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 Betreff des Beitrags: Ansgir
BeitragVerfasst: 9.01.06, 15:37 
Altratler
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Das Herz des hohen Norlands teilt ein großer Strom, der Ansgir.

Dem Menschen, der dem Lauf des Flusses von Dornwald aus aufwärts folgt, zeigt sich auf seinem langen Weg die ganze Vielfalt der nortravischen Landschaft und Kultur. Als Fremder fühle ich mich mit jedem Schritt in dieses eisige Land von Kälte umschlungen. Der Schnee, der so trügerisch, stumm und fein unter den Sohlen knirscht, mag einem im scharfen Wind im nächsten Augenblick das ungeschützte Gesicht zerreissen. Gar ähnlich erscheint mir das Gemüt meines einzigen Begleiters, einem einheimischen Wegführer, der mich den Weg nach Stjarnaborg am Solvejmassiv im Landesinnern geleiten soll. Zur Kälte des Landes, die mich bedrückt, kommt im Schein jedes Lagerfeuers die unendlich kühle Tiefe hinzu, die sich in den Augen dieses Mannes erblicken lässt.

Manchmal wünschte ich, in den wenigen Dörfern, die wir am Linksufer des Stromes streifen, eine der Frauen anzusprechen, um wieder ein wenig Wärme zu erfahren, sei es auch nur durch einige Worte. Mein Weggefährte lässt mir auf dem Pfad jedoch nur entfernte Blicke ab vom Ufer, die mir die verschneiten Hütten, die ihrem Tagewerk nachgehenden Menschen und die spielenden Kinder fast wie im Traum erscheinen lassen. Es fällt mir nun erst in den Sinn, dass es keine Brücken über diesen eisigen Strom zu geben scheint.

Eskandar und Ragskil liegen hinter uns. Mir wird Tag für Tag klarer, dass wohl nicht mein Begleiter es ist, der jegliches Leben zu meiden scheint, sondern mich von diesem gebührenden Abstand halten lässt. Immer noch hat er kein Wort mit mir gewechselt, deutet mir nur mit Gesten und Blicken, denen ich stumm Folge leiste. Wir halten uns stets in Sichtweite zum Ansgir und die Zyklen vergehen, so wie dieser Fluss im Gleichmaß braust und an anderen Stellen nur sanft und friedlich unter dünnem Eis vorbeischwebt.

Täglich lassen sich die Gebirgszüge des Solvejmassivs im Süden besser gegen den Horizont ausmachen, wenn die dichten, Spitzen der Nadelwälder einen Blick auf die wolkenverhangenen Gipfel freigeben. Die anfängliche Faszination, die ich für diese neue Welt besaß, ist aus meinem Körper gewichen. In jedem Herzschlag und jedem Gedanken darin herrscht ewige Zeitlosigkeit, die mir dieses Land durch seine lautlose Kälte aufzuzwingen scheint. Selbst das Feuer wärmt nicht mehr, nur der stumme Blick meines Bewachers flackert still durch das Licht, das seine glänzenden Augen im gegerbten Gesicht wiederspiegeln.

Die Worte, die ich darauf von ihm vernahm und die mir den anwährenden Traum zu verstehen gaben, zeichne ich hier so auf, wie ich sie in Erinnerung behalten mag.


Hinter der nächsten Biegung liegt Stjarnaborg.

Ich habe dir den Ansgir gezeigt, du siehst den Solvej vor dir, doch du siehst nur mit deinen Augen.
Einen Fluss und einen Berg siehst du, mehr ist es nicht für dich.

Doch die Götter haben sie geschaffen und auch ihnen einen Sinn gegeben, wie jedem ihrer Geschöpfe.
Der Berg steht auf den drei Säulen, Mut, Stärke und Weisheit, den drei Pfeilern unseres Lebens. Hiernach beurteilen die Götter uns, wenn sie uns an ihre Tafel bitten.

So nehmen Erde und Wasser und Feuer unseren Körper zu sich zurück,
so nehmen die Götter unseren Geist zu sich,
und wenn der Tau der Seelen tief im Berg von den drei Steinen rinnt,
seinen Weg durch die Fugen des Felses beginnt und nach oben aus der Quelle stößt,
so nimmt der Ansgir unsere Erinnerungen in sich auf,
und trägt sie im eisigen, klaren Strom hinaus ins Land,
dass nicht verloren gehen.

Du brauchst keinen Begleiter für den Weg zurück, der Ansgir wird dich begleiten.


So ging er seines Weges und mir wurde klar, dass diesem eigenen Land und seinen Menschen nicht die bittere Kälte innewohnt, die es so sehr ausstrahlt.

Das Herz des hohen Norlands eint ein großer Strom, der Ansgir.


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 Betreff des Beitrags: Re: Ansgir
BeitragVerfasst: 16.03.10, 16:58 
Altratler
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Registriert: 23.09.03, 18:36
Beiträge: 1165
Wie im Traum kommt es mir vor, denke ich an jene Tage zurück. Mein Geist scheint zu schweben in den Bildern und Gefühlen der damaligen Reise. Wie Wogen spülen sich diese vor meine Augen und in mein Herz, und fallen wieder zurück, um von anderen überholt zu werden. Keine der Wellen greifen zu können, erschwert mir das Denken und so wünschte ich, ich könnte den Ansgir mit eigenen Augen noch einmal sehen. So klar und kalt wie die reine Luft, die ihn umgibt, und so scharf und schneidend wie die Klinge aus Eis, wünschte ich, er könnte meine Gedanken klären und die Bilder schärfen, auf dass ich sie noch einmal erfassen könnte. So weit weg scheint es mir nun, wie unter der dicken Eisschicht, unter der das Wasser friedlich daherschwebt, ehe es sich mit dem Ragskil vereint und die eiserne Mauer bricht, und dann irgendwann im Meer verliert.

Hier verliert der Ansgir seine Stille, erhebt die Stimme an der einen Stelle zu einem tösenden Brausen, und an der anderen zu einem melodischen Plätschern; als würde er Geschichten in die Welt tragen von vergessenen Tagen, schwatzen über die Gegenwart, oder flüstern über das, was noch kommen mochte. Und so man sich auch sagen mag, es wirke rund um den Ansgir - in den Wäldern oder auch den Herzen der Menschen - ebenso kalt und still wie in ihm selbst, so sind der Geschichten doch unendlich viele; Liebesgeschichten, und Dramen, oder Heldensagen, Erlebnisse und Lebensgeschichten. Erst wenn der Ansgir versiegt, so enden auch die Geschichten - doch wann solle das schon geschehen? Erst am Ende der Zeit selbst. Fremde verstanden diese Bedeutung nicht.

Die Geschichte Ansgirs als Strom von Geschichten ist wahrlich nicht nur an das Weltliche gebunden. Hier hält sie allein ein schmaler Faden. Der grobe feste Strang ankert sich an den majestätischen Höhen - allem voran dem Drakenzaahn - des Solvejmassivs. Einheimische beschrieben diesen Berg als Quelle der Sagen oder Quelle der Erinnerungen, die sich wie Tau dort in der Tiefe um die steinernen Säulen ranken. Ewige Elemente, und ein Strom an Geschichten. Ich wünschte, auch der Strom der Zeit könne halten, um mir jede einzelne Erzählung zu offenbaren, jedes feine Detail der Charaktere, jegliche feine Beschreibung ihrer Umgebung. Doch Zeit ist wohl ebenso wie der Ansgir ein kontinuierlicher Fluss; und wer mag schon sagen, was es bedeuten würde, ihn zu dammen.

So wünschte ich mir auch am Ende dieser Reise, der Ansgir würde noch einmal mein Begleiter auf dem Rückweg sein, und mich vorbeiführen an Stjarnaborg und Ragskil bis nach Dornwald auf die offene See.


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