Ahnung
Die Nacht war ungewöhnlich kalt, zumindest breitete sich die Kälte entgegen der Raumtemperatur ungewöhnlich stark in seinen Fingerspitzen aus. War es die Diskussion mit dem Geweihten gewesen? Oder der Anblick des auf den Stufen der Kapelle zu Brandenstein sich Übergebenden? Das betreten der Kapelle? Das Gespräch? Der beinahe-Wutausbruch dort? Warum nur fühlte er sich so leer und ausgezehrt, nach diesem nun zweiten Besuch? Hatten seine ehemaligen Brüder dasselbe erlebt?
"Ihr seid willkommen." Wie konnte er das sagen? Besonders nach der Offenbarung der Schrift, welche sie sich gemeinsam angesehen hatten? Etwas stimmte nicht, ganz und gar nicht. Etwas war verschoben worden, ein Bruch im Gefüge des üblichen Rollenspiels. Seelenkampf um jeden Preis? Ein bizarres streben nach Erkenntnis? Oder war es wirklich so einfach? Die Mehrung der Streitkräfte für das, so war er sich nun beinahe sicher, bevorstehende Ende der Zeit? Ein Blick wurde aus dem Fenster des Büros geworfen, draussen herrschten Stille. Die Sicht gab den Südlichen Wall der Stadt preis, von der erhobenen Position der Burg konnte man bis auf das Meer hinausblicken. Nach jenem kurzen, trüben Starren hinaus widmete er sich wieder dem Hadern vor sich, einige schwachsinnige Worte darauf gekritzelt, welche sogleich wieder samt dem Blatt vernichtet wurden.
"Ihm muss bewusst sein, wer wir sind, und dennoch sind wir willkommen? Ist dies der unüberwindbare Bruch in unserer Existenz, nach dem ich gesucht habe? Die Grenze, der Wall an dem es unmöglich wird, eine Einigung zu erzielen? Bis zum Tage des Weltenbrands? Die Seelen unfähig, getrennt durch das fleischliche, sich zu vereinen und gemeinsam der endgültigen Entscheidung zu harren? Will er uns... mich nur auf die Seite der Viereinigkeit ziehen, um das Ende zu beeinflussen?"Eine Passage des Textes kam ihm immer wieder in den Sinn, wie losgelöst vom Rest, brannte sich regelrecht in seinen Geist.
"...dann stehen die Sterblichen zusammen wie ein Stein in der Brandung! Es war kein Platz für den Gottkönig. Oder bezog die Schrift tatsächlich... auch auf uns? Die Zufälle waren zu groß, um noch als Zufälle zu gelten. Die Zeichen waren alarmierend. Hier, in dieser Stadt, unter diesen Umständen, diesen Zeiten. Sie sahen die Zeichen nicht, doch waren sie da, eindeutig. Ein gemeinsames streben nach Erkenntnis. Ein Mangel an Erkenntnis. Wie anmaßend ihm die Worte vorkamen, zu jener Zeit als sie gefallen waren. Eine Herausforderung war es gewesen.
Der Geweihte wollte sein, im hier und jetzt. Natürlich. Den Griff nach der wahren Erkenntnis nicht wagen, der
Einen Wahrheit, welche die Schrift verhieß. An einem Ort verweilen, an dem die Viereinige Schöpfung Beständigkeit hatte, und das verstoßene, verbannte Element auf der Lauer lag - nicht einmal verborgen - aber sich untilgbar durch die Sphäre zog. Mit einem schwermütigen Seufzen lehnte er sich in dem alten, durch die fast ständige Beanspruchung bereits ordentlich geschändeten, knarzenden Stuhl zurück.
So viele Fragen, so wenige Antworten... Schlaf. Nur noch Schlaf. Was er brauchte war Ruhe. Viel Ruhe. Doch die Zeiten erlaubten dies nicht. Die Zeit, überhaupt, war es doch, um die sich alles drehte. Benommen senkte sich der Kopf langsam hinab, die Zeit forderte ihren Tribut. Die Vergänglichkeit mahnte den Schlaf an, erinnerte an die Vergänglichkeit, das stete Verbrauchen von Energie.
Seele

Schwer fällt es mir, mich zu erinnern... Kindheit, die Anfänge des Bewusstseins. Wie viel mir noch gefehlt hat, wie naiv ich in meinem geglaubten Glück war. Je mehr ich mir meiner bewusst wurde, desto schlimmer wurde es. Als wäre ich gefangen - ein wachsendes Gefühl der Machtlosigkeit - gegen die Welt, die mich umgibt. Der Gedanke von Bestimmung, der Unabänderlichkeit der Dinge, frisst sich wie ein Geschwür in meine unsterbliche Seele. Wie durch ein verschwommenes Glas, einen Spiegel, sehe ich mich wachsen, größer werden, aber nicht weiser. Das wahrhaftig wichtige wird verzerrt, gerät in Vergessenheit. Dieses Gefühl, einst eine Mischung aus Neugier und Verzweiflung, der Neugeborenen Seele, weicht dem beugen, dem brechen im Angesicht des Dinglichen.
Habe ich mich erst in diesem Leben dazu entschieden, mich nach der Befreiung aus diesem Leid zu sehnen? Oder war ich schon lange davor ein Teil des Einen? Ich reise durch das Land, schaue mir die Welt an, entdecke die Insel, die mir meine Freiheit verspricht. Siebenwind wird sie genannt. Ich treffe Seelen, die mich zu verstehen vorgeben, die mich zu verstehen scheinen. Und doch scheint etwas zu fehlen, ein Verständnis für die Überwindung dieser widerlichen Welt, die mich gefangen hält, ist vorhanden, aber es verbirgt sich. Sichtbar, aber schwer zu greifen. Manche sprechen von einem Neubeginn, manche sprechen von einem Ende der Zeit. Das Ende aller Dinge? Ich sehne mich nach dem Ende, um endlich wieder wirklich frei zu sein. Der Weltenbrand wird über mein Schicksal entscheiden. Ich sehne ihn herbei.
Wie dem auch sei, da gibt es Ordnung, und da gibt es Chaos. Ich werde das Chaos brauchen, um mich zu befreien, glaube ich. Wissen kann ich es nicht. Ich verfluche diese Existenz. Liege ich falsch, bin ich verdammt, auf ewig. Doch ich habe mich entschieden, wie mir dämmert, schon lange, viel zu lange, bevor ich in dieser Welt angekommen bin.
♫

Ich sehe die Stadt Brandenstein, doch sie erscheint mir in seltamer Pracht - in Ausmaßen, die gar nicht sein können. Ein gigantisches Bankett, Tanz und Spiel. Ein nackter Glatzkopf läuft durch die Räumlichkeiten, mit einer Krone auf dem Haupt. Ich will sie ihm wegnehmen, aber er lässt mich nicht, und haut mir mit dem goldenen Zepter auf die Finger. Andere fressen sich satt, ihre Leiber dem bersten nahe. Ich verstehe es nicht. Es ist Wahnsinn. Alle tanzen, kreuz und quer durch den gigantischen Raum, auf den Tischen, jeder mit jedem. Ich sitze abseits, ich sehe einige, denen es ähnlich geht. Ich mag sie. Sie sind mir ähnlich, nur wissen sie es noch nicht. Ich kann ihnen nicht sagen, was ich bin. Ich glaube nicht, dass sie mich verstehen würden. Ich muss verschlossen bleiben, um nicht angreifbar zu werden. Der König haut mir wieder auf die Finger. Mir reicht's. Ich gehe hinaus, schaue hinaus in die Ferne. Ich will fort von diesem Ort, wie lange muss ich noch warten? Bruder Iycheas, du hast mir einen Weg gezeigt, den ich für unmöglich hielt. Wir können sie alle hinausholen, alle befreien. Ich erhebe mich und hoffe, stelle mir die Erlösung vor. Ich sehe Tare sich winden, ich sehe die Macht des Einen, ich sehe die einstürzenden schwarzen Säulen, die Treppen zu Morsans Hallen, deren aufgestoßene Tore. Der Sieg ist nah.
Jedoch...Ich gehe die Stufen hinauf, und was ich sehe ist Zeitlosigkeit. Niederlage. Belügst du mich, Iycheas? Ich verspreche mir mehr. Ich sehe den Sphärenwall durchbrochen, ich sehe die Viere verwundet und vergangen durch die Endlichkeit. Nichts wird ewig sein, alles wird enden. Nur das Nichts wird ewig sein. Ich verlange Perfektion. Ich verlange das Ende. Als ich endlich am Ende der Stufen angekommen bin, fahren unzählige Felstrahlen zu mir, an ihrem Ende bilden sich gleissende Hände, die mich in tausend Stücke zerreissen. Hast du am Ende mehr um dich geschart als wir - als ich es vermochte?

Ich stehe auf einem Plateau, am Ende aller Dinge. Um mich herum bricht Chaos aus, Materie entsteht und zerfällt, bildet bizarre Formen, umschlingt mich, nimmt mir das Bewusstsein. Mein Körper löst sich auf, es ist endlich geschafft. Ich bin am Ende angelangt, und mit mir alle anderen. Der Eine hat gesiegt, und was nun folgt, liegt jenseits des greifbaren, wie du es schon sagtest. Doch es ist die Zeit des Einen, nicht des Zeitlosen. Denn ich habe mich dazu entschlossen, das Eine zu beseelen. Wirst du meine Hand nehmen und mit mir auf das Ende aller Existenz warten?
Ich suche nach Seelen. Ich will mich bereiten. Die Welt um mich herum wird dunkel. Wie soll ich jemals der selbe sein?
Wie kann ich jemals willkommen sein?
Als er wieder zu sich kam, mit lautem knarzen des Stuhles begleitet aufschreckte, allein in dem Raum, war der größte Teil des Traumes bereits verschwunden, zurückgedrängt in die hintersten Regionen seines Verstandes. Nur ein leises flüstern umgab ihn, die altbekannte, ihm so unschuldig wie noch nie erscheinende Stimme hallte in seinen Gedanken wieder:
Du hast noch so viel zu Tun, bis es soweit ist, mein Liebster.Ein ungewöhnlicher Drang kam ihn ihm auf, und als er die Frau an der Türe sah, wusst er, dass sie es Wert war, so wie viele andere auch. Sie mussten nur....
Erkennen.