Endlich erwachte er. Schweißgebadet sah er neben sich auf die Bettkante. Awa war fort. Wie lange hatte er geträumt? Allmählich verflog das Angstgefühl, das er aus dem Traum mit in die Realität genommen hatte. Je wacher er wurde, desto deutlicher merkte er, dass das, was ihn schließlich aus seinem Traum gerettet hatte, nichts anderes war, als das ,was ihn auch im Gewölbe gerettet hatte. Es war nichts heroisches. Nichts poetisches oder gar göttliches. Nein, es war sein niederes Verlangen, seine Gier nach Nachtschatten. Das einzige Vermächtnis, das ihm sein Bruder hinterlassen hatte. Eine Sucht. Langsam wanderte seine Hand zu seiner Tasche, doch sie war leer. Er hatte alles aufgebraucht. Archie saß neben der Gedenktafel und hätte im nächsten Moment geschrien. Der Oger hätte die Tür eingeschlagen und ihn sich geholt. Aber das Rascheln in seiner Tasche erinnerte ihn an seinen Proviant. Ja, der Nachtschatten würde seine Schmerzen dämpfen. Für gewöhnlich nahm er nicht mehr als ein Blättchen zu sich, ganz anders als sein Bruder damals. Doch bei den Schmerzen die er hatte, zögerte Archie nicht gleich zwei der Blätter zu kauen. Sein Bewusstsein schwand dahin, doch mit ihm die größten Schmerzen. Die Kälte, die sich in das Gewölbe gefressen hatte, brachten ihm in dieser Nacht das Fieber, mit dem er jetzt noch in der warmen Schenke zu kämpfen hatte. Während der Wirkung der Nachtschatten gingen ihm viele Dinge durch den Kopf, doch sie entglitten ihm ebenso rasch wieder. Als er nach mehreren Stunden wieder zu sich kam, wusste er fast nichts mehr von den Gedanken, die er sich in dieser Nacht gemacht hatte. Er wusste nicht mehr, dass er stark gezittert hatte, oder sich Vorwürfe machte. Awa hatte recht. Er war nicht sein Bruder. Er hätte nicht gehen sollen. Aber er musste. Zumindest für sich selbst. Genauso musste er aber auch wieder zurück. Awa verschwieg ihm etwas. Nicht sehr verwunderlich, schließlich kannten sie sich noch nicht lange, aber er wusste durch Markus, dass sie tagelang nichts essen wollte. Warum auch immer. Sie hatte Archie versprochen seinen Zwiebelkuchen zu essen, den er ihr dagelassen hatte. Er glaubte nicht, dass sie es tun würde, doch deshalb war es umso wichtiger, wieder zurück zu kehren. Irgendwann war das Donnern der Schritte verstummt. Wie lange hatte er hier gesessen? Mindestens eine kalte Nacht lang. Und wieder wäre er vermutlich tot, hätte er nicht den hässlichen Mantel von Tiberias gehabt. Beim Aufstehen merkte Archibald, dass die Wirkung der Pflanze noch nicht ganz nachgelassen hatte. Das war ihm nur allzu recht. Sehr leise öffnete er die Tür, der Oger schlief am Ende des Ganges. Sollte er wirklich noch einmal Glück haben? Selbst als er sich die Stufen wieder hinauf schlich, erwachte das Vieh nicht. Archie hatte sein Fieber noch gar nicht bemerkt, er hatte ganz andere Sorgen. Was würde passieren, wenn er den Friedhof verlässt? Würde er wieder von Skeletten angegriffen? Er beschloss, es einfach zu ignorieren. Mühsam überquerte er den Hof und stand vor der Eingangstür. Mit fest geschlossenen Augen zog er daran und schritt sofort hindurch, die Tür hinter sich ins Schloss ziehend. Er hörte ganz kurz das Klappern von Knochen, das aber sofort vom Wind des Ödlands wieder davongetragen wurde. War es ein Streich seines Geistes gewesen? Zumindest hatte er den Friedhof hinter sich gelassen. Nach vorn gebeugt und die linke Seite haltend, schleppte er sich durch die Öde. Vorbei an den schwarzen Bäumen, die ihm jetzt sehr viel lieber waren, hatte er sie doch schließlich auch bei Nacht schon gesehen. Obwohl es hell war, konnte er nicht sehr viel erkennen. Seine tränenden Augen machten es ihm dabei nicht leichter. Weiterhin zumindest teilweise beflügelt durch den Nachtschatten kam er zügig voran. Archie wusste nicht wohin er musste, aber er erinnerte sich an den Rat seines Bruders, bei Orientierungslosigkeit immer nach Norden zu gehen. Irgendwie hatte er das wohl auch geschafft, denn nach einer Weile stand er an einer Felswand, die womöglich dieselbe war, wie die, die man schon beim Überqueren des Walls sehen konnte. Hier gab es Höhlen, voll von Knochen. Doch Archie blieb diesmal nicht stehen. Wieder kam die Dunkelheit, als er kurz vor ihrem Einbruch fremden Fackelschein erkannte. Nur einige Schritte weiter war er an einer Siedlung angekommen. Er hatte es nach Radak geschafft. Völlig erschöpft waren seine ersten Ziele die Anschlagbretter der kleinen Häuseransammlung. Tage vorher hatte er einige der Anschläge zu Lanias Gesuch abgenommen und eingesteckt. Nun verteilte er sie über die Nachrichtenbretter, zusammen mit dem Hinweis auf Belohnung. Er hatte auch Menschen getroffen in der Taverne. Viel wusste er nicht mehr, was an diesem Abend geredet worden war. Nur das Wichtigste konnte er nicht vergessen: Niemand dort hatte je etwas von dieser Lania gehört oder gesehen. Geholfen wurde ihm dort kaum. Er bekam einen Schnaps, der sogar günstiger war als der in der Bernsteinschenke, und durfte in einem Gästebett übernachten. Doch die Nacht war unruhig. Er hatte es zwar geschafft nach Radak zu kommen und die Anschläge anzubringen, doch zu welchem Preis? Würde es Eliath die letzte Hoffnung auch noch nehmen? Er wusste es nicht, wusste nur eines sicher. Er musste ins Hospiz. Sobald Fela sich wieder zeigte, machte er sich sehr geschwächt wieder auf den Weg. In Radak würde man ihn vermutlich einfach im Bett liegen lassen, bis er anfing zu stinken. Aber wie sollte er den Rückweg schaffen? Nach einem weiteren Griff in seine Tasche wusste er die Antwort. Die Schmerzen ließen nach, als der letzte Rest Nachtschatten seine Wirkung tat. Archie blieb die meiste Zeit sehr nah an der Felswand, um sich nicht wieder zu verlaufen. Er ging gebückt, doch irgendwann musste etwas hinter ihm her sein. Er glaubte sich zu erinnern, dass er sogar gelaufen war. Trotz Verletzungen. Das nächste, an das er sich entsinnen konnte, war ein toter Mann neben dem Wall. War er etwa ganz allein über den Wall geklettert? Archie schleppte sich mühevoll bis zu den Toren von Falkensee. Auch wenn sein Ausflug schlechter verlaufen war als er es gedacht hätte. Nach mehreren Augenschlägen in rascher Folge war Archie endlich wieder ganz bei sich. Er saß im Keller der Schenke, seine Rippen verbunden, sein Fieber zumindest schwächer. Er sollte dankbar sein. Aber leider war alles umsonst. Awa hatte gestern, bevor er eingeschlafen war, noch gesagt, dass man meinen könnte, er könne sich selbst nicht leiden. Er hatte sie fortgeschickt. Sie war vermutlich zu nah an der Wahrheit gewesen. Dennoch hatte sie die ganze Nacht an seinem Bett gesessen. Ja, er war dankbar.
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