Die hellblauen Augen, verborgen im Schatten der Kapuze, schlossen sich, während sie tief die warme Luft durch ihre Nase einzog. Eine eigenwillige Mischung aus allerlei fremdartigen Gewürzen, süsslichen Pfeifenrauch, herben Kräutern und fettigen Speisen hing in der Luft, durchsetzt hier und da mit dem Gestank der Strasse nach verschwitzten Leibern, Exkrementen und dem ebenso süsslichen Geruch von Verwesung. Laut schwoll das Leben nun, wo der Abend quirlig Einzug hielt in die Gassen und auf die Plätze der Stadt, an und erreichte seinen Höhepunkt unter dem metallisch-hellen Klingen von Hämmern auf Ambossen, Rufen der Händler auf dem Markt, die lauthals ihre Waren anpriesen, den Kunden mit ihren Worten zu umschmeicheln versuchten und dazwischen die Keifereien, die Zeugnis waren der nicht immer so herzlichen Nachbarschaft in Ashrun-Mahid. Es war nicht Luth-Mahid, die pulsierende, nur in der erbarmungslosen Hitze zum Mittag zur Ruhe kommenden Stadt der Endophalis, aber Ashrun-Mahid war gross genug, um sich diese Geräusch- und Geruchskulisse ebenso leisten zu können.
"Du darfst reinkommen", erklang eine Stimme vom Inneren des Zimmers, dessen Balkon sie betreten und ihren Blick über die Stadt mit ihren weiss gekalkten Häusern hatte schweifen lassen, während sich Fela allmählich hinter dem Horizont glühend verkroch, nur noch wenige Strahlen über das scheinbar so ewige Meer schickend, was sich in der Ferne ausbreitete.
In dem kleinen Herbergszimmer war es nur wenig kühler, aber es war erträglich genug für sie. Sie war Cion, ihrem Ziehvater und Lehrmeister, dankbar dafür, dass er mit ihr im Morsan dieses Land bereiste, um einige Nachforschungen bezüglich dessen arkanen Historie anzustellen. Im Astrael wäre ihre blasse Haut wohl gnadenlos verbrannt und sie hätte sich kaum aus einem der Häuser rausgetraut, geschweige denn, dass sie es gewagt hätte, auf einem dieser Wesen, Kamele nannte man sie, durch die Wüste zu reisen. Zwar war es selbst jetzt, Anfang Oner, noch immer ausgesprochen warm in diesem Landstrich, aber sie hatte sich recht bald daran gewöhnt. So strich sie nun die Kapuze zurück und warf lächelnd einen Blick auf den niedrigen, von weichen, gemütlichen Kissen umrahmten Tisch. Eine Kerze stand darauf, dazu ein schlichter Kuchen und ein paar weitere, vornehmlich endophalische Leckereien und sie wusste mittlerweile wie verboten süss und ungemein lecker die Naschereien die Endophalis waren. Eigentlich verwunderlich, befand sie im Stillen, denn sonst waren ihre Geburtstage immer weitaus schlichter gehalten. Ein kleiner Kuchen, der für zwei Personen reichte - mehr nicht. Doch dieses Mal wollte der alte Cion wohl scheinbar einiges aufholen und noch dazu lag auf ihrer Tischseite auf einen kleinen, mit bunten, aufgemalten Ornamenten versehenen Teller ein versiegeltes Pergament.
Ein durchdringender, fragender Blick traf den Alten, der sich ächzend auf eines der Kissen niederliess.
"Nun schau nicht so, sondern geniess das mal lieber, Kind."
"Ich wundere mich nur, dass du dir solche Umstände machst."
"Oh, höre ich da etwa eine hinter einem bezaubernden Lächeln versteckte Anklage?"
Schelmisch grinsend hielt er sich eine Hand an eines der Ohren und beugte sich leicht in ihre Richtung. Sie schüttelte jedoch den Kopf schmunzelnd und liess sich auf ihr Kissen nieder.
"Danke, Cion", sprach sie mit nunmehr sanfter Stimme zu dem Alten, "keine Sorge. Ich weiss das zu schätzen."
"Das will ich auch hoffen! Immerhin habe ich dich genau deshalb so kurz gehalten, Kind, damit du nicht noch anfängst es zu übertreiben und lieber die kleinen Dinge geniesst."
Die kleinen Dinge - ihr Blick streifte die Köstlichkeiten, die er hatte auftischen lassen. Gefüllte Datteln, Baklava, Helva, gesüsste Nüsse, getrocknete Früchte und mit Honig überzogene Blüten. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, hatte sie doch einen gewissen Hang zu Süsses, auch wenn sie es meist einigermassen erfolgreich unterdrücken konnte. Doch bevor sie etwas probieren wollte, richtete sich ihre unstillbare Neugier auf das versiegelte Pergament.
Ein kurzer, versichernder Blick zu dem Alten, der nun in aller Seelenruhe seine Pfeife stopfte und auffordernd ihr zunickte, dann griff sie zu dem Pergament und brach das Siegel. Was mochte sich da nun drin verstecken? Ein Brief von irgendwem? Eine Geschichte? Doch so wie sie Cion kannte, musste es etwas mit ihrer Lehre zu tun haben. Sie entfaltete es und eine schwungvolle Schrift, endophalisch unverkennbar, trug das Blatt. Darunter jedoch die wesentlich vertrauteren, galadonischen Schritzeichen. Das erste was jedoch ins Auge stach, waren die Worte "Überfahrt auf die Insel Siebenwind". Sie stutzte, ihre Stirn kräuselte sich und still, mit klopfenden Herzen nunmehr, las sie, dass sie hiermit eine Überfahrt auf einem Schiff, was die Insel Siebenwind ansteuern würde, geschenkt bekommen hatte. In wenigen Tagen würde es vom Hafen in Ashrun-Mahid ablegen.
Siebenwind - einen Moment lang stockte sie und sah nur gedankenverloren auf das Blatt drauf. Wie oft schon hatte sie von dieser Insel gehört und gelesen? Ein Krieg tobte dort und wirklich geschlagen waren die Horden des Einen noch nicht. Eine Insel, die Abenteurer, Söldner und Glücksritter vor allem anzog und auf der sich wohl, den Gerüchten zufolge, vor allem jene herumtrieben, die in Galadon oder Endophal wenig Glück hatten, sei es, dass sie gedungene Schurken, Taugenichtse oder rebellische Aufrührer waren. Die mit Glück und Reichtum lockte und doch zugleich auch eine Insel voller Gefahren, namenloser Schrecken und beständigen Unruhen war. Dennoch konnte sie sich auch der Faszination mancher Berichte nicht verwehren. Mit einem eigenen, besonderen Schicksal wäre die Insel versehen und wo sonst konnte man allerlei Volk auf so dichten Raum antreffen und studieren, wie dort?
Ein Lächeln überzog ihre Züge und sogleich hob sie ihren Blick wieder an zu dem alten Magus, der sie und ihre Reaktion genauestens beobachtet hatte.
"Danke, Cion! Mit so etwas hatte ich nicht gerechnet."
"Es gefällt dir also?"
"Oh, durchaus. Ich bin schon darauf gespannt, wenn wir endlich dort sind und..."
"Es gibt kein 'wir'."
Sie stockte nun in ihrer Rede, vollkommen überrumpelt.
Kein 'wir'? Hatte sie das richtig verstanden?
Der fragende Blick liess ihn milde und nachsichtig, wenn auch etwas wehmütig, lächeln.
"Du wirst alleine reisen, Althea."
Alleine. Es gab für sie eigentlich kein 'alleine'. Seit ihrem achten Götterlauf war er immer bei ihr gewesen. Seit dem Tag, als er sie, das verängstigte Kind, das nichts von der Welt ausserhalb der Mauern ihres Elternhauses und das nur einen, dunklen, fürchterlichen Gott kannte, in einem Schrank zitternd vorgefunden hatte und über ihr Schicksal schweren Herzens entscheiden wollte, ehe sie ihre Gabe als letzten Überlebenswillen zeigte, waren sie nie getrennt gewesen. Immer hatte er auf sie geachtet, sie gelehrt, ermahnt und dabei stets viel Geduld gezeigt. Nie war sie alleine gewesen, wenn die Alpträume der Vergangenheit in der Nacht sie übermannten, sie dann Schutz und Beruhigung bei ihm suchte. Auch wenn sie nie ein festes Heim hatten, von einem Ort zum anderen Ort zogen, quer durch Galadon, Khalandrien, das Norland oder Endophal, so hatte sie doch eine Art Heimat in seiner Nähe gefunden. Er war der Vater, den sie nie wirklich gehabt hatte und sie für ihn seine Tochter geworden, sogar seinen Namen trug sie.
Und nun sollte sie alleine fort? Weg von ihm? Von seinem Schutz, seiner Weisheit und Geduld?
Ihr Herz wurde unvermittelt schwer und sie schüttelte bloss den Kopf, leise wispernd: "Das kann ich nicht."
Er jedoch lachte leise auf und mit seiner tiefen, väterlichen Stimme sprach er ruhig auf sie ein.
"Das musst du aber irgendwann. Du bist nun vierundzwanzig Götterläufe alt und eine erwachsene Frau. Desweiteren bin ich ein alter Mann. Ich habe vor, nach Falkenstein zurück zu kehren und dort an der Akademie zu lehren und einen ruhigen Lebensabend zu verbringen. Das Reisen fällt mir zunehmend schwerer."
Cion und einen ruhigen Lebensabend. Alles mögliche hätte sie sich bei dem Alten vorgestellt, aber ganz gewiss nicht, dass er sich auf eine Akademie zurückzieht, dort zwar lehrt, aber ansonsten nicht mehr reist, nicht mehr abenteuerlustig sich in die nächstbeste, uralte Ruine stürzt, an Kriegszügen an der Seite der Krone teilnimmt oder irgendwelche Ketzer an die Kirche ausliefert. Das passte nicht zu ihm.
"Nein", sagte sie entschieden und legte das Pergament mitsamt einem Kopfschütteln auf den Tisch ab, "ich reise nicht. Ich komme mit nach Falkenstein und lerne dort."
"Die Reise war ganz schön teuer, Kind!"
Sie hasste diesen mahnend-drängenden Unterton in seiner Stimme. Er schaffte ihr damit sowohl ein schlechtes Gewissen, als auch die Erkenntnis, dass es eh schon beschlossen war.
"Aber ich will nicht fort von dir." Mochte vielleicht dieser etwas wehleidig-bittende Blick helfen?
Fehlanzeige - er schüttelte seinen Kopf entschieden und seine Miene wurde ernster.
"Dort auf Siebenwind gibt es eine königliche Magierakademie. Ich möchte, dass du dort weiterlernst. Du hast nun genug der Grundlagen gelernt, vieles von der Welt gesehen und solltest nun auch endlich eine richtige Akademie besuchen und dich dort beweisen. Desweiteren dürfte für dich und deinen Zielen die Insel wesentlich sinnvoller sein, als in Falkenstein an einer ruhigen Schule zu lernen. Du bist für das ruhige Leben nun wirklich nicht geschaffen, all deiner Maulerei wegen deiner Gabe dann und wann zum Trotz."
Ihr Blick ging wieder nachdenklich hinab zum Pergament.
Er hatte nicht ganz unrecht, musste sie sich widerwillig eingestehen. Auch wenn sie sich so manches Mal an ihrer Gabe und das damit verbundene Leben sowie die abergläubischen Reaktionen vieler Mitmenschen störte, so konnte sie sich ein ruhiges Leben kaum wirklich vorstellen. Etwas Kribbeln, ein klein wenig Abenteuer versüssten ihr wiederum das manches Mal so verfluchte Talent.
"Ausserdem, Althea, muss irgendwann jedes Kind seine Eltern oder seinen Lehrmeister verlassen, so wie auch irgendwann jeder Vogel lernt, seine Flügel auszubreiten und zu fliegen. Ich sehe, wie deine Gabe wächst und wie du sicherer im Umgang mit ihr wirst. Du musst einfach gehen, um deiner eigenen Entwicklung willen."
Ihr Herz wurde schwer, als sie wieder zu dem Alten aufsah. Eine zuvor nie gekannte Angst kroch in ihr hoch und liess in ihrem Hals einen kleinen, aber spürbaren Kloß entstehen, den sie nur langsam hinabschlucken konnte, ehe sie dann langsam und verstehend nickte.
Aufmunternd jedoch lächelte er ihr wieder zu. "Du wirst es schaffen, mein Kind, da bin ich mir sicher."
Ihr Blick jedoch glitt nun hinaus auf den Balkon, durch die Stäbe der Balustrade und hinüber zum Horizont, wo nur noch rosa-rote Streifen an den Wolken von Felas Untergang kündeten. Irgendwo dort im Westen, wo sie versank, mochte sie wohl liegen, diese noch unbekannte Insel.
Dort, wohin das Licht zieht.
Ende... zumindest auf dem Festland.
Zuletzt geändert von Althea: 23.03.07, 05:12, insgesamt 1-mal geändert.
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