Ein paar Dinge packte Felis in eine große Tasche ein, zog sich dem Tag angemessen gedeckte, etwas dunklere Kleidung an, band sich einen schlichten, geflochtenen Zopf und legte auch ihren Schmuck - abgesehen des Holzarmbands, welches ihre Mutter ihr einst schenkte - ab. Es war der Tag angebrochen, der den Toten galt und diesen wollte sie heute entsprechend gedenken, nachdem die Wunden vom Dunkeltief versorgt waren. Zwar gab es da noch einen besonderen Auftrag, der sie eigentlich in Falkensee band, aber es wäre ein Frevel gewesen, den einem solchen Tag voranzustellen.
In Brandenstein angekommen, holte sie als erstes ihren Neffen aus der Burg ab, lauschte lächelnd seinen Erzählungen, was er alles erlebt hatte und brachte ihn in ihr neues Heim. Hier vergewisserte sie sich, dass noch alles seine Ordnung hatte, ehe sie das Haus auch bald schon wieder verließ, um durch das offene Nordtor in Richtung Morsansanger zu gehen.
Ein schneidend-kalter Wind zog von Norden her, trieb mit sich einige spärliche Schneeflocken und ließ sie etwas frösteln, derweil sie über den knirschende Schnee stapfte. Ein Gefühl, welches wohl nicht ganz unpassend an einen solchen Tag war, bemannte sich ihrer - zwar von Ruhe erfüllt, lag doch eine gewisse Melancholie, eine Ahnung vom Ende allen Lebens, auf ihrem Gemüt, was sich noch verstärkte, als sie das Tor zum Morsansanger passierte. Still lag er da, bloss der Wind pfeifte durch die Bäume und wirbelte hier und da etwas losen Pulverschnee auf. Schnee lag auch auf den Gräbern und Grabsteinen, auf den wenigen, immergrünen Pflanzen und auf den kahlen Ästen der Bäume und Büsche. Vielleicht hätte mancher diesen Ort als trostlos empfunden, doch die weiße, saubere Schneedecke, die sich wie ein samtenes Tuch über alles gelegt hatte, ließ diesen Platz hell erscheinen und von Ruhe künden.
Langsamer und weiterhin still, sah man von dem Knirschen des Schnees unter ihren Füßen ab, bahnte sich Felis ihren Weg an den Grabsteinen vorüber - neue, doch auch alte und verwitterte Steine, um die sich wohl schon seit Götterläufen kein Mensch mehr gekümmert hatte - bis sie im hinteren Teil innehielt. Das Grab vor ihr war ebenso vom Schnee bedeckt und Schnee lag auch auf dem Turmschild, welcher davon kündete, wer hier lag. Einzig die nun braunen Büschel einer Topfpflanze ragten noch verstohlen durch die Schneedecke. Sie ging in die Hocke hinab, strich behutsam mit den behandschuhten Händen den Schnee vom Schild und ihr Blick glitt über die Inschrift - "Hier ruht Emanuel Sanderus". Felis erhob sich wieder, wickelte sich tiefer in den schlichten Fellumhang ein und blickte still, ruhig dastehend eine längere Weile hinab. Der Blick aus den braunen Augen verriet Distanz. Erinnerungen an schöne Zeiten kamen auf, doch sah sie aus Distanz auf diese. Erinnerungen an schlechte Zeiten ebenso und auch hier hielt sie Distanz. Es war keine Trauer mehr, die sie erfasste. Einzig noch einen Hauch von Trauer darum, wie alles kam, was sie beide anging. Doch auch hier schwang sie letztendlich um auf eine gesunde Distanz. Vergessen würde sie es nicht, egal ob nun die guten oder schlechten Zeiten, doch hatte sie sich vorgenommen, Abstand davon zu nehmen, um ihr Leben weiterzuleben und nicht ständig, krankhaft vielleicht sogar an einem "Was wäre wenn..." zu klammern. Bloss die Lehre, die sie aus ihrem Leben mit ihm gezogen hatte, nahm sie mit sich.
Nach einer Weile wandte sich Felis herum, suchte noch den kargen Morsansschrein auf, wo sie für einen Moment der Andacht innehielt, dann nahm sie ihren Weg weiter, nunmehr in Richtung der nahen Küste, westlich vom Morsansanger.
Hier riss der Wind erbarmungsloser an ihrer Kleidung, zog durch jeden Spalt, den der Umhang nicht bedeckte und ließ sie von Neuem schaudern, doch griff sie in einen Beutel und zog eine Handvoll zarte, elfenbein-weiße, getrocknete Blütenblätter hervor, die sie von Rosen und ihrer Orchidee die vergangenen Monde gesammelt hatte. Einen längeren Moment starrte sie aufs Meer hinaus, dachte an eine Zeit im letzten Götterlauf zurück, in der sie sich nicht sicher war, ob sie alles, was damals passierte, überleben würde. Als sie gehetzt Draconis verließ, in ihren Armen ein kleines, schwaches Bündel, welches sich zu selten regte, bis es schließlich seinen letzten Atem ausstieß und die blauen, unschuldigen Augen sich für immer schlossen. Oft hatte sie den Gedanken an sie beiseite geschoben, doch jetzt griff die Erinnerung mit kalten Klauen nach ihrem Herzen, drückte für einen erbarmungslos langen Moment zu und ihre Miene erstarrte förmlich, während sie die mit Blüten gefüllte Hand vorreckte und nur einzelne Blütenblätter diese bereits im Wind taumelnd verließen. Ihre Augen begannen zu brennen, doch dann, als sie für einen Moment glaubte, sie würde innerlich fallen, öffnete Felis ihre Hand, entließ die gesammelten Blüten, die vom Wind teils aufs offene Meer gezogen, teils in den lichten, nahen Wald getragen wurden. Eilig begann Felis in Gedanken nach etwas zu greifen - nach ihren Freunden hier in Brandenstein, aber auch in Falkensee, ihre Gesichter, ihr Lächeln und Lachen in Erinnerung rufend; nach dem kleinen Jungen, den sie so oft als Neffen vorgestellt hatte, dass sie selber schon dran glaubte und welcher sie noch vor wenigen Zyklen erleichtert und fröhlich zugleich umarmte; an ihre Aufgaben, die noch auf dieser Insel vor ihr lagen und der Weg, den sie einzuschlagen gedachte, mit sich bringend den Gedanken an die Liebliche. Allmählich ließ der kalte Griff nach, friedvolle Wärme machte sich in ihrem Herzen breit und sie atmete trotz der Kälte etwas durch.
Nur wenige Augenblicke danach, als sie sich wieder im Griff bekommen hatte, machte sie auch hier wieder kehrt und zurück auf den Weg zum Nordtor Brandensteins. Ein Hauch von Melancholie blieb jedoch bestehen. Nicht nur wegen der Erinnerungen und ihrer stillen Andacht. Es lag auch an diesen Tagen nach dem Dunkeltief, die dieses Gefühl hervorriefen, wenn die Straßen von selbst sonst so geschäftigen Städten ruhiger als üblich dalagen; wenn in manches Haus die Trauer ob der Verluste der letzten Tage herrschte und wenn viele ihre Wunden, die sie vom Schrecken der dunklen Tage davongetragen hatten, leckten. Tage, die dem Gedenken an das Dunkeltief und den Toten gewidmet waren.
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