmerzen waren unerträglich, aber würde er jetzt schreien, dann käme der Oger sofort wieder. Also schleppte er sich vorwärts, den Gang zurück, durch den ihn das Mistvieh gejagt hatte. Doch was war das? An den Stufen wartete er schon wieder auf ihn. Mit letzter Kraft huschte Archie in eine kleine Kammer, die von einer Eisengittertür verschlossen war. Im Raum selbst befand sich sonst nur noch eine Gedenktafel. Als er die Tür hinter sich ins Schloss zog, wurde der Oger wieder aufmerksam. Ächzend kniete er sich hinter die Gedenktafel, um nicht von ihm entdeckt zu werden. Donnernd Schlug die Kreatur auf die Tür ein, doch sie hielt lange genug stand. Dieses Mistvieh wusste, dass er hier unten war. Und der Oger wartete, die Gänge absuchend. Immer begleitet von dem Donnern seinen Schritte, nur um beim kleinsten Geräusch wieder auf Archie aufmerksam zu werden. So saß er hier, in den Gewölben eines Friedhofes. Gefangen in einer Zelle, und der Tod wartete sowohl außerhalb, als auch innerhalb der Kammer. Die Schmerzen in seiner Seite waren zu viel, bald würde er schreien müssen. Sollte er sich in die Gedenktafel einritzen? Sehr wahrscheinlich würde er hier sterben. Aber andererseits: Wer würde hier seiner gedenken? Würde es überhaupt jemand tun? Archie setzte sich auf den kalten Boden und lehnte sich an die Wand, stets hinter der Tafel kauernd. Er hatte aufgegeben.


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 Betreff des Beitrags: Re: Eine kalte Nacht
BeitragVerfasst: 16.01.09, 23:38 
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Endlich erwachte er. Schweißgebadet sah er neben sich auf die Bettkante. Awa war fort. Wie lange hatte er geträumt? Allmählich verflog das Angstgefühl, das er aus dem Traum mit in die Realität genommen hatte. Je wacher er wurde, desto deutlicher merkte er, dass das, was ihn schließlich aus seinem Traum gerettet hatte, nichts anderes war, als das ,was ihn auch im Gewölbe gerettet hatte. Es war nichts heroisches. Nichts poetisches oder gar göttliches. Nein, es war sein niederes Verlangen, seine Gier nach Nachtschatten. Das einzige Vermächtnis, das ihm sein Bruder hinterlassen hatte. Eine Sucht. Langsam wanderte seine Hand zu seiner Tasche, doch sie war leer. Er hatte alles aufgebraucht.
Archie saß neben der Gedenktafel und hätte im nächsten Moment geschrien. Der Oger hätte die Tür eingeschlagen und ihn sich geholt. Aber das Rascheln in seiner Tasche erinnerte ihn an seinen Proviant. Ja, der Nachtschatten würde seine Schmerzen dämpfen. Für gewöhnlich nahm er nicht mehr als ein Blättchen zu sich, ganz anders als sein Bruder damals. Doch bei den Schmerzen die er hatte, zögerte Archie nicht gleich zwei der Blätter zu kauen. Sein Bewusstsein schwand dahin, doch mit ihm die größten Schmerzen. Die Kälte, die sich in das Gewölbe gefressen hatte, brachten ihm in dieser Nacht das Fieber, mit dem er jetzt noch in der warmen Schenke zu kämpfen hatte.
Während der Wirkung der Nachtschatten gingen ihm viele Dinge durch den Kopf, doch sie entglitten ihm ebenso rasch wieder. Als er nach mehreren Stunden wieder zu sich kam, wusste er fast nichts mehr von den Gedanken, die er sich in dieser Nacht gemacht hatte. Er wusste nicht mehr, dass er stark gezittert hatte, oder sich Vorwürfe machte. Awa hatte recht. Er war nicht sein Bruder. Er hätte nicht gehen sollen. Aber er musste. Zumindest für sich selbst. Genauso musste er aber auch wieder zurück. Awa verschwieg ihm etwas. Nicht sehr verwunderlich, schließlich kannten sie sich noch nicht lange, aber er wusste durch Markus, dass sie tagelang nichts essen wollte. Warum auch immer. Sie hatte Archie versprochen seinen Zwiebelkuchen zu essen, den er ihr dagelassen hatte. Er glaubte nicht, dass sie es tun würde, doch deshalb war es umso wichtiger, wieder zurück zu kehren.
Irgendwann war das Donnern der Schritte verstummt. Wie lange hatte er hier gesessen? Mindestens eine kalte Nacht lang. Und wieder wäre er vermutlich tot, hätte er nicht den hässlichen Mantel von Tiberias gehabt. Beim Aufstehen merkte Archibald, dass die Wirkung der Pflanze noch nicht ganz nachgelassen hatte. Das war ihm nur allzu recht. Sehr leise öffnete er die Tür, der Oger schlief am Ende des Ganges. Sollte er wirklich noch einmal Glück haben? Selbst als er sich die Stufen wieder hinauf schlich, erwachte das Vieh nicht. Archie hatte sein Fieber noch gar nicht bemerkt, er hatte ganz andere Sorgen. Was würde passieren, wenn er den Friedhof verlässt? Würde er wieder von Skeletten angegriffen? Er beschloss, es einfach zu ignorieren. Mühsam überquerte er den Hof und stand vor der Eingangstür. Mit fest geschlossenen Augen zog er daran und schritt sofort hindurch, die Tür hinter sich ins Schloss ziehend. Er hörte ganz kurz das Klappern von Knochen, das aber sofort vom Wind des Ödlands wieder davongetragen wurde. War es ein Streich seines Geistes gewesen? Zumindest hatte er den Friedhof hinter sich gelassen. Nach vorn gebeugt und die linke Seite haltend, schleppte er sich durch die Öde. Vorbei an den schwarzen Bäumen, die ihm jetzt sehr viel lieber waren, hatte er sie doch schließlich auch bei Nacht schon gesehen. Obwohl es hell war, konnte er nicht sehr viel erkennen. Seine tränenden Augen machten es ihm dabei nicht leichter. Weiterhin zumindest teilweise beflügelt durch den Nachtschatten kam er zügig voran. Archie wusste nicht wohin er musste, aber er erinnerte sich an den Rat seines Bruders, bei Orientierungslosigkeit immer nach Norden zu gehen. Irgendwie hatte er das wohl auch geschafft, denn nach einer Weile stand er an einer Felswand, die womöglich dieselbe war, wie die, die man schon beim Überqueren des Walls sehen konnte. Hier gab es Höhlen, voll von Knochen. Doch Archie blieb diesmal nicht stehen. Wieder kam die Dunkelheit, als er kurz vor ihrem Einbruch fremden Fackelschein erkannte. Nur einige Schritte weiter war er an einer Siedlung angekommen. Er hatte es nach Radak geschafft. Völlig erschöpft waren seine ersten Ziele die Anschlagbretter der kleinen Häuseransammlung. Tage vorher hatte er einige der Anschläge zu Lanias Gesuch abgenommen und eingesteckt. Nun verteilte er sie über die Nachrichtenbretter, zusammen mit dem Hinweis auf Belohnung.
Er hatte auch Menschen getroffen in der Taverne. Viel wusste er nicht mehr, was an diesem Abend geredet worden war. Nur das Wichtigste konnte er nicht vergessen: Niemand dort hatte je etwas von dieser Lania gehört oder gesehen.
Geholfen wurde ihm dort kaum. Er bekam einen Schnaps, der sogar günstiger war als der in der Bernsteinschenke, und durfte in einem Gästebett übernachten. Doch die Nacht war unruhig. Er hatte es zwar geschafft nach Radak zu kommen und die Anschläge anzubringen, doch zu welchem Preis? Würde es Eliath die letzte Hoffnung auch noch nehmen? Er wusste es nicht, wusste nur eines sicher. Er musste ins Hospiz. Sobald Fela sich wieder zeigte, machte er sich sehr geschwächt wieder auf den Weg. In Radak würde man ihn vermutlich einfach im Bett liegen lassen, bis er anfing zu stinken. Aber wie sollte er den Rückweg schaffen? Nach einem weiteren Griff in seine Tasche wusste er die Antwort. Die Schmerzen ließen nach, als der letzte Rest Nachtschatten seine Wirkung tat. Archie blieb die meiste Zeit sehr nah an der Felswand, um sich nicht wieder zu verlaufen. Er ging gebückt, doch irgendwann musste etwas hinter ihm her sein. Er glaubte sich zu erinnern, dass er sogar gelaufen war. Trotz Verletzungen. Das nächste, an das er sich entsinnen konnte, war ein toter Mann neben dem Wall. War er etwa ganz allein über den Wall geklettert? Archie schleppte sich mühevoll bis zu den Toren von Falkensee. Auch wenn sein Ausflug schlechter verlaufen war als er es gedacht hätte.
Nach mehreren Augenschlägen in rascher Folge war Archie endlich wieder ganz bei sich. Er saß im Keller der Schenke, seine Rippen verbunden, sein Fieber zumindest schwächer.
Er sollte dankbar sein. Aber leider war alles umsonst.
Awa hatte gestern, bevor er eingeschlafen war, noch gesagt, dass man meinen könnte, er könne sich selbst nicht leiden. Er hatte sie fortgeschickt. Sie war vermutlich zu nah an der Wahrheit gewesen. Dennoch hatte sie die ganze Nacht an seinem Bett gesessen.
Ja, er war dankbar.


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