Contrapositum
Sie betete wie nie zuvor in ihrem Leben. Für Stunden verließ sie des nächtens das gemeinsame Bett um nach unten zu schleichen, alle Vorhänge zuzuziehen um schließlich, bis kurz bevor er erwachte, auf den Dielen kniend zu verharren und zu beten.
Jeder Muskeln in ihrem Körper, als sie sich selbst geißelte, selbst quälte, sehnte sich nach Erlösung aus der unbequemen Position. Doch sie gab ihrem schwachen Körper nicht nach.
Sie wollte ihren Willen beweisen. Ihren Willen nicht versagen zu wollen, trotz dessen, dass sie so schwach ist.
Was trug sie für Zweifel in sich, was trug sie für Sünde in ihrem Herzen, ihrem Kopf.
Stets war sie dankbar den Ehrwürdigen nicht in die Augen blicken zu dürfen, denn sie wusste, dass jeder einzelne Fehl, jeder Makel und vor allem dieses eine Verlangen – jene süße verbotene Frucht, die sich erst vor kurzem für sie offenbarte – sofort erkannt worden wäre.
Jedesmal wenn sie seine Hände sah – oh, wie wünschte sie sich diese auf ihrer nackten Haut.
Jedesmal wenn sie seine Augen sah – dieser Blick, der so viel Strenge und so viel Güte in sich barg.
Jedesmal wenn sie ihn roch – es erinnerte sie daran, wie nah sie ihm doch sein könnte, wie sie danach selbst nach ihm riechen würde.
Einmal wurde sie schwach und er hat sie zur Vernunft gerufen, auch wenn er ihr Angebot nicht ausgeschlagen hat. Dies war auch das erste Mal in ihrem ganzen Leben, dass sie es wollte, es verlangte. Auch wenn dieses Verlangen aus der Angst geboren war, ihn verlieren zu können.
Um so größer waren die Vorwürfe die sie sich selbst machte, als sich herausstellte, dass in dieser Situation sein Leben nicht in Gefahr war – dafür nun um so mehr…
Niemanden hatte sie um ihr Gewissen zu erleichtern, außer jener eine Schüler. So schroff und seltsam wie er vielleicht auf andere wirkte. So sanft und streng war er zu ihr. Sie liebte diesen Mann, doch nicht wie eine Frau einen Mann liebte, sondern wie eine Schwester die ihren wahren Bruder endlich fand.
Ja, es erinnerte sie stark an die Liebe die sie einst empfand. Damals als ihre kleine Welt, die nicht mehr offenbarte als das, was vor ihren Augen war, noch in Ordnung war.
Die Liebe, die rein war, die keine Gegenleistung verlangte. Sie wollte ihm alles geben und konnte - vor allem wollte sie - nichts dafür verlangen.
Ganz anders war es bei „ihm“. Sie verzerrte sich nach ihm, wollte ihn besitzen, ihn für sich beanspruchen, am liebsten vor ganz Tare verstecken, auf dass er nur noch sie ansieht – für sie und den Herrn atmet, lebt, existiert.
Oft überlegte sie, ob es Eifersucht war, die sie zu diesem schändlichen Gedanken trieb. Doch obwohl er eine andere Frau aufsuchte, teilweise die Nächte dort verbrachte, es machte sie nicht traurig oder wütend.
Nein, Eifersucht war es wahrlich nicht. Etwas viel tieferes, nicht so etwas nichtiges wie das Gefühl, das eine eifersüchtige Frau in sich trug wenn ihr Mann eine andere bettete.
Viel mehr war es die Angst, dass er eines Tages nicht mehr zu ihr kommen würde, nicht, weil er es nicht möchte, sondern weil er es nicht konnte. Sie wollte ihn beschützen, vor allem Leid bewahren. Doch das könnte sie nur, wenn sie stets bei ihm ist.
Doch allzu oft musste auch sie gehen. Immer öfter bekam sie von vielen Seiten Aufgaben die es zu erfüllen galt.
Sie war ehrgeizig, sie wollte alles gleichzeitig und doch hatte sie das Gefühle sie käme nicht voran. Ein Rückschlag nach dem anderen hatte sie zu verzeichnen, keine Besserung in Sicht, egal wie oft sie sich gedacht hatte, dass es besser werden würde, dass sie es schafft, dass sie es dieses eine Mal wenigstens richtig machte. Wahrhafte Panik kroch in ihr hoch bei jeder einzelnen Tat die sie Tag für Tag vollbringen sollte und auch wollte. Sie fürchtete das nächste Treffen, fühlte sie sich doch jedes Mal als würde sie dem Henker vorgeführt werden, und man selbst wusste nicht, ob man schuldig war oder sich vielleicht im letzten Moment doch noch ein Lichtblick auftat um den Hals vor der Schlinge zu retten.
Ihr jetziges Leben erschien ihr wie ein gerichtlicher Prozess und immer musste sie sich selbst den Richtern vorführen, die ihr bescheinigten, dass sie in der Tat schuldig, unwürdig und vor allem unnütz war.