Um sie war nur Stille. Eine unheimliche, dumpfe Stille. Eine solche, die entsteht, wenn man die Hände auf seine Ohren presst, wie es ein Kind macht, dass Lärm nicht länger ertragen will. Jeder kennt das.
Ihre Augen schlugen langsam auf. In der Konzentration, in der sie sich befand, reichte ihr das difus flackernde Licht der abgebrannten Kerzen, die vor ihr auf dem Boden aufgereiht waren, in deren weißem Wachs die geprägten elfischen Schutzrunen aufgeregt schimmerten. Vergewissernd betrachtete sie ihren Sitzplatz – den sauberen, hölzernen Boden. Das milde Schimmern des magischen Schutzes, den sie sprach, um sich vor neugierigen oder übermütigen Interventionen zu schützen. Das Flackern des Bannspruches, der vor dieser, kaum mit dem Auge sichtbaren, Kuppel lag. Der verhindern sollte, dass irgendetwas in seinem Inneren hinaus gelangt, ohne ihn überwinden zu müssen. Und die elfischen Schutz- und Bannrunen, die um sie zirkelten, nur um ihre Wirkung aufrecht zu erhalten.
Es war perfekt. Es war, wie es sein musste, wie es stets war.
Ihr Blick senkte sich herab auf den alten, abgewetzten schwarzledrigen Einband des Folianten, vor dem sie kniete.
Sie hatte ihn irgendwann wiedergefunden, inmitten des Papierhaufens eines umgefallenen Bücherstapels.
Durch Zufall, hätte sie gedacht, wenn sie es nicht besser wüsste. So wie man zufällig über eine unscheinbare Kostbarkeit stolpert, auf dem Weg durch eine wenig besuchte Gasse und sich erst nichts dabei denkt, bevor man irgendwann feststellt, dass dieser alte, wertlose Kupferring einem anderen viel bedeutete.
Doch Zufälle gab es keine. Oder kaum welche; so gut wie nie eben, musste sie sich irgendwann eingestehen und einen kleinen Teil einer Philosophie, nach der man eine Ewigkeit lebte, korrigieren.
Vielleicht gibt es etwas, das man Zufall nennen kann, weil es nicht von den Göttern, nicht von irgendeinem Wesen gelenkt worden ist, ob bewusst oder unbewusst.
Jetzt sah sie herab auf diesen alten Folianten, den sie schon einmal in den Händen gehalten hat. Damals hatte sie versucht, ihn an einem sicheren Ort verschwinden zu lassen und wagte nicht, ihn zu öffnen. Doch Zeiten ändern sich.
Ihre Fingerspitzen strichen über den ledrigen Einband, über die eingeprägten Lettern, die in keiner ihr bekannten Sprache eine Bedeutung hatten.
Sie murmelte konzentriert einige leise, elfische Silben. Ein fahles Schimmern zog jäh über das Leder, floß wie trübes Wasser durch Fugen und Einkerbungen und gab einen Zirkel feiner Schutzrunen preis, die sich über den Einband legten.
Ein magischer Schutz. Nicht ungewöhnlich für ein Buch, wenn es von großer Bedeutung für einen Magier ist.
Sie strich erneut über die Schutzrunen. Eine Rune nach der anderen erlöschte unter ihren Fingerspitzen und ein aufgeregtes Gefühl der Neugierde machte sich in ihr breit. Sie hatte schon lange kein solches Werk mehr in den Händen gehabt. War schon lange nicht mehr der bewussten Gefahr ausgesetzt und konnte schon lange nicht mehr ihren Dienst auf diese Weise erfüllen.
Maelve verschloss ihre Augen. Die letzte Rune erlosch.
Konzentriert und behutsam fuhren ihre Fingerspitzen an die ersten Seiten des Buches und schlugen es auf.
Sie las die einzige Zeile, die auf der ersten Seite stand und erstarrte noch im selben Augenblick.
Cyrris lo'ai Enlil dar Wis azag'ai Quil
"Du Närrin, mein Kind. Was habe ich dich gelehrt?"
Vielleicht war es dieses unheimliche Gefühl der Vorsehung oder einfach nur ein plötzlicher Schrecken, der sie dazu veranlasste, das Buch augenblicklich zu schließen und seine Schutzrunen zu erneuern.
Jedenfalls war es zu spät. Die Seiten schlugen auf, ein scharfer, hitziger Wind sauste um ihre Ohren.
Erst flackerte der innere Schutz ihres Sanktums, als eine plötzliche, fremde Macht versuchte hinaus zu drängen. Die elfischen Runen um sie herum flammten violett auf, bäumten sich dieser Macht entgegen, um sie im Zaum zu halten, während im Inneren der Elfenblick in aufgeregter Wachsamkeit umher ging.
Sie konnte nicht ausmachen, was Es war. Nur woher es kam, dass Es versuchte, hinaus zu gelangen und dass Es kraftvoll war.
Was dann folgte, hatte sie hunderte male getan, spielte sie tausende male vor ihrem geistigen Auge durch.
Ein ruhiger, konzentrierter Schwall beschwörerischer, elfischer Silben floß nur so über ihre Lippen. Magische Kräfte manifestierten sich, ließen sich von ihren Fingern formen und verweben, die dann mehr die eines Spielmannes glichen, der in reiner Intuition seine Figuren an Stricken lenkte.
Noch einmal bäumte sich die fremde Macht gegen ihren magischen Schutz auf, entflammten die Schutz- und Bannrunen in grellem Violett, erloschen einige von ihnen, als sie ihrer Kraft beraubt wurden.
"Nein...!", sprach sie nur in bloßem, konzentriertem Befehlston und verstärkte ihre Bemühungen noch ein letztes mal – und dann wurde es ruhig.
Das Buch schloß sich, die Seiten blätterten zurück, der schwere Einband schlug dumpf zu. Auf ihm erglimmten die vielen Runen aufgeregt. Dann erloschen auch sie.
Maelve schloß erleichtert die Augen – sie vergewisserte sich noch in einem kurzen Augenblick, das keine andere Macht als die eigene zugegen war, dann ließ sie die Schutz- und Bannsprüche fallen.
Sie atmete tief durch, wie jemand, der nach einer großen Anstrengung zum Rasten kommt. Frische Luft strömte in ihre Lungen und das Fiepsen des Sperlings, das ihr sonst auf den Geist ging, drang von draußen herein.
Sie strich durch ihr Gesicht. Ihre Hand fühlte sich taub an, das Atmen frischer Luft schmerzte und in ihrem Kopf spürte sie eine seltsame, unangenehme Schwere. Sie sah herab auf den schwarzen Folianten, der nun wieder unscheinbar und gewöhnlich war.
Die Elfe überlegte nicht lange. Es gab nicht viele Möglichkeiten, wie sie nun weiter verfahren könnte. Und sie entschied sich für die einzig Richtige.
Sie musste ihn an einen sicheren Ort bringen, bis sie erfahren könnte, was in ihm verborgen liegt und wie sie Es aus Mandon vertreiben konnte. Das war ihre Aufgabe.