Er schien vollkommen.

Wenn sie nicht irrte und ihr Blick sie nicht trügte, war dieser "Kasten" vollkommen rund geformt. Seine glatten Wände bildeten einen perfekten Kreis. Keine Delle, keine Beule oder Ausbuchtung... nicht mal ein Kratzer verunreinigte die glanzvoll, silberne Fassade, auf welcher ihr das eigene Spiegelbild verwundert entgegenblickte. Fehlerlos ließ sich das Scharnier öffnen und der Deckel nach hinten klappen. Doch das wertvolle Fundstück sollte sie auch hier nicht enttäuschen. Symmetrisch und nach Größe, Form und Nutzen aufgereiht lagen die verschiedensten Nadeln und Schneiderwerkzeuge auf einem Samtkissen. Hob sie jenes heraus lag auf dem Boden des Kastens eine kleine Schere, selbst das Gelenk zwischen den beiden Klingen blitzte in jenem teuren Silber. Wann hatte sie zuletzt Silber gesehen? Es musste hier wertvoller als Gold sein, das sie aus so vielen Quellen erwerben konnte... Doch mehr aber plagte sie seit einer Woche die Frage woher dieser Traum eines jeden Schneiders hergekommen sein mag. Wer würde ihr schon so etwas Wertvolles einfach kommentarlos und ohne jegliche Nachricht in ihren Briefkasten legen? Und wie bitter kalt hatte er sich an jenem Fundtage angefühlt... als hätte er ganze Tage und Nächte den kalten Winden der Insel frei offen gelegen...

Den siebten Tag nun saß sie am Tisch und betrachtete das Meisterwerk der Feinschmiedekunst... unschlüssig was zu tun sei... und doch verspürte sie dieses Jucken in den Fingern...

Gut einen, vielleicht zwei Zyklen stand die Gestalt in Weiß am Ritualkreis. Ruhe, Geduld.
Leise drangen geflüsterte Worte unter der Kapuze hervor.

Runen tauchten den Ritualplatz in rötliches Licht. Dies war die Weihe dieses Ortes!

Erregung durchströmte sie.

Roter Schein auf makellosem Silber! Ein Perfektes Kunstwerk! Sanft, liebkosend streichelten ihre behandschuhten Finger über das Nähkästchen.

„Es ist perfekt!“

Sie hatte das silberne Kästchen aus seinem dunklen Gefängnis geholt und aus dem Schrank auf die Theke befördert.

Die Fingerspitzen umfassten eine der silbernen, perfekt auf dem Samtkissen aufgereihten Nadeln, hoben sie auf. Es folgte ein zufriedenes Mustern, so etwas wie Vorfreude schlich sich mit gewisser Neugierde in die Züge der Schneiderin.

Wie banal, dass sie lediglich einen Faden schlichten Garns durch das Nadelöhr zog, aber sie wollte sich nicht von dem Kasten trennen und in den Keller spazieren um ihre Goldrollen hoch zu holen.. es sollte nur... ein kleiner Probestich werden. Nicht mehr... nur sehen, wie Silber durch das Gewebe gleitet, ob sich der Widerstand anders anfühlt.

Und dies tat es wahrlich, als sie nach einigen erstaunten Ansätzen feststellte, dass sie mit dieser Nadel nicht durch die aneinander gepressten Kett- und Schussfäden dringen konnte.
Noch ehe die Nadelspitze den Stoff auch nur berührte, haarbreit davor stand, da teilte sich der Stoff... ein kleines Loch entstand, als ob das feingewebte Material ein Eigenleben entwickelt hätte... ließ Awa die Nadel durch diese winzige Loch gleiten, schloss es sich wieder, sobald das Ende durchgezogen war.

Sie legte die Nadel sogleich aus der Hand.... entfernte sich etwas, blickte zur Türe auf, als eine Silhouette, ein einfacher Passant, einen kleinen Schatten über die Türschwelle warf.

Als sie die Nadel nun wieder aufgreifen wollte... da fasste sie ins Leere. Weder war sie auf den Boden gefallen, noch zwischen die Bretter der Theke gerutscht.
Erst als Awa sich entschied, eine zweite Nadel aus dem Kästchen zu nehmen und das Phänomen erneut herbeizurufen, da sah sie, dass alle Plätze auf dem Samtkissen wieder besetzt waren. Als ob sie niemals eine Nadel herausgenommen hätte.