In der Garnison zu Ersonts Tal
Die Hilferufe des weggeschleppten Aonghas, der Waffentumult in den Königsgemächern haben die ganze Garnison geweckt: Das Schwert in der Hand stürzen die getreuen Anhänger der Königin, Brodigh und Darach, aus ihren Gemächern. Aber die Verschworenen haben auch diese Möglichkeit vorausbedacht: auf allen Seiten umstellt von ihren bewaffneten Knechten, jeder Zugang gesperrt, damit nicht rechtzeitig Truppen aus der Garnison von Ersonts Tal für die Königin zu Hilfe geholt werden können. Brodigh und Darach bleibt, um ihr Leben zu retten und rechtzeitig Entsatz herbeizurufen, kein anderer Weg als aus dem Fenster zu springen. Auf ihren Alarm, das Leben der Königin sei bedroht, lässt der Garnisonskommandeur sofort die Sturmglocken dröhnen. Landsknechte der Garnison sammeln sich auf dem Exerzierplatz, Offiziere stürmen zu den königlichen Gemächern, um die Königin zu sehen und zu sprechen. Aber statt ihrer empfängt sie ein Berater der Königs, Lucius Watering, der lügnerisch beruhigt, es sei nichts vorgefallen, man habe nur einen Spion beseitigt. Ein Königswort wagt selbstverständlich der Garnisonskommandeur nicht zu bezweifeln, still kehren die Recken zurück in die Unterkünfte der Garnison, und Brynn, die vergebens sich bemüht hat, Botschaft an ihre Getreuen gelangen zu lassen, bleibt in strengem Gewahrsam in ihre Gemächer versperrt. Ihren Hofdamen, ihren Dienerinnen wird der Eingang verwehrt, alle Türen und Tore in der Garnison sind dreifach besetzt: zum ersten Mal nach ihrer Krönung ist Brynn in dieser Nacht aus einer Königin eine Gefangene geworden. Bis in die letzte Einzelheit ist die Verschwörung gelungen. In einem Zimmer schwimmt in einer Blutlache die zerfleischte Leiche ihres Liebsten, an der Spitze ihrer adligen Feinde steht der König, ihr Gemahl. Alle Pläne, alle wohlgenährte Hoffnung scheint zerstoben. Mit einem Ruck ist sie von der höchsten Stufe herabgestürzt, ohnmächtig, verlassen, ohne Helfer, ohne Freunde, umstellt von Haß und Hohn. Alles scheint für sie verloren in dieser furchtbaren Nacht, aber unter dem Hammer des Schicksals härtet sich ein heißes Herz. Immer findet gerade in den Augenblicken, da es ihre Freiheit, ihre Ehre gilt, Brynn mehr Kraft in sich selbst als bei allen ihren Helfern und Dienern.
Gefahr ist im menschlichen Sinne für Brynn immer ein Glück. Denn nur in den entscheidenden Augenblicken, da sie zum letzten Einsatz ihres Wesens genötigt ist, wird man gewahr, welche außerordentliche Fähigkeiten in dieser Frau, die einst eine Magd, verborgen sind. Eine unbedingte, eherne Entschlossenheit, ein rascher, wacher Überblick, ein wilder und sogar heldischer Mut. Um diese ihre äußersten Kräfte ins Spiel zu bringen, muss jedoch zuvor der unterste, der empfindlichste Grund ihres Wesens hart berührt werden. Erst dann sammeln sich diese sonst spielerisch zerstreuten Seelenkräfte zu wirklicher Energie. Wer sie zu demütigen sucht, der richtet sie in Wahrheit; jede Prüfung des Schicksals wird ihr im tieferen Sinn Gewinn und Geschenk.
Diese Nacht der Erniedrigung verwandelt Brynns Charakter und verwandelt ihn für immer. In der feurigen Schmiede dieser furchtbarsten Erfahrung dieser Nacht, da sich ihr allzu fahrlässiges Vertrauen im selben Augenblick von ihrem Gatten, ihren Untertanen betrogen sieht, wird alles in dieser sonst weiblichen und weichen Frau hart wie Stahl und zugleich von der biegsamen Geschmeidigkeit eines im Feuer gut gehämmerten Metalls. Aber wie ein rechtes Schwert zweischneidig, so wird ihr Charakter auch zweideutig seit dieser einen Nacht. Nur der eine Gedanke an Vergeltung erfüllt jetzt ihre Sinne, da sie, eingeschlossen in ihrem Zimmer, eine Gefangene verräterischer Untertanen, rastlos auf und nieder geht, immer nur das eine denkend, das eine erwägend: wie diesen Ring ihrer adligen Feinde zersprengen, wie das Blut ihres getreuen Liebsten rächen, wie all jene in die Knie beugen oder vor den Richtblock, die eben unbotmäßig sich aufgereckt und die Hand an sie, die gesalbte Königin, gelegt? Jedes Mittel scheint dieser bislang ritterlichen Kämpferin angesichts des erlittenen Unrechts von nun an erlaubt und gerecht. Eine innere Wandlung geschieht: die bisher unvorsichtig gewesen, wird vorsichtig und hinterhältig, die bisher zu ehrlich empfunden, um irgendjemanden anzulügen, lernt sich verstellen, wird nun alle ihre außerordentlichen Fähigkeiten daransetzen, Verräter mit ihren eigenen Finten zu schlagen. Welcher Fehler, leichtgläubig zu sein gegen Verräter, ehrlich zu Lügnern, welche Torheit, offen sein Herz den Herzlosen zu zeigen! Nein, jetzt sich verstellen, sein Gefühl verleugnen, seinen Ingrimm verstecken, freundlich tun zu jenen, denen man Feind ist auf immerdar, und mit verdecktem Hass auf die Stunde der Vergeltung warten. Alle Kraft einsetzen jetzt, um seine wahren Gedanken zu verschleiern, die Feinde einzuwiegen, solange sie noch trunken sind im Triumph ihres Erfolges, lieber vor dem Geschmeiß des Adels demütig tun, um sie dann endgültig zu demütigen! Einen solchen ungeheuren Verrat kann man nur rächen, indem man noch kühner, noch verwegener, noch zynischer die Verräter verrät. Mit jener blitzhaften Genialität, wie sie Todesgefahr oft auch matten und lässigen Naturen verleiht, fasst Brynn ihren Plan. Nur eines kann sie retten – wenn es ihr gelingt, einen Keil in den Block der Verschworenen zu treiben. Da sie die würgende Kette nicht mit einem Ruck zerreißen kann, muss sie versuchen, sie mit List an der schwächsten Stelle durchzufeilen. „Die Prophezeiung – Die Prophezeiung ist’s, die mir den Weg zum Sieg über meine Feinde weisen wird. Ich muss einen der Verräter zum Verräter an den anderen machen und das wiederholend. Und ich weiß auch, wo zu finden die Seelenschwächsten von all diesen Betrügern – auf Siebenwind, diesem Eiland.“
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