"Habt ihr schon einmal getötet?"

Nein, hatte sie noch nie und doch, wenn sie zurückdachte, wünschte sie sich, sie hätte es getan. Wie leicht wäre es ihr dann heute gefallen? Sie hätte nur zu dem versteckten kleinen Dolch in ihren hohen Stiefeln greifen müssen, hätte damit in sein Herz gestochen, dass, was laut ihm, nur für sie allein schlug.
Kalt funkelten die Augen, während sie in dem schwachen Schimmer einer einsamen Kerze in dem Schlafzimmer angekleidet auf ihrem Bett lag, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und zur Decke starrend. Damals, auf der Waldbühne, als er ihr die ersten Kampfpositionen beim Umgang mit ihrer Stichwaffe, dem Rapier, gezeigt hatte, hatte sie noch gezögert, aber das, schwor sie sich nun, wollte sie ablegen. Kein Zögern oder überlegen mehr, um dann letztendlich nur wieder leichte Beute zu sein.

"Vergesst mich lieber - es ist besser für euch."

Wie oft hatte sie das heute gesagt? Wie oft gestern schon? Und doch schlug der Narr jeden Ratschlag in den Wind. Vor Monaten noch, wer weiss, wäre sie wohl auf seine Worte eingegangen und es hätte geendet, wie so oft, in pure Enttäuschung. Doch diese naive Zeit war längst vorbei. Jegliche Naivität hatte sie abgelegt, als sie ihn kennenlernte, als sie mehr und mehr in die Abgründe der menschlichen Seele eintauchte und merkte, dass sie nicht darin ertrank, sondern ihr vielmehr die davor verschlossenen Augen aufgingen.
Sie erkannte langsam ein Ich in sich, dass Gefallen an manche Dinge fand, vor denen sie sich vor Monaten noch gegraust hätte. Ein Tier schien langsam zu erwachen, dem es nach mehr dürstete und sie anfing mit seinem Verlangen voranzutreiben.
Geschlafen hatte sie, nie gelebt, bis sie ihr Elternhaus aufgab und nun, je mehr sie von der sie umgebenen Welt erfuhr, je mehr sie Geschmack am süssen Rausch, an warmen Blut und an der Ruhe der Dunkelheit fand, desto mehr erkannte sie, was ihr gefehlt hatte.

Rasch stand sie auf, legte sich schwungvoll den wärmenden Fellumhang aus Rothirsch um und huschte hinaus, sich dabei sorgsam umsehend und vergewissernd, dass er nicht wieder auftauchte und sie noch einmal bedrängte. Sie nahm die wärmende Decke von ihrem Pferd ab, zog sich gewandt hoch und schnalzte leise mit der Zunge, um dann rasch, wie vom Wind getragen, aus der Stadt zu verschwinden, weiter gen Osten...

'Im Namen Vitamas..' dachte sie noch mit kaltem Blick, als sie das Tor passierte...