Ein erster Windhauch wehte den Vorhang am Zelteingang in den Morgenstunden zur Seite und strich über die in den Fellen liegenden Nordmänner. Eisig war der Streich, doch schienen die Schlafenden sachte aufzuatmen, als wäre ihnen eine Last aus den Lungen genommen. Mit einem Augenschlag zog er die Augen auf, richtete den Kopf etwas aus den Fellen auf und schob den Zipfel der Fellwand mit der warmen Hand etwas nach oben. Ruckartig zog er sie wieder zu sich, als gleißendes Licht seine Auge blendete.
Er sah seine Finger noch leicht zittern, bevor sich der Vorhang wieder senkte und das Zeltinnere sich wieder verdunkelt hatte. Er kannte dieses Zittern, auch wenn er es schon lang nicht mehr verspürt hatte. Es war ein seltsames Gefühl, wenn sich die Kälte von Innen ausbreitete, und von seinem Brustkorb aus die Oberarme sachte zum Zucken brachte und dann in seinen Fingerspitzen auslief. Es war nicht die Kälte, die ihn eher durch ihre Vertrautheit aus besseren Zeiten auf eine seltsame Art und Weise beruhigte, sondern ein sonderbares Gefühl, das er selbst nicht beschreiben konnte – und auch nicht wollte. Früher hatte es ihn öfters heimgesucht, wenn er an ruhigen Abenden in den Dornwäldern an seinen Vater zurückgedachte. Nun war es wieder da.
Es brauchte eine Weile, bis er seine Finger dazu bewegen konnte, sich nach den an seiner Seite aufgehäuften Sachen auszustrecken und sie zu sich zu ziehen. Schnell zog er sich an, setzte die Beine über die schlafenden Brodiren und schlüpfte durch den Vorhang nach draußen. Unter seinen Stiefeln knirschte der mehrere Finger dicke Schnee leicht auf. Ohne auf das Knirschen und das gleißende Tageslicht zu achten setzte er die Schritte durch das Lager. Er hatte diesen Tag schon mehrmals durchgespielt, er hatte auf ihn gewartet und doch noch gehofft. Mit einem Male merkte er, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er hatte stets das Fünkchen Hoffnung am Leben erhalten und dabei den eisigen Hauch vergessen, der den gehegten Funken in einem Lidschlag ersticken konnte. Die Götter hatten sich entschieden, der Funken war erstickt und zu eisig war der geschickte Wind, um ihn wieder zu entzünden.
Vor seinen Augen sah er den Wald, die kahlen Bäume und schneebedeckten Sträucher. Wie aus einem Tagtraum blinzelte er auf und das Lager und die Palisade zeigten sich ihm, bevor sie wieder vom schwammigen Bild des Waldes überdeckt wurden. Er lief auf den Waldrand zu, ein paar Schemen zu seiner Seite begrüßten ihn mit vertrauter Stimme, während er weiter auf den Wald zu schritt. Er zog das Tor am Waldrand mit beiden Händen an einer Ranke auf, nahm den freundlichen Gruß des Torwächters wahr und unterhielt sich noch kurz mit ihm. Die ersten Schritte unter den schützenden Bäumen, die wieder ein paar Blätter trugen ließen in ihm ein Gefühl von Geborgenheit aufkommen. Immer dichter wurde der Wald, während er seine Füße über die ersten blühenden Pflanzen am Waldboden hob. Nach einer Weile kam er wieder an der kleinen grünen Lichtung an, an der er schon so häufig gestanden und einfach abgewartet hatte. Wieder ging er in die Knie und strich mit den Fingern durch das warme Gras. Etwas genauer betrachtete er die bräunliche Erde, die an seinen Fingern heften geblieben war und fing an, sie sorgsam auf der Haut zu zerreiben. Die Erde fing an zwischen seinen Fingerspitzen die Farbe zu ändern, der dunkelbraune Ton bröckelte leicht und ging langsam in ein dreckiges, klumpiges Grau über, bis die Überreste schließlich wässrig von seinen Fingern auf den Boden tropften. Von der Stelle, wo die Tropfen versickerten, breitete es sich gleichmäßig in alle Richtungen aus und hinterließ von der frühlingshaften Lichtung nur eine kalte, dreckige Masse, die alle Farbe aus den Grashalmen, Farnen und Eichen auszusaugen schien.
Die Realität hatte ihn eingeholt. Schnell breitete er ein wärmendes Fell auf der Lichtung aus, sackte leicht darauf herunter und warf sich seinen Umhang über die Schultern. Schnell zog er ihn enger um seinen leicht gebeugten Oberkörper und vergrub die Hände unter dem Fell. Er wollte seine Finger nicht mehr sehen ...
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