Irgendwo unweit der Grenze zu Khalandrien, irgendwann in diesem Götterlauf.
Der gut neuneinhalb Spann große Mann, dessen rotes Haar weitestgehend von grauen Strähnen vertrieben worden war, blickte aus graugrünen Augen hinaus in die grasbewachsene, sanft hügelige Weite, die vor ihm lag, derweil er, Edric Vandaros, an einer knorrigen Eiche lehnte, die Arme vor der uniformierten und mit reichlich Orden und Ehrenabzeichen bestückten Brust verschränkt. Seine Miene war durchzogen von harten Zügen, die einerseits auf sein Alter von fast fünfzig Götterläufen, andererseits aber auch von einem Leben angefüllt von Ernst, Entbehrungen, Drill und wenig Zeit für Vergnügen zeugte. Der Brief seiner Gattin, welcher in einer Tasche an seinem Schwertgurt ruhte, wog schwer für ihn und zog immer wieder seine Gedanken auf das zurück, was ihn nach Abzug von der Grenze erwarten würde.
Nein, das hier war sein Leben. Das Schlachtfeld, nicht jenes große, kalte Haus in Titanfels. Nicht der Platz neben diesem... Weib, welches lediglich der Form halber ihrer Secretaria einmal im Mond auftrug, einen Brief an ihn zu schreiben. Er liebte sie nicht und er hatte sie nie geliebt. Irgendwann, vor wohl gut einem Vierteljahrhundert, hatte er es versucht, als er sich entscheiden musste. Er hatte versucht, irgendwas an ihr zu finden, was er als liebenswert einstufen könnte. Hässlich war sie nicht. Sie war auch nicht dumm. Doch es ware ihre Arroganz, ihre herrische Art, ihre eigene Kälte ihm gegenüber, die ihn dazu getrieben hatte, die letzten Jahrzehnte auf dem Schlachtfeld sein Zuhause zu suchen.
Ja, hier war er wahrlich zu Hause - zwischen seinen Männern und Frauen, nicht selten raue Gesellen, doch die, abgesehen von wenigen Ausnahmen, auf sein Wort hörten. Edric konnte sich auf sie verlassen und ihm waren sie bisweilen sogar wie Kinder. Kinder, die er im Grunde nie hatte. Ein Punkt, der auch seine Ehe belastete. Keinen Erben konnte sie ihm schenken, was noch für zusätzliche Reibungspunkte zwischen ihnen geführt hatte, davon ab, dass sich die Familie auf beiden Seiten hartnäckig und nervtötend bei jeder Zusammenkunft, die er mittlerweile schon lieber mied, einmischte. Leise knarschte das Leder seiner Handschuhe, als er seine Rechte zur Faust ballte. Doch wusste er - es gab ein Kind und eben seine Familie und die seiner Frau waren es gewesen, die dafür gesorgt hatten, dass er es nie zu Gesicht bekommen hatte.
Nein. Er gestand sich bitter ein - er war schuld. Er hätte sich damals anders entscheiden können. Auf sein Erbe pfeifen, auf seinen Posten im Regiment, seine Frau und einfach in Endophal bleiben können.
Gedankenverloren starrte er hinaus zum Horizont, der sich mehr und mehr verdunkelte, derweil Fela versank und ein letztes Lichtspiel mit den Wolken trieb. Der letzte Abend war der Grund, warum er nun hier alleine stand, die Einsamkeit und den Trost in Erinnerungen suchte.
Der schlichte Planwagen war voll mit ihnen - bunte Gestalten, Frauen und Männer gleichermaßen. Wie geordert waren die Gesunden ausgewählt worden, um etwaige Krankheiten im Regiment zu vermeiden. Nur wenig später war der Platz, wo sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, angefüllt mit Musik, dem Geruch von Wein und Gelächter. Manch einer verzog sich mit seiner oder ihrer "Eroberung" schon zurück in eines der Zelte oder in den nahen, lichten Wald, um dort für einen Moment die Last des Krieges und die Nähe des Todes zu vergessen. Er hielt sich ebenso nie zurück. Trost fand er meist auf dem Schlachtfeld oder eben in den Armen einer Hure, die für wenige, gut bezahlte Zyklen das Gefühl von Zuneigung vorgaukelte. Doch dieses Mal war es anders.
Sie war unverkennbar eine Endophali, das Alter wohl um die zwanzig Götterläufe herum, vielleicht ein wenig älter. Pechschwarzes, volles und leicht gewelltes Haar floß knapp über ihre Schultern hinab und tiefbraune Augen, die im Schein des Lagerfeuers fast wie schwarze Kohle zu glänzen schienen, sahen lockend bei ihrem Tanz in die Runde. Als sie an ihm vorübertanzte, streifte ihn der Duft von Rosen und in ihm schien eine wohl aufgebaute Mauer zu schwanken. Sie war wie sie. Als einer seiner Soldaten sie unter dreckigen Gelächter am Gesäß berührte und sie seine Hand wegschlug, erhob er sich, befehlsgewohnt den Mann zurechtweisend, der sich sogleich wie ein getretener Hund zurückzog. Es hatte unweigerlich ihre Aufmerksamkeit auf ihn gezogen. Nur wenig später fanden sie sich in seinem Zelt wieder und als er wohlig ermattet neben ihr lag, einen Arm um ihren warmen, weichen Körper geschlungen, hauchte er, dessen Geist pendelnd zwischen Schlaf und Wachen hing, einen lange nicht mehr gesprochenen Namen - "Ajashi..." Sie, so entsetzlich typisch für ihr Geschlecht, hatte ihn aufmerksam und neugierig gefragt, wer dies sein mag und so hatte er, anfangs noch müde, doch im Laufe der Erzählung wieder zurück in einen wacheren Zustand kehrend, angefangen, zu erzählen...
Über ein Vierteljahrhundert, eher ein wenig mehr, war es her, dass er sich in eine wahre Rose Endophals verliebt hatte. Ja, verliebt und selbst noch heute hatte sie, Ajashi, einen kleinen, versteckten Platz in seinem Herzen. Pechschwarz war auch ihr Haar gewesen, welches lang und gepflegt in sanften Wellen über ihren Rücken sich ergoß. Dunkel war ihre Haut, wie bei den endophalischen Frauen eben üblich. Dazu braune Augen, welche ein eigenes Feuer versprühten und einen begehrenswerten Körper, geformt von vielen Götterläufen des Tanzes. Sie war eine begnadete Tänzerin ihres Volkes, geliebt und geachtet von so vielen ob ihrer Kunst, denn Kunst war es wirklich, was sie betrieb. Nie durfte man sie berühren, wenn sie tanzte, nie ihren Tanz mit Zwischenrufen oder anderen Störungen unterbrechen - teilweise eben üblich in Endophal, wo man zu solchen Dingen einen anderen Zugang hatte, als in Galadon, denn die Ästhetik des Tanzes war es allein, die man genießen durfte.
Damals war er zeitweise stationiert in Luth-Mahid, um zu jenen Soldaten zu gehören, die die nicht selten trügerische Ruhe in diesem stolzen, doch bezwungenen Land wahren sollten. An einem Abend hatte er sich mit einem anderen Soldaten in eines dieser Teehäuser förmlich verirrt. Die Musik und der Duft von Wasserpfeifen hatten sie angelockt und in eine der mit dicken Bodenkissen ausstaffierten Ecken hatten sie sich niedergelassen, um vom reichlich widerwillig dreinblickenden Wirt eine Wasserpfeife und ein etwas zu Trinken zu ordern. Sie gaben sich dem leichten Rausch des Tabaks und endophalischen Gewürzweines hin, doch dann spielte die Musik erneut auf.
Leise, lauernd erklang der Rhythmus der zwischen den Beinen der Spielleute geklemmten Trommeln, eine fremdartige Flöte erhob sich, anfangs vorsichtig klingend, doch dann drängend auffälliger, derweil eine anmutige Gestalt zwischen den dünnen Tüchern, die den Bereich der Künstler von dem der Gäste abtrennten, heraustrat. Fließend waren ihre Bewegungen, schuppenartig und in grünen Tönen bemalt die Haut, welche nicht vom smaragdgrünen, leicht schimmernden Stoff bedeckt war. Sie wand sich auf der Bühne, betörend und doch auch einen Hauch von Gefahr dabei ausströmend, als sie den "Tanz der Nachtnatter", benannt nach der gefährlichsten Schlangenart im Süden Endophals, darbot. Edrics Blick hing gebahnt an ihr, seine Umgebung nicht mehr wahrnehmend.
Von da an war er fast jeden Abend, sofern es ihm möglich war, in diesem Teehaus, nicht selten so nahe wie nur möglich an der niedrigen, mit weichen und bunten Teppichen ausgelegten Bühne sitzend und jede ihrer tänzerischen Bewegungen ihres weichen Körper mit seinen Blicken verschlingend. Es dauerte eine Weile und kostete ihn einen Gutteil seiner Dukaten, ehe er es geschafft hatte, ein Treffen mit ihr zu arrangieren. War sie zuerst noch distanziert, schaffte er es mehr und mehr ihr Herz zu gewinnen und nicht lange dauerte es, ehe sie die kühlen, endophalischen Nächte zusammen verbrachten.
Doch dann kam ein Befehl aus dem Norden - das Regiment, welchem er angehörte, hatte wieder zurück zu kehren und die am Anfang noch so sehr ersehnte Ablösung von der Gluthitze dieses Reiches rückte nun unerbittlich näher. Hier stand er nun das erste und schmerzliche Mal vor einem Scheideweg, denn in Titanfels wartete bereits eine Frau auf ihn - seine Frau. Als Kinder und Abkömmlinge zweier einflussreicher Patrizierfamilien waren sie schon jung miteinander verlobt worden, in Jugendjahren dann verheiratet. Er hatte sich rasch ins Regiment geflüchtet, denn nie empfand er etwas für sie und jeder bemühte Vollzug der Ehe kam ihm mehr wie ein Opfergang vor. Kalt und arrogant war sie schon immer ihm gegenüber gewesen, davon ab, dass sich das Elternglück bei beiden bis dato nicht eingestellt hatte.
Hier, in Luth-Mahid jedoch, wo er sich auch eher fremd und deplaziert gefühlt hatte, war zumindest sie, Ajashi, eine Frau, für die sein Herz wahrlich entflammt war und dessen Feuer kaum zu vergehen schien. Doch würde er bei ihr bleiben, würde er nicht nur Schande über seine Familie bringen, sondern wäre auch ein gesuchter Deserteur. Wo, in diesem gewaltigen Reich, über welches Königin Levara herrschte, könnte er dann noch bleiben? Und war Desertieren wirklich eine erstrebenswerte Option? Im Regiment hatte er zumindest ein paar Freunde gefunden, er fand Bestätigung und Kameradschaft. Ja, im Grunde war mit dieser Aufgabe zufrieden und diente ihrer Majestät nur zu gerne.
Die Zeit der Ablösung rückte näher und er quälte sich förmlich mit der Entscheidung. Letztlich entschied er sich für das Königreich, für sein Regiment und, schweren Herzens, für seine Familie. Keinen Brief hinterließ er ihr, wusste er doch kaum, was schreiben sollte, denn jedes Wort wäre von seiner Sehnsucht und seinem Schmerz durchdrungen und würde unnötig ihre Hoffnung auf ein Leben mit ihm bestärken. Lediglich ein schlichtes Schmuckstück, was er noch in aller Eile gekauft hatte, hinterließ er ihr - ein dunkelbraunes Holzarmband, verziert mit endophalischen Schriftzeichen und Ornamenten, welche seinem Träger Liebe und Glück spenden sollten. So machte er sich gemeinsam mit seinen Kameraden auf den Weg zurück und eigentlich hätte hier die Geschichte enden können.
Doch es war wenige Monde später, als sie ihren weiteren Verlauf nahm. Edric war für eine Weile zurückkehrt in das herrschaftliche Haus, was er mit seiner Frau in Titanfels bewohnte. Als er in seiner Bibliothek die Korrespondenz erledigte, meldete ihm sein Majordomus, dass eine Frau vor der Tür des Hauses stehen würde. Sie war schwerlich zu verstehen ob ihres Akzentes und der Unfähigkeit, reines Galad zu sprechen, hätte aber immer wieder nach ihm verlangt. Als Edric ihn nun fragte, wie jene Frau aussehen würde, langte lediglich das Wort "endophalisch", um ihn abrupt aufspringen und hinaus aus der muffigen Bibliothek eilen zu lassen. Gänzlich vergessen hatte er, dass er einst von Titanfels und dem schönen Wallenburg erzählt haben mochte. Dies hatte sie ohne Zweifel veranlasst, ihn zu suchen - und zu finden.
Je näher er zur Tür kam, desto mehr schwollen die Worte keifender Frauen an und als er ankam, fühlte er, wie eine resignierende Müdigkeit ihn zu übermannen schien - seine Frau war bereits an der Tür erschienen, gemeinsam mit ihrer Zofe, die ihr wohl näher stand, als er es jemals tat. Beide redeten abwimmelnd auf die Endophali ein, die ihm noch immer so schön erschien wie am ersten Tag, sah man von der schon etwas in Mitleidenschaft geratenen, endophalische Reisekleidung ab.
Wieder stand er davor - dieser Scheideweg, den er so sehr hasste. Ihr Anblick genügte, um sein Herzen rascher pochen und ihn erkennen zu lassen, dass er noch immer viel für sie empfand. Doch er gehörte dem Regiment an, bemühte sich, ein guter Sohn, Schwiegersohn und Mann zu sein, auch wenn ihm so häufig im letzten Fall Kälte entgegenschlug. Sollte er jetzt seine Frau verlassen, würde er wohl noch größere Schwierigkeiten haben, als wenn er es in Endophal getan hätte. Der Arm seiner Vorgesetzten war hier kürzer, als dort im Süden. Letztlich würde er doch nur sich und Ajashi in Gefahr bringen. Einen Moment über schwankte seine Mimik, offenbarte seinen Schmerz, doch dann schluckte er all seine Gefühle hinab, mühte sich eine sichtlich distanzierte, kühle Miene auf und trat heran zu den Frauen.
Die Worte, die dann folgten, waren die schwersten in seinem Leben gewesen - er leugnete seine Liebe zu ihr, er wies sie sogar deutlich (und doch mit vor Schmerz und eigensinnig deplaziert wirkenden Glücksgefühl rasch pochenden Herzen) ab, als sie ihm offenbarte, sie würde ein Kind von ihm erwarten. Einen Kloß musste er gar hinabschlucken, als er sie als "Hure" betitelte, um sie zum Fortgehen zu zwingen und schmerzlich sah, wie er ihr Herz brach. Danach gab es kein Zurück mehr. Er wusste, er würde nie wieder an diesem Punkt, wo er eine Wahl hatte, ankommen. Die einst stolze Haltung, die diese schöne Tänzerin gehabt hatte, war verschwunden. Was blieb war der sichtbare Schmerz. Als sie sich abwandte, wandte er sich ebenso herum, fuhr jedoch noch einmal seine Frau gereizt und unter nur mühselig zurückgehaltenen Tränen an, als diese noch letzte, höhnische Worte seiner einstigen Geliebten - wahrhaftig Geliebten - hinterher warf.
Danach war nichts mehr, wie es zuvor war. Er stürzte sich förmlich in seine Arbeit im Regiment. Waghalsiger wurde er, als würde er förmlich den Tod suchen - bis heute. Schwer war es wieder um sein Herz, als er seine Erzählung geendet hatte, den Blick zu dem jungen Ding in seinen Armen suchte. Mitleid stand in ihrem geschrieben, was er kaum ertragen konnte. Leise, doch bestimmt schickte er sie fort.
Ein Kind. Irgendwo, das wusste er, lebte ein Kind von ihm. Edric wusste bis heute nicht, wie es aussah, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, wo es nun leben mochte. Vielleicht mochte es gewisse Ähnlichkeiten mit ihm haben oder mit seiner geliebten Endophali. Vielleicht auch mit ihnen beiden. Müde strich er über seinen Schopf und die noch vereinzelt rötlichen Strähnen zurück. Eines wünschte er diesem Kind - dass es mehr Glück im Leben haben mochte, als er. Seit mehr als zwei Jahrzehnten versuchte er Erlösung zu finden. Morgen würde sich wieder eine Gelegenheit ergeben. Vielleicht würde dann endlich sein Wunsch in Erfüllung gehen und er würde auf dem Schlachtfeld sich endlich in Morsans beruhigende Umarmung einfinden. Geteilte Einsamkeit zwischen all den anderen toten Kameraden um ihn herum.
Zuletzt geändert von Felis: 31.01.10, 02:38, insgesamt 2-mal geändert.
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