- Erster Teil -
Das Mutterband ist nicht so rasch geknüpft, dies geschieht nur durch eine lange persönliche Bekanntschaft.
Eilig hatte sie die engen, geschäftigen Gassen durchschritten und laut war das Getöse der Händler und der Transporteure, das Gebrüll der Stadtschreier und der Waschfrauen an ihr Ohr gedrungen. Beinahe ein Schock war es für Shanyas feines Gehör, als sie um die Ecke bog und den Innenhof des zweistöckigen Herbergshauses betrat. Lächelnd blickte sie sich um, das Wasser in der hauseigenen Zisterne plätscherte leise und die großen, groben Holztische in der Mitte des Hofes mit den angefügten Bänken waren frisch gescheuert worden. Der Eimer mit dem Scheuersand stand noch daneben und die Wurzelbürste lag oben auf. Shanyas fröhlicher Blick wanderte nach oben und zählte die Schwalbennester unter dem Dachfirst: Dieses Jahr war wieder eines hinzugekommen und so prangte nun ein halbes Dutzend dieser kugelförmigen Hängebauten an der windgeschützten Stelle. Shanya lachte auf, als sie sich an den Ärger Parlas erinnerte, den sie mit den weissen Kotstreifen der Vögel an der Hauswand hatte. Eines Tages stand Parla schon mit einem langen Besenstiel vor den Nestern und wollte sie herunterholen, doch das Gezwitscher der Jungvögel im Nest brachte sie letztlich mit halb ärgerlichem, halb mitleidigem Gesicht von ihrem Vorhaben ab. Stattdessen ließ sie den Schreiner von neben an ein Holzbrett unter den Nestern anbringen, welches sich leichter reinigen ließ als die raue, gekalkte Wand.
Da kam die resolute Parla schon die Treppe zum oberen Stock auf den Hof heruntergestapft. Ihre dunklen Haare mit den immer zahlreicher werdenden grauen Strähnen hatte sie mit einem geblümten Tuch gebändigt, doch ringelten ihr einige Locken in die Stirn und das Gesicht, welches vom Alter und der harten Arbeit gezeichnet war, jedoch immer noch an die heißblütige, südländische Schönheit, die sie in ihrer Jugend gewesen war, erinnerte. Offenbar musste Parla zweimal hinsehen, bevor sie Shanya, die sie mit einem offenen Lächeln empfing, erkannte. Als diese Erkenntnis endlich gelungen war, ließ mit einem spitzen, aber freudigen Schrei ihren Eimer polternd fallen und rannte auf die Besucherin zu um ihr in die Arme zu fallen. Shanya nahm diese Umarmung gerne an und vergrub ihr Gesicht in der Schulter der mütterlichen Freundin und atmete tief ein. Der Geruch von Kaminfeuer, Gewürzen südländischer Herkunft und der vertraute, körpereigene Geruch Parlas, drang ihr in die Nase.
"Bei allen Mächten, Bellum und Vitama und unserem Herrn Grafen... Shanya, was habe ich mir Sorgen gemacht", begann Parla dann loszusprudeln. "Lass mich dich ansehen, Kindchen, meine Güte, du siehst ja ganz verhungert und müde aus. Kriegst du im Ordenshaus nichts anständiges zu essen? Du kannst Vitama danken, dass ich immer etwas auf dem Feuer habe für dich, Ji-Lla..."
Ji-Lla, so wurde Shanya von Parla von Anfang an genannt und es bedeutete soviel wie süßes Kind. Shanya kam gar nicht zu Wort und wurde von Parla direkt in das Haus hineingeführt, in die gute Stube, zum Feuer und zum Esstisch für den engeren Kreis der Familie. Die Herbergsmutter sprach, nur unterbrochen von kurzen Atemzügen, ohne Unterlass von den täglichen Sorgen und Nöten, von unfreundlichen, schmutzigen Gästen aus dem Herzen Galadons in ihrem Haus, von den schelmischen Umtrieben ihres Sohnes Numar und wie lange sie schon nichts mehr von ihrem Gatten gehört hatte, der wieder einmal auf seinem Handelszug in den Süden war und, verflixt noch eins, sein Versprechen regelmäßig zu schreiben, wieder einmal nicht hielt. Über all dies seien ihre schweren Gedanken noch von der Aufregung gekrönt gewesen, wie es ihr, Shanya, denn nun gehe und wie sie sich geschlagen habe in den Prüfungen und dass es zu befürchten stand, ob sie vielleicht verletzt oder gar, Vitama bewahre, zu Tode gekommen wäre. Man höre ja so einiges von diesen Bellumsriten der Galadonier und so weiter und so fort.
Im Laufe dieser Tirade, die Shanya nur mit beschwichtigenden, einsilbigen Worten begleiten konnte, landeten vor ihr auf dem Tisch ein Körbchen mit frisch gebackenem Weißbrot, ein Tonkrug mit Wasser und eine bis an den Rand gefüllte Schale mit einem scharfen Bohneneintopf. Da unterbrach Parla ihren Redeschwall: "Jetzt iß erst einmal was, Ji-Lla! Und erzähl mal was von deinen Prüfungen, du sagst ja gar nichts."
Shanya lächelte vergnügt und griff nach dem Holzlöffel und begann nun langsam zu essen, während sich ihre Herbergsmutter vor ihr auf einen kleinen Schemel setzte und sie gespannt ansah.
Langsam begann sie zu erzählen von ihrer Prüfung, immer wieder nachdenklich nach draußen blickend und nach den richtigen, den wahren Worten suchend. Doch dann sprudelte es aus ihr heraus und alles kam wie von selbst, bis sie zum Ende kam.
"Es war ein unbeschreibliches Gefühl, als ich Bellum so nah bei mir spürte. Du weisst ja, dass ich meine Tugendhaftigkeit bewahren konnte und noch nie bei einem Mann lag," sprach sie ohne Erröten und sah Parla offen an, "aber ich glaube, das brauche ich nicht mehr, denn diese Erfüllung, diese Kraft, dieser Mut in mir, das kann mir sonst keiner geben. Ich führte meine Klinge leicht wie nie und die Rüstung war nicht mehr schwer, sie trug mich eher zu meinem Ziel. Es war, als würde ich fliegen. Und ich fliege immer noch auf Seinen Schwingen, Seine Ruhe ist in mir und mein Jähzorn ist lange nicht mehr so schlimm, wie es einmal war. Er hat mich angenommen als Seine Schwertmaid, Ila. Das ist ein unbeschreibliches Gefühl." Versonnen sah Shanya in das Licht der Fela, welches durch die Fenster leuchtete und ebenso versonnen saß Parla vor ihr und streichelte sanft den silbernen Umhang ihrer Ziehtochter.
"Ich bin so stolz auf dich, Ji-Lla," wisperte sie leise und küsste den Saum des Umhangs. Shanya errötete leicht und senkte dann den Blick, da hörte man von unten lautes Gepolter und einen gezischten Fluch.
Ein Jüngling kam die Treppe heraufgelaufen und warf einen erst missmutigen Blick in die Küche. "Ila, hast du den Eimer im Weg liegen...?!" Da sah er Shanya und sein Gesicht erhellte sich. "Kun-Lla," rief er freudig und stolperte hinein, dann verharrte er mit einem unsicheren Blick vor ihr und knetete seine Finger. Die roten Haare, welche wie Feuer im Licht der Fela leuchteten, standen wirr von seinem Kopf und die schweren Lider waren halb über seine Augen gefallen.
Man mag es sich schon denken, dass hier Numar, der Sohn von Parla, nach Hause gekommen war. Der etwa sechzehnjährige Sproß der endophalischen Familie war ein Herumtreiber und Schlawiner erster Güte. Mehr als einmal stand ein schimpfender Händler vor Parla, der ihrem Sohn vorwarf einen Apfel oder eine Birne aus seiner Auslage gestohlen zu haben. Parla brauchte Numar dann nur anzublicken und alle Lüge war dahin. Ihr gegenüber konnte er nicht unehrlich sein, schließlich war sie seine Mutter. Sie bezahlte den angerichteten Schaden dann kommentarlos und strafte ihren Sohn mit Schweigen und Nichtachtung. Diese Zeiten waren wohl die strebsamsten und fleißigsten von Numar, denn um dieses unheilvolle Schweigen seiner Mutter zu brechen, versuchte er sich anfangs immer in Späßen und Dollereien, doch diese fruchteten nichts bei der gütigen, aber strengen Frau. Dann ergab sich Numar meist seinem Los und schuftete die Nacht durch um seiner Mutter Freude und Stolz zu bereiten. Am nächsten Morgen stand dann immer ein reichhaltiges Frühstück für den Jungen bereit, mit viel Honig und Marmelade, weißen Brötchen und warmer Milch. Da war dann meist aller Streit und Unmut vergessen und die beiden waren wieder ein Herz und eine Seele.
Shanya stand auf und lächelte ihren brüderlichen, jungen Freund an. Dann breitete sie die Arme aus. "Komm schon her, du Vagabund," lachte sie und als er dann freudestrahlend auf sie zusprang, schloß sie ihre kräftigen Arme um ihn.