Nochmal gründlich prüfte Sidra den gut versiegelten Brief, steckte ihn in eine Lederhülle und verschloss auch diese. Die Reise würde lang werden und sie wollte sichergehen, dass er in einem leserlichen Zustand bei ihrer einstigen Lehrerin ankam. Wenn er denn ankam. Große Illusionen machte sie sich da nicht, aber sie vertraute darauf, dass Kadir den Boten schon gut bezahlen würde.
Der Brief wiederum war einzig in der endophalischen Schrift und Sprache gehalten, dies jedoch leserlich, hier und da etwas schwungvoll geschrieben. Nun, es gab gute Gründe, sich beschwingt zu fühlen.


Anath Kunra mah'Ilai Ahang, deren Name meine Ohren lange nicht vernahmen, doch mein Herz stets bewahrte!

Viele Regenzeiten gingen ins Land, seit ich euch verließ. Ich reiste durch unser schönes Reich, was in den Händen Fremder liegt und gelangte sogar in das Land, was tatsächlich ihres ist. Ich sah vieles, ich lernte manches, so auch ihre Sprache, ehe ich mich entschied, dorthin zu reisen, wo Lhosa sich bettet.
"Siebenwind" - Zol'Kha - nennen die Chaladaim diese Insel. Fünf Mal zog der Kani-Hareth über mein Haupt hinweg, seit ich hier ankam und Teil einer Gemeinschaft wurde, die aus Angehörigen unseres Volkes besteht und die die Traditionen hier auf dieser Insel, aller Widrigkeiten und allem Misstrauen zum Trotz, hochhalten.

Noch vor mir erreichten jedoch Chaladaim diese Insel, die man die "Cortaner" nennt. Sie führen Krieg gegen jene, die den bisherigen Chonig mit dem Namen "Hilgorad" unterstützen, und führen diesen Krieg auch hier auf dieser Insel. Sie gewannen viel Land und während der Zeit des Kani-Imteph fiel die wichtigste Stadt dieser Insel, die "Falkensee" genannt wird und wo die Gemeinschaft von meinem Blut ihr Quartier hat. Aber mach dir keine Sorge, mah'Ilai, und lese weiter.
Aktuell herrscht Waffenstillstand zwischen den verfeindeten Parteien. Ein Friedensvertrag wurde aufgesetzt und Teil des Vertrages behandelt auch die Stadt Falkensee. Diese Stadt liegt künftig in unseren, endophalischen Händen. Sie wird eine neutrale, freie Handelsstadt, in der jeder Glaube gestattet ist. Sie ist frei von Galadon.

Frei.
Und unter endophalischer Verwaltung.

Ich muss gestehen, dass ich selber manchmal nicht glauben kann, was hier geschah und manchmal befürchte ich auch, dass diese neu gewonnene Freiheit zerbrechlicher ist als ein dünnes, zartes Glas. Wir wissen alle, wie weit man den Chaladaim trauen kann.
Doch vorerst ist das der Stand der Dinge - diese Stadt gehört uns und wir sind damit hier sogar freier als in unserer geliebten Heimat.

Was sagt uns das?

Dass es möglich ist, mah'Ilai. Die Chaladaim unter dem alten Chonig sind schwach. Sie klammern sich verzweifelt an dem letzten Rest eines alten Reiches, was unter den Schlägen Cortans zerbricht. Die Cortaner sind natürlich auch Chaladaim, doch auch sie müssen in diesem Krieg bluten. Werden sie danach noch genug Blut haben, um sich mit uns erfolgreich anlegen zu können? Nein.
Nun ist die Zeit gekommen, dass sich Endophal erheben sollte. Wie das geschehen soll, werden schon diejenigen richtig zu entscheiden wissen, die zum Führen geboren sind. Ob eine Allianz mit Cortan oder abwarten, um letztendlich sich gegen Cortan zu wehren. Sprich mit unserer Weshra darüber und ermutige sie mit den anderen Anführerinnen der Stämme der Sharrawüste darüber zu reden. Verbreitet die Nachricht der freien, endophalischen Stadt auf der fernen Insel.

Ich schreibe dir noch aus einem anderen Grund, mah'Ilai.
Wir sind hier auf dieser Insel momentan eher wenige von unserem Blut. Es gibt etliche, die uns wohlgesonnen sind, ganz gleich aus welchem Volk sie stammen. Aber auch genügend, die uns mit Argwohn oder mehr betrachten. Wir benötigen Unterstützung, sei es Handwerker, Magiewirker oder - und die vor allem - Kämpfer. Insbesondere solche, die bereit wären, hier in Falkensee eine Miliz aufzubauen, so dass wir für Ordnung in dieser Stadt sorgen und sie gegen Angreifer verteidigen können. Erzähle in unserem Stamm von dem, was ich dir schreibe. Ich weiß, dass du sie begeistern wirst.

Nun schließe ich diesen Brief und denke mit Sehnsucht an dich und die Unsrigen zurück. Sage mah'Ila und mah'Igr, dass ich ihre Namen nicht vergessen habe und sage ihnen, dass ich ihre Hände küsse.

Sidra Kha Ladan