Lasst mich heute Abend nicht allein...
Die Nacht nach Karols Tod hatte sie nicht schlafen können, die Ereignisse waren so plötzlich eingetreten, die Offenbarung über all jenes hatte sie erschlagen wie auch aufgeweckt. Der Tag aber war lang gewesen, sie hatte sich in die Arbeit gestürzt, wollte kurze Erlösung von dieser Bedrückung finden, die ihr die Luft abschnürte.
Und am Abend... am Abend sah man eine Frau erschlagen in den Sesseln der Schneiderei sitzen, die einen jeden der das Gebäude betrat nicht allein mit Wort, sondern auch mit seligsten Lächeln einlud, einfach einen Moment zu bleiben. Und sollte sie sich vielleicht schämen, nicht wimmernd in einer Ecke zu sitzen? Ja.
Der raue Johann zankte sich mit Sandir, Mugen und Olanor neckten sich in aller Freundschaft, sie lachten herzhaft und machten sich für die Schlacht am Wall Zuversicht. Und sie selber saß da, mitten unter den eigentlich Fremden, die sie kurzerhand zu Vertrauten machte... und wenn niemand hinschaute, da wich die Maske der übermäßig fröhlichen Schneiderin und ihre Augen und der Zug ihrer Lippen offenbarten die Trauer und die Schuld, aber auch das Glück dieser tiefen Erkenntnis in ihrem Herzen.
Denn am Ende hatte Karol ihr ein Geschenk gemacht.
„Wollte noch... einmal... etwas so sch... schönes wie... Euch... sehen.“
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Man sagte ihr, er würde sterben, er hat sich versündigt, er muss auf dem Scheiterhaufen, seine Seele ist verloren, er hat sich an dem Versuch eines Mordes vergangen.
Ja, sie hatte genickt. Das hatte er getan. So würde es kommen.
Aber es war nicht ihr Karol.
Der Mann auf dem Markt war nicht ihr Karol gewesen. Denn wenn sie an ihn dachte, dann sah sie einen vielleicht sechzehn.. siebzehn Jahre alten, hageren Burschen. Dann sah sie ein hilfloses Kind vor Augen, das den Respekt wollte, dem einen Erwachsenen gebührte, der eigenständig sein wollte, tapfer, anerkannt.
Sie hat den Zorn in ihm nicht gesehen.
Sie wusste nur, er kam gerne zu ihr, sah Blicke, die sie bewunderten. Keine Blicke die ihren Körper streiften, was man einem Jugendlichen nicht nachtragen konnte... es waren Blicke, als ob er ihr Wesen schätzte. Awa wusste von der Einsamkeit, welche diejenigen erleiden, die nicht wissen, wo sie hin sollen. Sie glaubte damals zu wissen, sie selber würde nie mehr glücklich sein, dachte aber ihm könnte es helfen, zu wissen, dass er immer zu ihr könnte.
Aber es war nicht genug.
Und er war zu ihr gekommen, saß weinend neben ihr, sprach von seinem Elend, seinen Eltern, seiner Schuld. Und kam danach nicht wieder. Nicht mehr als Junge.
Und sie hatte es nicht gemerkt. Wollte sie seine Worte nur nicht richtig deuten?
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Als zum ersten Zyklus des nächsten Tages auch die letzten sie ihrer Ruhe überließen, wanderte sie noch einmal zum Regal herüber, in welchem sie die Bestellungen lagerte. Ein kleiner, beschaulicher Beutel wurde herausgehoben... an seinem Band baumelte das Namensschild „Karol Niederweydt“. Er hätte die Sachen vor Monden abholen müssen, aber in der Hoffnung er käme wieder, konnte sie es nicht über sich bringen seine Bestellung auszusortieren. Und nun?
Nun würde sie seine Sachen zu jenen der anderen legen, die ihr etwas zurückgelassen hatten, ehe sie fortgingen.
Du hast deine Kindheit verloren. Du hast deine Jugend verloren. Du hast deine Zeit verloren. Du hast dein Leben verloren und nun auch deine Seele. Hast du jemals mit anderen Kindern gespielt? Hast du mit Burschen in heller Aufregung den Mädchen nachgestiert und den Erwachsenen Streiche gespielt? Du wirst niemals mehr sehen was Liebe ist, was ein Zuhause ist, niemals mehr abends mit Freunden zusammen sitzen, niemals das eigene Kind in den Armen halten. Du hättest niemals zu einem Mann werden können, der du sein wolltest, denn nur Seele und Herz hätten dir das gebracht.
Das alles hat ER dir genommen.
Und niemand hatte richtig aufgepasst. Auch sie nicht. Dabei hatte sie doch gesehen, dass SIE in seiner Nähe gewesen war.
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