Das Herz des hohen Norlands teilt ein großer Strom, der Ansgir.
Dem Menschen, der dem Lauf des Flusses von Dornwald aus aufwärts folgt, zeigt sich auf seinem langen Weg die ganze Vielfalt der nortravischen Landschaft und Kultur. Als Fremder fühle ich mich mit jedem Schritt in dieses eisige Land von Kälte umschlungen. Der Schnee, der so trügerisch, stumm und fein unter den Sohlen knirscht, mag einem im scharfen Wind im nächsten Augenblick das ungeschützte Gesicht zerreissen. Gar ähnlich erscheint mir das Gemüt meines einzigen Begleiters, einem einheimischen Wegführer, der mich den Weg nach Stjarnaborg am Solvejmassiv im Landesinnern geleiten soll. Zur Kälte des Landes, die mich bedrückt, kommt im Schein jedes Lagerfeuers die unendlich kühle Tiefe hinzu, die sich in den Augen dieses Mannes erblicken lässt.
Manchmal wünschte ich, in den wenigen Dörfern, die wir am Linksufer des Stromes streifen, eine der Frauen anzusprechen, um wieder ein wenig Wärme zu erfahren, sei es auch nur durch einige Worte. Mein Weggefährte lässt mir auf dem Pfad jedoch nur entfernte Blicke ab vom Ufer, die mir die verschneiten Hütten, die ihrem Tagewerk nachgehenden Menschen und die spielenden Kinder fast wie im Traum erscheinen lassen. Es fällt mir nun erst in den Sinn, dass es keine Brücken über diesen eisigen Strom zu geben scheint.
Eskandar und Ragskil liegen hinter uns. Mir wird Tag für Tag klarer, dass wohl nicht mein Begleiter es ist, der jegliches Leben zu meiden scheint, sondern mich von diesem gebührenden Abstand halten lässt. Immer noch hat er kein Wort mit mir gewechselt, deutet mir nur mit Gesten und Blicken, denen ich stumm Folge leiste. Wir halten uns stets in Sichtweite zum Ansgir und die Zyklen vergehen, so wie dieser Fluss im Gleichmaß braust und an anderen Stellen nur sanft und friedlich unter dünnem Eis vorbeischwebt.
Täglich lassen sich die Gebirgszüge des Solvejmassivs im Süden besser gegen den Horizont ausmachen, wenn die dichten, Spitzen der Nadelwälder einen Blick auf die wolkenverhangenen Gipfel freigeben. Die anfängliche Faszination, die ich für diese neue Welt besaß, ist aus meinem Körper gewichen. In jedem Herzschlag und jedem Gedanken darin herrscht ewige Zeitlosigkeit, die mir dieses Land durch seine lautlose Kälte aufzuzwingen scheint. Selbst das Feuer wärmt nicht mehr, nur der stumme Blick meines Bewachers flackert still durch das Licht, das seine glänzenden Augen im gegerbten Gesicht wiederspiegeln.
Die Worte, die ich darauf von ihm vernahm und die mir den anwährenden Traum zu verstehen gaben, zeichne ich hier so auf, wie ich sie in Erinnerung behalten mag.
Hinter der nächsten Biegung liegt Stjarnaborg.
Ich habe dir den Ansgir gezeigt, du siehst den Solvej vor dir, doch du siehst nur mit deinen Augen. Einen Fluss und einen Berg siehst du, mehr ist es nicht für dich.
Doch die Götter haben sie geschaffen und auch ihnen einen Sinn gegeben, wie jedem ihrer Geschöpfe. Der Berg steht auf den drei Säulen, Mut, Stärke und Weisheit, den drei Pfeilern unseres Lebens. Hiernach beurteilen die Götter uns, wenn sie uns an ihre Tafel bitten.
So nehmen Erde und Wasser und Feuer unseren Körper zu sich zurück, so nehmen die Götter unseren Geist zu sich, und wenn der Tau der Seelen tief im Berg von den drei Steinen rinnt, seinen Weg durch die Fugen des Felses beginnt und nach oben aus der Quelle stößt, so nimmt der Ansgir unsere Erinnerungen in sich auf, und trägt sie im eisigen, klaren Strom hinaus ins Land, dass nicht verloren gehen.
Du brauchst keinen Begleiter für den Weg zurück, der Ansgir wird dich begleiten.
So ging er seines Weges und mir wurde klar, dass diesem eigenen Land und seinen Menschen nicht die bittere Kälte innewohnt, die es so sehr ausstrahlt.
Das Herz des hohen Norlands eint ein großer Strom, der Ansgir.
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