Rotgoldenes Licht flackernder Laternen und blakender Fackeln erweckte groteske Schatten zum Leben, die sich an den Wänden des Schankraums unbemerkt zu stummen, dunklen Tänzen vereinten. Doch unter den Klängen bierseligen Lachens und unbeschwerten Schwatzens schien niemand in der Taverne den stillen Tanz der Schatten und seine unbeschreibliche Ästhetik zu beachten. Niemand ausser einer jungen Frau, die sich in eine ruhige Ecke der Taverne zurückgezogen hatte. Begleitet nur von ihren Erlebnissen und ihren Gedanken sass sie dort, in stiller Kontemplation, und betrachtete den Tanz der Schatten. Wie ein Kind, das beginnt die Welt zu sehen.
In stiller Regungslosigkeit sass sie dort - den Rücken an die grobe Wand gelehnt, die Hände im Schoss gefaltet, den Blick den Schatten zugewandt. Kein anderer sass an ihrem Tisch um ihr Gesellschaft zu leisten und sie schätzte diese Art der Einsamkeit. Einsamkeit brachte Klarheit. Und wann hätte sie der Klarheit mehr bedurft denn heute.
Lautes Lachen - vielleicht ein Nortrave? - liess sie mit seltsamer Zeitverzögerung blinzeln und aus ihren Gedanken aufwachen. In ruhigen, wohl bemessenen Bewegungen richtete sich der ernste Blick auf den Tisch, auf dem Pergament, Federkiel und Tinte lagen. Im dunklen Anthrazit der Gallustinte waren einige wenige Zeilen auf das Pergament geschrieben worden, auf dem nun der Blick der Frau ruhte. In schlichten, beinahe nebensächlichen Bewegungen beugte sie sich schliesslich über das Pergament und nahm den Federkiel auf; gerade so, als ob jede Bewegung unnützer Tand wäre, der von wichtigerem ablenken würde. In stiller Konzentration die Stirn gerunzelt begann sie mit verstohlen kratzendem Federkiel zu schreiben ...
Geliebter Oheim,
wieviele Monde ist es nun her, seit ich dich und die Heimat verlassen habe? Die Heimat. Immer häufiger kommt es mir vor, als ob dies ein anderes Leben gewesen wäre, das zu einem anderen Menschen gehören würde. Wie eine zu eng gewordene Hülle habe ich dieses andere Leben abgestreift und bin Dank deiner Hilfe nun hier. Auf Siebenwind. Entronnen den geifernden Fängen meiner eigenen Familie, dem düster drohenden Kerker an der Seite eines Heuchlers und den lästerlichen Lügen der Prediger. Dank deiner Hilfe kam ich hierher, um mir ein neues Leben aufzubauen. Ein ruhiges, stilles Leben in Freiheit und Frieden und Einsamkeit. Nicht mehr. Wissend, dass ich all das, was du mich gelehrt hast, niemals würde den gaffenden Augen der verlogenen Welt offenbaren können. Ahnend, dass ich mit meinem Glauben stets alleine sein würde. Doch alles ist anders gekommen, Oheim, alles. Ich wage kaum es in Erwägung zu ziehen, doch ich glaube, ich habe hier viel mehr als ein einfaches Leben in Arbeit und Freiheit gefunden. Oheim, was wir in all den Nächten niemals zu erträumen gewagt haben, ist nun eingetreten. Wir sind nicht allein. Ich bin nicht allein. Nicht mehr. Ich habe andere getroffen, die sind wie wir. Die das gleiche glauben wie wir. Es sind nicht viele und sie verbergen sich sorgsam vor den Augen der verlogenen Welt, denn ihr Dasein ist Gefahr. Doch sie scheinen voller Stolz und Mut an dem Wissen um Wahrheit und Gerechtigkeit festzuhalten.
Ach Oheim, ich weiss noch so wenig von den Wegen, die unser Glaube uns vor gibt. Kaum mehr als das eine, dass es der richtige Weg ist. Und dass wir niemals, niemals dem gleichen gärenden Sumpf aus Lüge und Heuchelei verfallen dürfen wie die Fehlgeleiteten. So wenig weiss ich erst. Aber ich werde lernen. Ja! Ich werde von denen lernen, die sind wie wir. Es sind wohl nur wenige, einzelne, doch sie scheinen Wissen und Glauben an Suchende wie mich weitergeben zu wollen. Sie haben keine Armeen oder Schulen anzubieten; keine Reichtümer und keine Macht. Alles, was sie anzubieten haben, ist Wissen und Glauben. Und ich werde dies von ihnen lernen dürfen.
Des Tags werde ich nun also arbeiten und mir ein einfaches Leben schaffen. Doch wahrlich leben werde ich nur des Nachts, wenn mir all das Wissen und all die Werte gewährt werden, die richtig und wahrhaftig sind. Ich beginne zu hoffen, dass ich hier glücklich werden könnte.
Ach, so oft wünschte ich mir, dass du nun hier wärst. Und ebenso oft bin ich dafür dankbar, dass es nicht so ist. Denn es herrscht Krieg auf Siebenwind. Wohl gibt es hier Kriege, die auf Schlachtfeldern ausgetragen werden, doch der wahre Krieg tobt in den Herzen der Wesen. Ich sah Gardisten, die einem kranken, armen Bauern Wärme und Obdach verwehrt hatten. Ich sah Wesen, die ohne Brot und Wasser eingesperrt wurden, weil sie - getrieben vor Hunger - im Wald nach Kräutern gesucht haben. Ich sah Morde, denen weder Garde noch Ritter nachzugehen gewillt waren. Ich sah Prediger, die die Fragen von Denkenden mit dem blanken Stahl der Ritter in Schach halten liessen. Es ist eine traurige Welt, Oheim, denn es ist eine Welt voller Lüge, Brutalität und Täuschung. Doch gräme dich nicht, Oheim, denn ich bin glücklich: ich bin nicht mehr alleine; ich werde lernen; und ich werde dir Ehre machen.
In Liebe ...
An dieser Stelle hob die junge Frau den Federkiel vom Pergament. Sie würde keinen Namen unter den Brief setzen, denn der Oheim würde auch so wissen, von wem er kam. Nun blieb nur noch eines zu tun: die Suche nach einem verwegenen Boten, der den weiten, gefährlichen Weg zurück nach Galadon-Heredon wagen würde.
Das Pergament war sorgfältig gefaltet und zusammen mit Federkiel und Gallustinte in einem schäbigen, ledernen Beutel verstaut worden, der an ihrem Gürtel hing. Nun sass sie wieder still da, die Hände im Schoss geborgen, und blickte zu den Schatten an der Wand.
Komplexe Windungen voll unbeschreiblicher Anmut und vollkommener Harmonie, in denen die Wahrheit der Welt geborgen lag.
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