Ein leichtes... Stechen? durchfuhr sie und sie blieb wie angewurzelt stehen. Ihr Blick glitt die hellpolierten Stufen hinauf, über den Boden hinweg bis zu seiner Gestalt. Er kniete auf dem Boden und sie starrte ihn lediglich an, unfähig sich zu rühren.
Du kannst nicht weiter, nicht wahr?
An manchen Tagen hatte sie es schon fast vergessen, hatte sich der Ruhe, dem Alltag und auch der Einsamkeit hingegeben. Nein, sie konnte nicht weiter, würde es vielleicht nie können... oder wollte sie vielleicht auch garnicht? Sie wollte all das hinter sich lassen, doch würde sie sich damit nicht selbst zum Tode verurteilen, würde sie damit nicht selbst jeglichen Halt in ihrem Leben verlieren? Wie einfach war es doch mit den Lügen zu leben, hätte sie es nicht damals dabei belassen können? Vielleicht würde sie dann neben ihm knien, anstatt verlassen vor dem Schrein zu stehen. Wie schön hätte es sein können sich jener Geborgenheit bewusst zu bleiben, nicht von dem gepflasterten Pfad abzukommen und den steinigen Bergweg zur Wahrheit zu wählen. Wahrheit... belog sie sich nicht inzwischen selbst, indem sie sich den ganzen Tag im Haus verkroch und nicht zurückkehrte?...
Ich muss mit dir reden...
Noch ehe der Satz vollendet, noch ehe sie die Zügel der kleinen, grauen Stute fester geggriffen, noch ehe sie wirklich begriffen hatte wer jener schwarzhaarige Mann vor ihr war, wusste sie bereits was sie erwarten würde. Ein weiterer Tag an dem es sie aus ihrer Ruhe, ihren Träumen riss.
Du bist in Gefahr...
Sich war sie sich dessen bewusst gewesen, sie spürte es jede Nacht, sah es tagtäglich vor ihren Augen. War es nun die angst vor Ihnen, oder jenem der aus der Nacht kam, es machte keinen Unterschied. Nur ein einzigstes mal war sie an der Front gewesen... sie verstand selbst jetzt nicht weshalb. Angespannt betrachtete sie den jungen Mann vor sich... sie hätte es wissen müssen, hätte von anfang an wissen müssen das auch jener nach der Wahrheit suchte.
Komm nicht zurück, wenn du dich für sie entscheidest...
Seine Hände auf ihren Schultern, eine flüchtige Berührung der Lippen ihres Bruders auf ihren Wangen... und er war fort. Sie glaubte nicht daran das er zurückkommen würde... sie würde es selbst nicht tun.
Er stand zwei Stufen über ihr... leise Worte, ein flüstern in ihrem Kopf... sie trat eine Stufe weiter hinauf, irgendetwas schnürte ihr die Luft ab. Sie bemerkte es selbst kaum, wie sie seine Hand ergriff, wieso ergriff sie seine Hand? Sie wollte es... und sträubte sich zugleich, all das hinter sich zulassen. Wie könnte sie auch, die Lügen würden Lügen bleiben, auch wenn sie sich jenen wieder zuwandt. Mit der anderen klammerte sie sich an seinem Arm fest... wieder ein flüstern, verführerisch... sie starrte nur geradeaus, irgendwohin, durch ihn hindurch. Sie hörte nicht seine Worte, spürte nur seine Hand, spürte nur den Schmerz, die aufkeimende Übelkeit...
... sank auf die Stufen, wieder von Ihnen allein gelassen.
Sie brauchte die Nähe, hilfreich und schmerzhaft zugleich.
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