Der Himmel aus Felsen über dem Tempel war in vollkommene Dunkelheit gehüllt. Das düstere, rote Licht konnte sie nicht zerteilen, nur ihre Schönheit klarer werden lassen. Sie war vollkommen, ehrfurchtgebietend und zerbrechlich zart zugleich, schreckliche Schönheit der Schatten um die dunkle Stadt.
Der metallische Geruch von gerinnendem Blut hing im Inneren des Tempels. In der Stadt gab es keinen Windzug, der ihn hätte forttragen können.

Wie hoch war der Preis?
Sie fragte sich das nicht zum ersten Mal. Das Blut an ihren Händen war getrocknet. Es würde nicht lange dauern, bis nichts mehr davon zu sehen war. Es würde niemals ganz verschwinden. Ein Opfer um das andere, die anderer, die eigenen.
Leer sah sie auf ihre Hände hinab. Die Opfer waren nicht, was sie bedauerte und was etwas in ihr erstarren ließ. Es war die kalte Ruhe, die sie verspürte. Sie bereute nicht. Sie bereute nicht einen Tropfen des Blutes, das heute geflossen war. Das Blut ihrer Schwester, das Blut der jungen Schülerin, das noch jetzt an ihren Händen klebte, das Blut ihres eigenen Schülers, kaum mehr als ein paar Wochen alt. Das Blut unzähliger anderer zuvor. Wie viele noch? Und doch war das alles der Preis, der zu zahlen war.
War dies ihr Preis? Keine Trauer, keine Reue, immer weiter voran auf dem Pfad, den Er wies. Kein Zögern, kein Zaudern, nur weiter voran. Sie hatte schon so viel bezahlt und sie hatte es gern getan. Ohne Reue... .

Sie strich in Gedanken über den rauen Stoff der Robe, die sie trug. Es kümmerte sie nicht, dass sich so zu den blutigen Zeichen darauf weitere hinzugesellten.
Es würde sich nie herauswaschen lassen. Nichts würde sie von all dem Blut reinwaschen können. Und doch..
...und doch zahlte sie diesen Preis gern und ohne Zögern.

Nachdenklich sah sie auf das blasse, im Tode friedliche Gesicht der Schülerin hinab. Das düsterrote Licht des Tempels zeichnete tiefe Schatten auf die Gesichtszüge, ließ sie ernster und stiller wirken als je im Leben zuvor. Sie war so jung... .
Talisha fragte sich, ob sie selbst jemals so jung gewesen war. Ob sie jemals so jung hatte sein dürfen? Sie hatte es vergessen, erinnerte sich nicht mehr daran. Es war bedeutungslos geworden. Auch das war ein Teil des Preises gewesen.
Die Schülerin hatte diesen Preis nicht zahlen wollen, vielleicht nicht zahlen können. Vielleicht hatte sie das alles umfassende Opfer, neben dem kein Platz mehr für anderes war, nicht einmal begriffen. Vielleicht hätte sie niemals Schülerin werden dürfen, vielleicht hätten sie alle dies sehen müssen. Vielleicht wäre es ihrer aller Pflicht gewesen, sie zu schützen anstatt zuzulassen, dass sie eine Bürde zu tragen begann, die sie nicht tragen konnte.
Hatten sie nicht genügend gewarnt? Hatten sie nicht genügend zur Strenge gemahnt?

Sie hob die Hand und strich der Toten über die Stirn. Die Geste wirkte eigenartig sanft trotz der rauen, schwieligen Hände der Kriegerin.
Die junge Schülerin hatte nicht sterben wollen. Sie hatte leben wollen und doch war dies nur ein weiterer Preis gewesen und er war gezahlt worden.
Lange noch saß die Kriegerin stumm und reglos neben der Toten. Bitter und unnachgiebig brannte der Hass in ihr, der Hass auf diese Welt, die diesen Blutzoll für nichts als die Wahrheit verlangte.