Nahezu Finsternis. Die Luft war kühl, nur mäßig feucht, ein ganz leichter Luftzug zog vom rechten Ende des Raumes, irgendwo aus einem Mauerspalt fließend, am Grafen vorbei, dabei die nahezu absolute Stille des Ortes durchbrechend – als wäre es ein leichter, flacher Atemzug. Von wem? Jenen die hier lagen? Der Vergangenheit? Des Dämonen Schuld? Der Vorwürfe und Selbstzweifel? Des Boten Morsans, der gerade dabei war eine Seele in Morsans Hallen hinüber zu geleiten? Was auch immer es wahr, Hagen empfand keine Bedrohung, sondern der leichte Luftzug gepaart mit der Stille füllte ihn mit einer inneren Ruhe aus, die den Gedanken Raum zum Atmen geben. Dem Grafen war es schlicht einerlei, was auch immer aus dem Schatten treten würde, müsste Graf Robaar von Saalhorn überwinden und sollte nicht auf ein Zeichen der Furcht warten.
Dann kam es. Gerade als der Graf die Augen öffnend seinen Blick von den gefalteten Händen hob und den schlichten Sarg ansah, bemerkte er es. Ein schmaler Strahl Sonnenlicht, vielleicht von der Fläche einer geballten Faust, traf Laskes Ruhestätte. Er musste seinen Weg durch eines der Kapellenfenster gefunden haben, vielleicht war der schwere Vorhang, der die Krypta von der Kapelle trennte, beim Hinabsteigen ein Stück offengeblieben sein. Jedenfalls fiel Felas Licht in diese dunkle, traurige und trostlos scheinende Welt. Langsam schob der Graf, mit freudlos-müdem Blick, seine Hand in den Lichtkegel … die Wärme spürend, mit einer seltsamen Faszination und Entrücktheit, für Sekunden, Stunden, Tage. Einen Moment lang drang Leben in die Finsternis des Todes.
***
Dular, ein Jahr zuvor. Ein schlichter Raum, wenig repräsentativ und eher zweckmäßig eingerichtet. Allenfalls die Tempelwächter an der Pforte vermochten den Eindruck erwecken, dass man hier etwas anderes als ein gewöhnliches Bürgerhaus betrat, dass dazumal die ordnende Hand einer Hausherrin vermissen lies. Der Empfang war kühl, geprägt von Etikette und Floskeln. Wie zu erwarten, denn Sonnacker – oder Custodias wie er sich neuerdings zu nennen pflegte – war ein Ärgernis vor Jahren gewesen. Durchaus fähig, aber aufwieglerisch und provozierend, eine Reaktion des Lehens heraufbeschwörend durch seine offene Verleumdung der vieregewollten Obrigkeit auf dem Eiland. Ein Freier der sich erdreistete, die Handlungen der Obrigkeit in Frage zu stellen. Ein Aufwiegler, wie so viele andere auch.
Wäre es nicht notwendig gewesen, der inzwischen zum Geweihten Astraels gewordene und sich als „Vater Custodias“ gebende Sonnacker wusste als Einziger Antworten auf die unausgesprochenen Fragen des Grafen, hätte man diese Person getrost übersehen können. Antworten auf Fragen, die Robaars Schuld zwar nicht lindern, aber zumindest die Ungewissheit beseitigen könnten. Aus irgendeinem Grund hatte sich der junge Ritter Robaar … Laske … in Abwesenheit des Grafen diesem Geweihten anvertraut. Das – und nur das – lies ein Gespräch mit dem Manne zu.
Hagen hörte zu, als der Astraelgeweihte zu sprechen begann: Nach Graf Robaar waren weitere Ritter und Freunde des Falken-Hochmeisters abgereist, aus mannigfaltigen Gründen. So wuchs zusehends die Einsamkeit Laskes, er sehnte sich nach Aufmerksamkeit von echten Freunden, von Vertrauten, um Lasten gemeinsam zu tragen und das Herz zu erleichtern. In diese Phase der Geschwächtheit des noch jungen Ritters stieß nun ein Wesen - nur als „Hutmacher“ bekannt – welches ihn zu einer dummen Handlung verleitete und einen Fluch auflud, den Laske nicht allein zu brechen im Stande war. Allerlei wurde unternommen, um den Hochmeister vom Fluch zu befreien. Schließlich zog man in die Ödnis um einem Dämonen, der den alten Tiefenbacher Friedhof heimsuchte, ein Artefakt abzujagen von welchem man sich die Lösung versprach. Doch trotz des geglückten Unternehmens änderte sich nichts an Laskes Zustand, sondern Einsamkeit und tiefe Traurigkeit ergriffen immer mehr Besitz vom jungen Ritter.
Was nun geschah vermochte selbst der Geweihte nicht genau zu schildern, nur soviel konnte er Preis geben, dass der Hutmacher erneut zuschlug und in Gestalt eines blinden Malers Laske verführte, ein Bild zu malen. Ein Bild, dass Laskes Traum darstellte. Ein Traum von Geborgenheit, Freundschaft, Zuneigung, Familie. Als die letzten Pinselstriche geführt und das Bild vollendet war, verlor sich Laskes Geist in eben jenem Bild und wurde dort gefangen, während der irdische Körper des Ritters zu einer steinernen, leblosen Statue wurde.
Mit äußerer Nichtregung verfolgt Hagen den Vortrag des Geweihten, jegliche Zweifel tief im Inneren verbergend. Der Geweihte hingegen schien ehrlich Anteil zu nehmen und wirkte bedrückt, dies alles noch einmal in aller Klarheit schildern zu müssen.
Custodias sprach weiter: Das dämonische Bild, Laskes Traum der zugleich Laskes Gefängnis wurde, stieß eine bittere Warnung aus, es nicht zu berühren oder gar bekämpfen zu wollen. Dessen ungeachtet berührte wohl dennoch ein hoher Geweihter Bellums das Bild – die dem Bild innewohnende dämonische Kraft schlug zurück, der irdische Leib Laskes in Form der steinernen Statue zerstob und ließ den toten, vertrockneten Leichnam des Hochmeisters zurück. Zugleich verformte sich das Bild und schreckliche Szenen wurden sichtbar, die aus Laskes Traum einen Albtraum werden ließen, den jungen Ritter folternd, voller Dämonen und finsterer Gestalten. Der Bellum-Geweihte schien, so führte der Astraeldiener weiter aus, sich nicht sonderlich für das Geschehen zu interessieren und ließ unbekümmert davon ab. Bis zum heutigen Tage hätte er sich nicht wieder damit befasst oder auch nur danach gefragt. Der Geweihte war Proveus Herand.
Hagen bebte innerlich. Eine tiefe unsägliche Wut stieg in ihm auf, doch gelang es ihr nicht, den schweren Panzer des Grafen zu durchdringen, der sich um die zutiefst menschliche Seele Robaars gelegt hatte. Was wäre geschehen, wäre Graf Robaar nicht hier, nicht in Anwesenheit des Astraelgeweihten, dafür aber im Angesicht Herands? Würden Ehrgefühl und Kodex ihn davon abhalten, in blindwütigem Zorn das Schwert zu ziehen und einen Unantastbaren, einen Geweihten Bellums, niederzustrecken? Hagen wusste es nicht. Und die Viere waren gnädig genug, ihn nicht auf die Probe zu stellen.
Während Hagen noch seinen inneren Kampf ausfocht, hob die Stimme des Geweihten wieder an und setzte fort, die immer schlimmer und schmerzlicher werdende Geschichte um Laskes Tod zu erzählen: Nach diesem Ereignis sei er, Custodias, vor das Bild getreten, sich dem Dämonen zu stellen versuchend, und erklärte, nachdem er seine Maske abnahm, selbst ein Freund des Ritters Laske zu sein. Er wollte Laskes Leid teilen und den Dämonen so besänftigen oder dazu bringen, vom jungen Ritter abzulassen. Die dämonische Kraft zog ihn in das Bild hinein. Dort sprach er mit dem Maler und warf ihm vor, Menschen und ihre Seelen wie Farben zu gebrauchen, da er selbst keine Seele hätte und damit unfähig wäre, etwas schönes und reines zu schaffen. Warum auch immer – der Dämon verschonte den Geweihten und sandte ihn zurück, forderte ihn zu einem Wettkampf heraus, ein Bild zu malen und sich mit ihm zu messen. Der Geweihte tat jenes und schuf ein vieregefälliges Bild, doch konnte er nicht obsiegen und wurde erneut in Laskes Bild hineingezogen wo Custodias Geist seine neue Heimat fand. Nach Tagen ließ der Dämon den Geweihten ziehen, nahm ihm aber für Monate das Augenlicht – einzig Bilder von Qual und Pein, wie ein nicht enden wollender Albtraum, nahm der Geweihte vor seinem inneren Auge war.
Doch hätte er nicht aufgegeben und sei später mit einigen Getreuen in die Behausung des Dämonen eingedrungen, wo er die Kunstwerke vernichtete und so die Macht des Malers bannte. Auch Laskes Bild wurde dabei zerstört und die Seele des jungen Ritters fand endlich Erlösung in Morsans Hallen.
Graf Robaar war tief erschüttert, aber unfähig auch nur den Anschein eines Gefühls zu zeigen. Laskes Seele mochte gerettet sein, doch würde der junge Ritter, der Schüler, der verlorene Sohn dem alten Robaar je verzeihen, wenn sie sich dereinst in Morsans Hallen gegenüberstünden?
„Hätte der Hochmeister gerettet werden können, hätte der Geweihte Herand das Bild nicht berührt?“ fuhr Robaar den Geweihten an. „Würde das etwas ändern?“ entgegnete Custodias ruhig. „Beantwortet meine Frage!“ brach es aus Hagen heraus, die Stimme bebend, das Blut in den Adern pulsierend. „Ich kann es nur vermuten, Durchlaucht. Aber ich denke schon. Ja.“ lies der Geweihte nach einem Augenblick verlauten. Hagens Blick lief sinnentleert gerade aus, während der brodelnde Zorn ihn nahe an die Klippe des Wahnsinns trieb. Zorn auf sich selbst. Zorn auf Herand. Zorn auf die Viere, die solcherlei zuließen.
Den Grafen zu beruhigen suchend, ließ der Geweihte Custodias einen Tee bringen, diesen dem alten Robaar anbietend. Jener jedoch ließ ihn unbeachtet stehen, stand abrupt mit finster entschlossener Miene auf. Langsam gewann er die Kontrolle über sich zurück.
„Gefühle sind ein Luxus, den auch ihr euch hin und wieder gönnen müsst – macht aus eurem Herzen keine Mördergrube … lasst mich Anteil an eurem Innersten haben und euren Schmerz lindern.“ waren die ruhigen Worten des Geweihten. Doch es war zu spät. Mit kalter, gefasster Gefühllosigkeit schmetterte der Graf dem Geweihten entgegen „Danke für das Gespräch, aber weiteres obliegt mir. Nur mir.“, wandte sich ab und rauschte aus dem Gebäude, weder auf Tempelwächter noch Gardisten achtend.
***
Tief durchatmend zog der Graf die Hand aus dem Lichtkegel. Eine Schlacht hatte er geschlagen – die Einzelheiten von Laskes Ende erfahren und zumindest Trost in der Gewissheit gefunden, dass wenigstens Laskes Seele erlöst worden war. Vielleicht war dieses Licht ein Zeichen, ein Balsam der sich auf die offene klaffende Wunde in seinem Innersten legen und den unstillbaren Schmerz zumindest für eine Weile zu stillen vermochte. Die innere Ruhe, ja vielleicht sogar der „innere Frieden“ den er für diese unendlich lange kurze Zeit empfand, erstarb bald wieder im Panzer aus Stein, der seit Jahren um Robaar Seele lag.
Die Schritte verhallten, der Vorhang wurde wieder sorgsam zugeschoben und die Finsternis hatte ihr Reich zurück.