Eingehüllt in ihrem abgewätzten Braunbärumhang saß sie auf dem Holzboden jenes Gebäudes, das in ihrer Nase nach Krankheit und Tod stank. Alles war sauber und ordentlich und die Gerüche von Kräutern, Aufgüssen und allerlei Gemischen übertünchte, was ihr die Nackenhaare aufstellte.
Immer wieder sprach man sie auf Galadonisch an, sie solle sich mit den anderen an den Tisch setzen, zu diesen Weißen, sich mit ihnen über ihre Nutzlosigkeiten unterhalten. Die, deren Namen so vollkommen frei von Bedeutung waren. Sie kannte ihre Gesichter. Aber sie sahen ihres nicht.
Bahiyah zog es vor, von ihnen weg zu bleiben, sich an den Treppenabgang zu kauern, sollte es nötig sein zu flüchten - wollte beobachten, wollte zuhören, was sie in der Lage zu verstehen war. Und als dieses Mädchen dazu kam, wurde nur mehr der Wunsch geweckt, zu gehen. Doch etwas hielt sie ab. Eine innere Beklemmung, vielleicht auch die Angst von den Orken verschleppt zu werden, die ihnen in die Stadt folgten.
Als Schritte im Erdgeschoss des Hospizes erklangen, scherte sich niemand darum in einem Haus des Kommens und Gehens. Die Galadonier verblieben mit ihrem Tee am Tisch, selbst als die Schritte schwer und ächzend die Treppe hinauf kamen. Nur Bahiyah, die niemanden in ihrem Rücken haben wollte, drehte sich in ihrer sitzenden Haltung herum und blickte über die Leisten der Kante herunter. Nichts.
"SIEH HIN!", hörte sie die Stimme ihrer Schwester und Bahiyahs Blick fokussierte sich. Da war etwas. Schemenhafte Umrisse, als hätte das Lichtspiel ihr mit dem in der Luft schwirrenden Staub einen Streich gespielt. Doch sie glaubte gar, sie habe die Umrisse eines gerüsteten Mannes erblickt. Sofort bekam das Mädchen Beklemmungen und in der Brust zog es sich ihr zusammen. Wenn der hohe Chaladaim der Stadtwache gekommen war um sie zu holen? Er hasste sie, er würde… Und da war dieses chalada-Mädchen und drückte ihr Kuchen in die Hand, begann unablässig zu plappern und zu reden, sie wolle nach Endophal reisen und sich die große Wüste ansehen. Dummes Mädchen, dachte sie, sie werden dir den Kopf abschlagen, wenn du versuchst den Fluss zu überqueren, so wie sie unsere Köpfe aufspießen. Aber das sagte sie ihr nicht. Den Wortschwall über sich ergehen lassend und aus der ihr eingeprägten Höflichkeit eines Gastes heraus immer mit höchstem sprachlichen Bemühen antwortend, kam sie nicht von ab sich ständig umzudrehen. Aber da war kein Mann mehr.
Im Raum nebenan veranlasste ein Krach mehrere Chaladai sich zu erheben und den anderen Raum zu eilen, ein Mann griff zu seiner Waffe und zeigte sich verängstigt. Das Mädchen neben ihr schien sich nicht zu fürchten, respektlos gar vor den Schrecken und Wunderlichkeiten zu sein. Bahiyahs Herz allerdings machte einen Sprung und sie fühlte eine eisige Kälte, die sie umfegte.
Instinktiv griff sie nach ihrem Beutelchen und holte eine halbes Dutzend kleiner, gravierter Tierknochen heraus, die sie sich in die vernarbte Handinnenfläche kippte und gut schüttelt. Das letzte Mal hatte sie damit für Mohon Fragen beantwortet, als er wissen wollte, ob der Alte Mann wiederkäme. Da die Endophali sich unbeobachtet fühlte, warf sie die Knochen vor sich auf den Boden und betrachtete in höchster Aufmerksamkeit, wie sie fielen. In welche Richtung welcher Knochen zeigte, welche sich berührten oder gar an welcher Stelle übereinander lagen. All das konnte Antworten bringen.
"Sind das magische Knochen?", ertönte wieder die Stimme, die ihre Konzentration zu durchbrechen versuchte. Bahiyah erinnerte sich nicht, ob sie geantwortet hatte. Jedoch hätte sie wohl nein gesagt. Die Runen, die in die Knochen eingeschnitzt und geschwärzt wurden, leuchteten schwach pulsierend rot auf. Bahiyah wich etwas zurück und hob den in der Kapuze verborgen Blick auf.
Die Schemen wurden wieder sichtbar. Klarer traten sie gar aus einem Nebel heraus um sich zu einem menschlichen Körper zu formatieren. Er sah wirklich aus wie ein wichtiger galadonischer Krieger… trug eine Rüstung, einen Wappenrock gar. Und wie elendig er aussah. So verlitten, durchbohrt, zerschnitten, voller Ruß und Leid in den Zügen. Und obgleich alle Galadonier ihn sofort mit Fragen bedrängten, wer er sei, was er hier mache, was er wollte, wen er suche hatte der Geist nur Augen für die verhüllte, kleine braune Gestalt am Boden, deren Hände ganz furchtbar zitterten.
"Wo sind sie?" Einfache Worte, deren Bedeutung sie zu verstehen wusste. Er müsse zu 'ihnen' kommen. Selbst Bahiyah war klar, dass er zu seinen Männern wollte. Krieger verbanden, hier oder am anderen Ende der Welt, die gleichen Kameradschaften. In ihrer Heimat wuchsen sie sogar zusammen auf und kämpften niemals getrennt voneinander in der Ferne. Aber die Galadonier verstanden nicht in ihrer Aufregung, redeten auf den Geist ein, bis sie einsahen, dass sie über die Fremde mit ihm kommunizieren mussten. Und diese Fremde verstand nicht, was sie ihr an Worten an den Kopf prügelten, und sie versuchte erbittert einzelne Wortfetzen zusammen zu fügen.
Ein Geist kannte keine Zeit. Warum die Eile?
Sie streckte ihre Hände, welche tiefe Male trugen, zu ihm hoch und bat ihn, nach ihnen zu greifen. Der Geist, wohl eher seiner Verzweiflung wegen geneigt den Worten eines Mädchens zu folgen, hockte sich begleitet von schemenhaften Geräuschen nieder und griff nach ihren Händen. Er versuchte es, glitt hindurch und ballte seine eigenen. Er verstand. Es bedurfte keiner Erläuterung.
Langsam beruhigte sich die Stimmung. Und sie mochten vernommen haben, dass eine Schlacht den Mann von den seinen trennte, eine Schlacht, die bitterlich verloren ging - eine Schlacht, die so viele Jahre her war, dass nur wenige Überlebende heute noch davon berichten konnten. Bahiyah war so übermannt von diesem Ereignis, dessen sie Teil wurde, dass sie erst am Ende nach seinem Namen fragte und von anderen dazu aufgefordert werden musste: Hauptmann Cassius.
Der Geist ging, doch Bahiyah blieb zurück, sammelte hecktisch ihre Knochen ein. Die Galadonier umzingelten sie, ihre Stimmen wurden furchtsam und die Endophali fürchtete einen Angriff in der Tonlage zu hören. Plötzlich, nachdem man sie so lange Zeit friedlich dort hatte sitzen lassen, bedrängte man sie, wollte wissen wer sie ist, was sie ist. Und sie bekam Angst. Sie bekam so furchtbare Angst zu glauben, man würde sie fesseln und in den Tempel bringen und die Geweihten würden sie töten. Sie wollte zum obersten Treppenabsatz laufen, aber die blonde Frau, so alt wie sie vielleicht, stellte sich ihr in den Weg. Nun gänzlich in ihre Panik gesteigert sprang die Endophali von der Seite runter auf die Treppe und kam hart mit ihren nackten Füßen auf. Sie rannte. Sie rannte aus dem Heilerhaus, sie rannte über die Straßen, sie rannte durch die Felder und in die Dickichte des Waldes hinein. Erst als Bahiyah mit den Schatten verschwamm und in ihrem nun vertrauten Wald untertauchte, hörte die fremde Frau auf sie zu verfolgen und zu hetzen.