Es war schon spät, die Nachtwächter hatten schon die erste volle Stunde der Nacht verkündet. Ein Käuzchen krächzte von einem nahen Baum herab, und irgendwo in den Gassen lieferten sich Katzen wohl ein Gefecht um einen alten, ranzigen Fischkopf. Das Licht Vitamalins zauberte Schatten auf das Pflaster vor dem Tempel, auf dem Marktplatz schlichen nur noch einzelne Seelen umher und wankten langsam in Richtung ihrer heimischen Betten. Ein Betrunkener torkelte lallend und summend vorbei, sich selbst sein Leid klagend, dass der Wirt ihn doch bestimmt betrogen hatte.
Eindrücke, die auch Jeronymus berührten; obwohl er sie nicht sah, hörte er sie doch. Er nahm den Duft der Stadt in sich auf, füllte seine alten Lungen mit dem Odem der Zivilisation und fühlte sich frei wie nie zuvor. Waren die Wanderwege des Festlandes ihm stets eine Heimat gewesen... der Glauben hatte ihn hier hin gebracht. Der Schweigsame lenkte nun seit ungefähr 80 Götterläufen seine Geschicke und sein Handeln, und nie hatte er ihm mehr vertraut. Mochte er selbst nun schon völlig erblindet sein und vielleicht auch nicht mehr ganz richtig im Oberstübchen sein - so wusste er doch immer noch auf Morsan zu vertrauen und seine Lehre zu verbreiten.
Jeronymus lächelte sein fortwährendes, friedfertiges Lächeln und gluckste vergnügt. Er hatte seinen Frieden schon vor langer, langer Zeit gemacht und tat, was sein Herr ihm verhieß. Trösten, wo Trauer Einzug hält. Zuhören, wo gesprochen werden will. Lindern, wo Not herrscht. Und den Weg in die ruhmreichen, ewigen Hallen ebnen, wo eine Seele zur Erlösung strebt.
Ein leises Rascheln ließ ihn aus seiner andächtigen Meditation aufhorchen: Direkt neben ihm stand jemand.
"Vater?" fragte die Stimme in ehrfürchtig leisem Tonfall. Ah, das junge Fräulein Dearen!
"Darf ich mich zu Euch setzen?"Er klopfte mit der Hand auf den behauenen Granit der Bänke am Brunnen des Marktplatzes, die er zuvor fast meditativ mit der freien Hand befühlt hatte. Das leise, lustige Plätschern des Wassers vermischte sich mit dem Rascheln ihres Umhangs.
Ihre Stimme... zeugte sie von Bedrücktheit?
Jeronymus und Amelia kamen ins Gespräch, sie stellten fest, dass sie beide aus Vandrien stammten - doch die Schicksale der Beiden hatten nie ihre Wege kreuzen lassen. Und im Verlaufe des Gesprächs spielte ein Novize des Ordens vom Ruhenden Hauche Mäuschen und notierte die Reden des alten, blinden Jeronymus.
Von der Hast und der Gier
Mein Kind, Ihr seid des reinen Herzens und ohne die unnötige Hast der Welt. Ihr nehmet Euch die Zeit, einem alten, blinden Manne zu lauschen, der viele Jahre durch die Reiche des Festlandes zog und keinen ganzen Tag am selben Ort verweilte. Wie spricht dies doch für Eure Klugheit, Eure Besonnenheit! Ein kluges Köpfchen, auf welches Fela und die Monde Tares doch strahlen dürfen - fürwahr, eine Freude für einen alten Mann.
So unterscheidet Ihr Euch vom Volke, das heutzutags durch die Gassen irrt. Was sucht es, das Volk? Wer treibt es an? Oder gar - was? Ist es die Dukate, die das Auge blendet, heller, als es Fela vermag? Oder gar die Jagd nach Ruhm, Wohlstand und Macht? Mein Kind, es erfreut das Herz des Alten, Euch bei mir zu wissen. Ein Zeichen, dass Ihr zur Ruhe kommen könnt und Euch dem Trott des Gemeinen entziehen könnet. Ich frage Euch sogleich, um Euer kluges Köpfchen zu prüfen: Was werdet Ihr in Händen halten, wenn Ihr an die Pforten zu den ewigen Hallen des Schweigsamen klopfet?
Ihr antwortet wahrlich klug und begreifet, was ich Euch lehren will. Leere Hände werden's sein, die Ihr beim Einlass habet. Und was mag dann folgen? Kann Eure unsterbliche Seele in der Gerechtigkeit, der Weisheit, der Gnade und der Güte aufgewogen werden, wenn Ihr sie zu Lebzeiten auf Tare mit Dukaten und falscher Zier beladen habt?
Leicht wie eine Feder wird sie sein! Ein Fliegendreck in einer Waagschale, deren Gegenüber die Tugenden enthält - sie wird dem nicht standhalten. So sehnet Euch nicht nach den falschen Idealen einer Zeit, sondern nach der Vollkommenheit Eurer unsterblichen Seele!
Das Beerdigungsritual
Mein Kind, Ihr fragt, warum die sterbliche Hülle der unendlichen Seele auf Tare verweilet und ihr beigegeben wird, so die Seele Ihre Reise antritt? So besehet Euch die Welt, auf der wir wandeln. Seid meine Augen, und sagt es mir!
Den Erdboden seht Ihr, wohl auch das Gras. Die Steine am Wegesrand, die Blüten und Pflanzen. All dies und noch mehr sehet ihr auf der Oberfläche der Welt, auf der wir wandeln und unsere Seele zu neuen Ufern führen. Ist Tare unendlich? Mein Kind, Ihr antwortet weise - alles ist vergänglich. Ein schlaues Kind seid Ihr, fürwahr!
Nun blickt in den Himmel, mein kluges Köpflein, und sagt mir, was Ihr dort sehen mögt! Hei, die Sterne am Firmament, umrahmen sie doch einen wunderschönen Vitamalin. Die Unendlichkeit, die Ihr blickt, schwebt über uns und stellet dar, was unsere heilige Seele anstrebt!
So denkt darüber nach, dass Tare, über die wir wandeln, unser Fundament und unsere Grundlage ist, weshalb wir sind. So sich unsere unsterbliche Seele von den sterblichen Resten unseres Daseins löset und sich gen der Ewigkeit emporschwingt, so sei es doch nur gerecht, ein Endliches zu einem Endlichen hinzuzufügen. Das Unendliche - unsere Seele - fügt sich nun den unendlichen Hallen der Ewigkeit hinzu.
Von der Trauer
Wahrlich, mein Kind, dein Herz ist mit Trauer beladen. Kummer macht dein Gemüt schwer, und dein Essen mag dir fad erscheinen, ist dir doch die Würze deines Lebens entschwunden. Doch warum du trauerst, frage ich dich. Du trauerst einem Jemanden nach, der dir dein Dasein auf Tare erstrebenswert gemacht habe, ist deine Antwort - doch ich antworte dir dieses:
Ersinne dir ein Haus, das du bauest, gemeinsam mit einem Jemanden. Ihr legt viele, viele Steine aus. Ein Kiesel hier, ein Schieferchen dort, ihr mischet die mannigfalten Sorten untereinander und begründet damit das Fundament des Hauses. Welche Pracht, ist doch der erste Schritt geschafft und somit ein solides Fundament der Gemeinsamkeit geschaffen!
Ihr errichtet Wände, die einen Raum begrenzen mögen. Ein Raum, der Euch und dem Menschen gehöret und Euch von dem Volke scheidet.
Doch nicht ganz! Eine Tür muss da herein, und ein Fenster! Eine Türe soll doch garantieren, dass das Haus betreten und wieder verlassen werden mag. Das Fenster sei die Quelle eines erfrischenden Windes, der von außen ins Innere Eures Hauses dringt.
Und nun? Hei, mein Kind, wieder klug gesprochen - ein Dach muss darauf. Hält es doch Widrigkeiten fern und schließt Euren Raum, so dass Ihr die Zweisamkeit genießt.
Was die Trauer mit einem Hause zu tun habt, fragt Ihr? Mein Kind, so will ich Euren klugen Kopf noch mit mehr Wissen füllen!
Das Fundament bestehet aus so vielen Steinen, die - jeder für sich - ein Fragment, eine Begebenheit, eine Erinnerung und eine Gemeinsamkeit Eurer ist. Sie bilden das Fundament für das Haus der Liebe.
Die Wände bedeuten Eure Zweisamkeit, Euren gemeinsamen Raum, Euer gegenseitiges Vertrauen. Wo die Tür doch noch für weitere Menschen in Eurem Leben sorgt und Euer Vertrauen auf die Probe stellen mag, sorge das Fenster für frischen Wind zwischen Euch, so dass Euch niemals langweilt.
Das Dach - der Abschluss und die Vervollkommnung des Ganzen - letztenendes ist Euer Vertrauen, das Ihr über die Zeit gewonnen haben möget. Erhaben thront es über allem, was eine Widrigkeit sein will, und hält Euch wohlig und warm, behütet Euch vor dem Übel, welches dort draußen über Tare wandeln mag.
Dieses Haus als Vollständiges ist so denn Euer Herz, mein Kind. Es ist ein Jemand ausgezogen - doch reißt Ihr es deshalb nieder?
Ihr sprecht wahr, kluges Köpfchen - natürlich nicht! Ihr betrachtet es, und voller Stolz, Zuneigung, Liebe und Ehrfurcht vor dem Erreichten erinnert Ihr Euch dankbar an das, was Ihr geleistet habt. Ihr trauert nicht, Ihr erfreuet Euch an dem, was Ihr habt und gemeinsam erreichtet. Und eines fernen Tages - so möge Euch die heilige Viereinigkeit ein langes Leben bescheren - sehet Ihr Euren Jemand wieder und blicket zusammen auf das Haus der Liebe, welches Ihr errichtet habet.
Mit Euch sei die Ewigkeit und die Ruhe und die Besonnenheit,
mein Kind.
Ael.
Der Greis gluckste fröhlich, als Amelia ihm die Hand tätschelte. Erleichterung lag in Ihrer Stimme, als sie nun mit ihm sprach. Sie dankte ihm für das, was er ihr gesagt hatte, für die Weisheit, die er mit ihr geteilt hatte. Jeronymus musste schmunzeln.
"So danke nicht dem alten, blinden Narren, der des Nachts auf einer Marktbank sitzt - danke dem Herrn im Gebet für die Lehre, die er verkündet."