Ein kleines Dorf am Waldrand, inmitten von Feldern. Im Hintergrund die Klauenberge. Auf dem Dorfplatz eine Gruppe Männer, die sich unterhalten, Frauen und Kinder laufen zwischen ihnen herum, hier und da werden Verabschiedungen ausgetauscht, Umarmungen, ein Vater, der seinen Sohn noch einmal auf den Arm nimmt. Eine bedrückte Aufregung liegt in der Luft. Die Männer tragen normale Dörflerkleidung, nur vereinzelt sieht man jemanden mit einem Kettenhemd, aber allen ist gemein, dass sie eine Schärpe tragen, auf die mehr oder weniger kunstvoll der vandrische Wolf gestickt ist. Jeder trägt eine Waffe, zumeist Speere und Äxte, auch das eine oder andere einfache Schwert. Das Licht Felas überstrahlt das Dorf und lässt es stellenweise viel zu hell wirken, surreal…
Eine Frau, vielleicht 30 Sommer alt, schlank und groß gewachsen. Ein bisschen zu rund das Gesicht, ein paar Sommersprossen zuviel um eine perfekte Schönheit zu sein, aber mit liebevollem Gesichtsausdruck und gütigen Augen, die ihr eine Ausstrahlung verleihen, die über Äußerlichkeiten hinaus geht. Es ist wieder das letzte Gespräch mit ihr, über die Tochter, die nicht da ist, um den Vater zu verabschieden, weil sie nicht verstehen kann, verstehen will, dass er fort muss. Über die Gefahr und unsere Ängste. Über die namenlose Bedrohung, die über unsere Heimat hereingebrochen ist. Die Gruppe auf dem Platz setzt sich in Bewegung, ich löse mich nach einer letzten Umarmung von der Frau und schließt mich an, werde mit Schulter klopfen in der Gruppe begrüßt, jeder kennt hier jeden. „Für den Fürsten! Für die Viere! Für Vandrien!“
Vor mir taucht ein Zelt auf, ich gehe darauf zu und trete ein. Als die Zeltplane wieder zufällt sind Weg, Wald und Kameraden verschwunden. Überall im Zelt Schreie, Wimmern, Rufe nach Alkohol, Verbänden oder Tränken, Schemen huschen hin und her. Ein Mann dessen halbes Gesicht nur noch eine verbrannte Fratze ist torkelt vorbei, mitten im Gewühl ein paar schwarz berobte Morsansdiener, die schweigend durch das Chaos schreiten und den Sterbenden den letzten Segen erteilen. In der Mitte des Zeltes ist ein kleiner Freiraum inmitten der Hektik, von oben Beleuchtet als hätte das Zelt dort ein Loch und so aus dem allgemeinen Schatten herausgeschnitten. Eine weitere Pritsche steht da, eine um die sich niemand kümmert. Ich sehe an mir herab, sehe die zerschlissene Uniform der königlichen Armee, die mir nie gepasst hat, die blutverschmierten Hände, die die Verbandstasche halten. Eine freie Pritsche… meine Pritsche. Ich gehe darauf zu wie an Fäden gezogen. Ich weis, dass ich nicht sehen will, was ich dort finden werde, doch ich habe keine Wahl. Das Chaos um mich herum tritt gänzlich in den Hintergrund, die Schmerzensschreie und das Wimmern werden leiser, klingen ferner. Die Schemen huschen um mich herum, beachten mich nicht, ich beachte sie nicht. Dann gibt es nur noch die Pritsche.
Auf den längst nicht mehr weißen Tüchern liegt ein Halbling, ich erkenne ihn sofort. Brego, der Kompaniekoch, der oft im Lazarett ausgeholfen hat, wenn Not am Manne war. Brego, der es irgendwie geschafft hat, in all dem Leid und Elend seinen Glauben an das Gute zu bewahren, ja sogar oft seine gute Laune… ein Halt und Vorbild für jeden, der ihn kannte. Jetzt liegt er hier, blutverschmiert, blass, die Augen geschlossen. Ich erinnere mich, Eran, sein bester Freund in der Truppe war bei der Gruppe gewesen, die die Westflanke gegen die Skelette hatten halten sollen… in der Gruppe die gnadenlos überrannt worden war. Brego hatte ihn heimholen wollen, hatte seinen Freund nicht da draußen unter den Skeletten sterben lassen können. Ein Kerl kaum größer als ein Kind aber mit dem Mut und Herzen einer ganzen Nortravensippe. Ich erinnere mich, er wird sterben, und ich werde es nicht ändern können.
Trotzdem öffne ich die Verbandstasche, hole Tränke, Verbände, Nadeln und Fäden hervor, nähe Wunden die aussehen, als wären sie von Klauen gerissen. Ich arbeite mit aller Kunst und aller Kraft, die ich beherrsche, flehe die Viere an, es diesmal gelingen zu lassen… bis ich eine Hand auf meiner Schulter fühle und das traurige Kopfschütteln eines anderen Heilers sehe. „Lass es gut sein, Rowin… er ist tot“. Ein Diener Morsans trägt den toten Halbling davon.
Ich will hinterher, den Diener anschreien, Brego hier zu lassen, mir noch eine Chance zu geben… aber schon ist meine Pritsche wieder belegt. Ich bleibe, um meine verzweifelte Pflicht zu tun. Eine Elfe, makellos schön, wäre da nicht die weit aufklaffende Wunde, die sich von der Schulter bis zum Bauch über die ganze Brust zieht. Ihr Ausdruck trotzdem seltsam friedlich, eher melancholisch als schmerzerfüllt… nur ihre gebrochenen Augen sehen mich vorwurfsvoll an. Ich muss blinzeln und als ich die Augen wieder öffne liegt dort statt der Elfe ein junger Mann mit einem Dolch in der Brust, an dem noch eine abgerissene Skeletthand hängt, nicht größer als die eines Zehnjährigen. Vielleicht selbst ein Vater, dessen Todesurteil es war, dass er es nicht übers Herz brachte, das Schwert gegen das Skelett eines Kindes zu heben. Dann ein Zwerg mit einem armgroßen Splitter in der Brust, herausgesprengt aus der Belangerungsmaschine die er bediente, als diese von einem Dämon zerfetzt wurde. Mit aller verbliebenen Kraft fluchend um nicht die Schmach zu erleiden, vor Schmerz weinend zu sterben. Eine Soldatin mit abgetrenntem Arm. Ein Nortrave mit Bärenmaske, von Dutzenden schwarz gefiederter Pfeile durchbohrt. Ein narbengesichtiger Veteran, von hinten nieder gestochen. Ein Mann in völlig verkohlter Uniform, der Körper eine einzige Brandwunde. Ein Feldmeister mit von einer Keule zertrümmertem Schädel. Immer schneller wechseln die Gestalten, viele kannte ich gut, manche waren Freunde, an jeden einzelnen kann ich mich erinnern… und alle sehen mich mit demselben Ausdruck in den gebrochenen Augen an: „Mein Leben war in deiner Hand, warum hast du mich nicht gerettet?“
Mit einem Mal ist es vorbei, die Stimmen und Schreie im Hintergrund verstummt, die Pritsche vor mir ist leer. Ich lasse langsam die Hände sinken, die noch immer Nadel und Faden halten, und sehe mich um. Das Zelt ist verlassen, die anderen Pritschen verschwunden, der Boden frei von Blut. Als ich den Blick wieder hebe ist auch die Pritsche vor mir verschwunden, gegenüber fällt grüßend gelbes Felalicht durch die leicht im Wind flatternde Öffnung in der Zeltplane. Ich lasse das Verbandszeug fallen und gehe darauf zu, blinzele ins Licht hinaus.
Ich kenne den Weg, auf dem das Zelt steht. Vor Jahren bin ich ihn gegangen, in die andere Richtung, zusammen mit Freunden und Bekannten, die auszogen um ihre Heimat zu verteidigen. Langsam gehe ich den Weg entlang, der Himmel färbt sich im Abend rot hinter den Bäumen. Im gleichen Maße, wie der Himmel sich langsam blutrot färbt kehrt die Angst zurück, der Ring um die Brust, die schreckliche Gewissheit. Ich weis, was mich erwarten wird, ich will es nicht sehen. Und doch kann ich den Schritt nicht halten, den Blick nicht wenden, etwas zwingt mich, weiter den Weg entlang zu gehen, auf die Kuppe zu, hinter der der Weg zu meinem Dorf den Wald verlässt. Ich weis, was mich dort erwartet, und flehe die Viere um Gnade an, flehe Morsan an, mich für dieses Mal frei zu geben…
Schweißgebadet fährt im Westturm der Feste Finianswacht auf der Insel Siebenwind ein Mann aus dem Schlaf hoch. Eine Weile sitzt er einfach nur auf seinem Feldbett, in sich zusammen gekauert und mit einem gequälten Ausdruck auf dem Gesicht, dann greift seine Hand wie in Trance nach der zerbeulten Feldflasche, die ihn überall hin begleitet, und er leert diese ohne abzusetzen. Als der Mann einige Zeit später wieder in schweren, unruhigen Schlaf fällt, hängt noch eine Weile der Geruch von starkem Alkohol in der Luft, bevor dieser durch die ständig zugigen Schießscharten verweht wird.
_________________ Rowin Rodeberg
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