Eine Woche war vergangen und Ina hatte auf braves, liebes Kind gemacht, immer mit dem Hintergedanken, dass sie nur auf die Weise etwas erbitten konnte. Sie hatte sich das neue Kleid, welches sie gestern abgeholt hatten, angezogen und selbst eine dicke Schleife ins Haar gemacht. Das rot des Kleides und der Schleife unterstrichen auf edle Weise das schwarz ihrer Haare und ihre blasse Haut. Kerzengerade und mit einem gerade zu als liebenswert zu bezeichnenden Lächeln ging sie hinunter ins Esszimmer, wo sich ihre Eltern bereits, an dem großen Kirschbaumtisch zum allmorgendlichen Frühstück, eingefunden hatten. Der Tisch quoll wie immer gerade zu über von Brot, Brötchen, Wurst, Käse und Marmeladen. So viel Essbares, wie man in einer ganzen Woche nicht hätte essen können. Die goldenen Umrandungen der Porzellanteller funkelten kurz auf, als eine leichte Windböe durch das geöffnete Fenster ins Innere strömte, die Gardinen aufbauschte und sich Felasstrahlen für einige Augenblicke über den Frühstückstisch ergossen. Ihr Vater saß wie immer an der Stirnseite des langen Tisches, ihre Mutter direkt gegenüber. Ihr eigener Platz lag genau dazwischen, welchen sie, nach einem kleinen, eigentlich völlig überflüssigen, Knicks und einem wohlerzogenen „Guten Morgen, Vater. Guten Morgen, Mutter.“, ansteuerte.
Inas Vater sah nicht einmal von seiner Zeitung auf, nur ein leises Gebrummel, aus welchem man mit viel Mühe und Phantasie ein „Morgen, Kind“ rekonstruieren konnte, drang von ihm hinüber und ihre Mutter war viel zu beschäftigt damit sich Marmelade auf das Brötchen zu schmieren, als dass sie überhaupt reagiert hätte. So setzt sich Ina auf ihren Platz, nahm die Stoffservierte und legte sie auseinander gefaltet, wie es sich für die feine Gesellschaft gehörte, auf ihren Schoß. Das Frühstück an sich lief äußerst ruhig ab, wenn man vom leisen Gebrösel der Brötchen und dem Rascheln der Zeitung einmal absah. Als schließlich alle soweit waren, dass man hätte aufstehen können um seinen Tagesgepflogenheiten nachzugehen, fasste sich Ina ein Herz. „Ich hätte da eine Bitte, Mutter.“ Mit einer Tonlage, wie man sie eigentlich eher von Erwachsenen, denn von Kindern gewöhnt ist, brachte sie die Worte etwas gedämpfter hervor. Ihre Mutter hielt mitten in der Aufwärtsbewegung inne, welche sie eigentlich vom Stuhl befördern sollte und setzte sich zurück. Ein eher kleiner Wink gestattete Ina weiter zu sprechen. Ein Wink, nicht einmal ein Wort, oh wie Ina dieses Getue doch verabscheute, aber sie riss sich zusammen, schließlich wollte sie ja etwas. „Ich würde gern einen Jungen aus der Tempelschule besuchen gehen. Man sagte uns, wir sollten bis zum nächsten Mal einige Dinge zusammen herausfinden. Hättest du etwas dagegen, wenn ich da heute hingehe?“ Die Kleine hielt den Atem an, ob ihre Mutter auf die Ausrede mit der Tempelschule hereinfiel? Wenn sie auch nur annähernd wusste, welche Kinder sich dort aufhielten, so würde ihr Plan gleich ins Wasser fallen, aber eigentlich glaubte sie nicht daran, schließlich interessierte sich ihre Mutter nur für sich selbst. „Du weißt wo der Junge wohnt?“ Die Kleine nickte nur andeutungsweise, noch immer die Luft anhaltend. „Dann sag es Beranie, sie wird dich hinbringen.“ Sie holte tief Luft, als sie bemerkte, dass sie diese die ganze Zeit angehalten hatte. Sie hatte es tatsächlich geschafft, nun sah sie zu, dass sie schnellstmöglich ihr Kindermädchen fand.
Es kostete sie einen geschlagenen, halben Hellzyklus, Beranie davon zu überzeugen, dass sie sofort dahin müsse und nicht erst nach dem täglichen Privatunterricht, aber sie hatte es geschafft, auch wenn es noch ein paar Lügen mehr bedurfte, aber es würde sich lohnen. Ihre Neugierde machte ihr schließlich zu schaffen und sie würde nicht noch länger auf Antworten warten. Diesmal zerrte die Kleine, die Erwachsene hinter sich her. Es konnte ihr gar nicht schnell genug gehen zu diesem Haus zu gelangen um dort anzuklopfen. Was er wohl sagen würde, wenn sie plötzlich da war? Ob er sich überhaupt noch an sie erinnern konnte? Je näher sie dem Haus kam, desto nervöser wurde sie. Vielleicht war es ja auch gar nicht so gut das zu machen. Zu spät. Da war das Haus schon, das große Gartentor, die Haustür und Beranie klopfte bereits an. Als die Haustür von einem Mann im dunklen Anzug und Handschuhen, offensichtlich ein Bediensteter, geöffnet wurde, fiel der Kleinen erst auf, dass ihr Plan einen nicht gerade kleinen Haken hatte. Sie wusste gar nicht, was sie hier sagen sollte, warum sie da war, sie wusste ja nicht einmal den Namen des Jungen. Fieberhaft überlegte sie, sie hatte den Namen schon einmal gehört, im Park, als sich ihre Wege getrennt hatten, aber wie in der Viere Namen war dieser Name noch mal? Der Mann blickte abwartend auf die Kleine hinab, die schließlich mit Bestimmtheit sagte: „Ich möchte gern zum Sohn des Hauses.“ Bitte lasst ihn keine Geschwister haben. „Das Thema worüber er heute mit seinem Lehrer...“ Hoffentlich hatte er überhaupt einen Hauslehrer. „…spricht, sollte in meinem Beisein erklärt werden, da meine Hauslehrerin es für angebracht erachtet. Ich weiß nur nicht mit wem das abgesprochen worden ist.“ In ihrem Blick lag bei den Worten etwas, was ein Bediensteter kaum einfach so abtun konnte, denn wenn sie etwas von ihrer Mutter gelernt hatte, dann den herablassenden Umgang mit dem Personal, jetzt hoffte sie nur, dass das auch von Kind zu Personal funktionierte. Wieder hielt sie die Luft an, als die Endlosigkeit der Stille sich überl sie egte, ehe man ihr tatsächlich die Tür öffnete und den Weg hinauf wies ins Studierzimmer. Schnell schickte sie Beranie noch nach Hause, mit den Worten, dass sie schon zurück gebracht werden würde und eilte dann die Treppen hinauf.
Die dunklen schweren Türen, welche zum Studierzimmer führten waren schon beeindruckend, überall waren kleine und eher fein gehaltene, aber gerade darum so edel wirkende, Schnitzereien angebracht und auch der kupferne Türknauf, war ein eigenes kleines Kunstwerk, ein Löwenkopf, dessen Augen einen gerade zu anzustarren schienen. Die Kleine schluckte schwer als sie die Hand an den Knauf legte. Es gab einfach kein zurück mehr, also Augen zu und durch und nur wenige Augenblicke später stand sie auch schon im Studierzimmer. Kaum ein Blick für all die Bücher und die schönen bunten Fenster, legte sich ihr Blick sofort auf den Jungen, welcher mittig an seinem Schreibpult saß. Die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er sie betrachtete. Noch bevor er irgendetwas sagen und sie vielleicht damit sogar verraten konnte, erhob sie das Wort und erklärte in schlichten Worten, dass man sie hergeschickt hatte, weil ihre Hauslehrerin erkrankt wäre und man es gern sehen würde, dass sie hier am Unterricht teilnahm. Sie wüsste zwar nicht, wer das mit wem abgesprochen hätte, aber da sie den Sohn des Hauses ja schon länger kennen würde, wäre es nicht verwunderlich, dass sie nun hier wäre. Mit jedem weiteren Wort von ihr sah Henry sie mit stetig wachsendem Erstaunen und Respekt an.
Der Hauslehrer lies sich tatsächlich mit diesen Worten abspeisen und lies sie neben dem Jungen platz nehmen. Wobei er ihr sogar den Stuhl zu recht rückte, unangenehmer Weise tätschelte er auch dabei an ihr herum, strich ihr kurz über die Schulter und den Rücken. Ein Schauer ging durch den kleinen Leib und Ekel stieg in ihr auf, aber sie sagte nichts. So saßen die Beiden still an ihren Tischen und taten das was man so tat, sie lernten. Wobei Henry des Öfteren das Lineal zu spüren bekam, was die Kleine jedes Mal zusammen zucken lies. Er tat ihr einfach Leid, so etwas hatte er nicht verdient. Was aber fast noch schlimmer war, nach jedem zusammen zucken, kam dieser schleimige Lehrer zu ihr und tätschelte ihr den Kopf, streichelte ihr über die Wange oder die Arme und er sah sie die ganze Zeit so seltsam an. Er war ihr einfach unangenehm und fast schon wünschte sie sich, gar nicht erst hergekommen zu sein. Sie hatte das Gefühl, dass dieser Mann nichts Gutes im Sinn hatte. Niemals zuvor hatte ein Erwachsener sie derart angefasst. Übelkeit stieg mit jeder Berührung in ihr auf. Was konnte der nur von ihr wollen? Tief in ihre Gedankenwelt verstrickt bemerkte sie nicht einmal den Blick mit welchem Henry das Treiben seines Lehrers begutachtete. Konnte man einem kleinen Kind Hass als Gefühlsregung zusprechen? Normal würde man wohl nein sagen, wenn da nicht Henrys Blick gewesen wäre, der gerade zu vor Hass nur so Feuer fing.
Eine Weile ging so herum und es wurde eine kleine Pause angesetzt in der die Beiden etwas Zeit für sich hatten, da der Hauslehrer hinab in die Küche gegangen war um das zu tun, was er dort immer tat. Er flirtete mit der Kammerzofe der Hausherrin herum, nur um ihr einige Gläser des guten Whiskys der Herrschaften abzuschwatzen. So waren die Kinder allein in dem Zimmer. Ina hatte es sich auf der Fensterbank gemütlich gemacht und Henry stand vor ihr, wieder lag in seinem Blick Bewunderung für dieses Mädchen. Er hatte noch nie ein Mädchen kennen gelernt, was derart lügen konnte, ohne auch nur einen Anflug von roten Wangen zu bekommen und vor allem, was log, nur um in seiner Nähe zu sein. Das Ganze war irgendwie faszinierend und wurde immer faszinierender, als sie ihm ihre Geschichte erzählte, wie sie es überhaupt geschafft hatte herzukommen. Die Frage nach dem Kuss jedoch, blieb ungestellt zwischen ihnen im Raum stehen und obwohl es beide beschäftigte, traute sich keiner auch nur ansatzweise an diese, für sie, weltbewegenden Dinge heran. Doch nicht lange währte ihre Zweisamkeit an und der Lehrer kehrte zurück. Er hatte dieses Mal dem Whisky deutlich mehr zugesprochen, als gut für ihn war. Seine Wangen glühten rot, der Blick war leicht getrübt und sein Atem roch übel nach Alkohol.
Hatte er Ina bereits vor der „Zwischenmahlzeit“ schon viel zu viel Beachtung geschenkt, so verstärkte sich dies nun umso mehr. Ständig stand er hinter ihr und betatschte sie wo er nur konnte. Ihr wurde immer unwohler in ihrer Haut. Was wollte er nur von ihr? Immer wieder rutschte sie ein Stück zur Seite oder vor auf ihrem Stuhl um seinen schwitzigen Händen zu entkommen, aber alles half nichts, immer wieder drängte er sich ihr näher. Hier, weil sie einen Schreibfehler gemacht hatte, da weil sie eine Antwort richtig gegeben hatte. Die Zeit zog sich wie zähflüssiger Honig dahin und sie dachte schon, dass sie diesen Kerl wohl nie wieder loswerden würde, aber schließlich war es doch so weit. „Wenn du möchtest, darfst du gern wieder kommen, Ina. Du bist ein sehr fleißiges Kind und eine wahre Freude.“ Wiederkommen? Mit Sicherheit nicht, niemals würde sie diesem schleimigen Kerl auch nur wieder zu nahe kommen.
Als die Drei das Studierzimmer verließen und sich der Treppe zuwandten, war das was kam, so unwirklich, dass sie es erst gar nicht wirklich realisierte. Der Lehrer ging vor ihnen her und hatte schon die ersten beiden Stufen hinab genommen, als Henry sich entschlossen hinter ihn begab und ihn so fest schubste, wie er nur Kraft aufbringen konnte. Der Mann verlor das Gleichgewicht, fuchtelte wie blöd mit den Händen in der Luft herum und stürzte schließlich diese endlose Treppe hinab. Ein lautes Poltern und ein Schreien hallte durch die große Eingangshalle, ein Knirschen, als würde man einen dicken Stock zerbrechen, dann wurde es still. Einen Moment lang blickte der Junge hinab zu dem völlig verdrehten Leib des Lehrers. Es wirkte so seltsam, wie die Beine schräg abgewinkelt auf dem marmornen Boden lagen und auch der Kopf, der unnatürlich weit zurück gedreht war, war ein Anblick, den beide Kinder wohl so schnell nicht vergessen würden. Henry drehte sich zu Ina um und lächelte sie sanft an, was irgendwie völlig skurril und unpassend in diesem Moment wirkte und seine Worten waren sanft und leise. „Er wird dich nie wieder anfassen.“
Als die Hausangestellten endlich im Treppenhaus angekommen waren, gellte ein neuerlicher Schrei durch das Haus, dieses Mal von der Zofe, welche auch sofort danach in Ohnmacht viel. Schnell war festgestellt, dass es keine Rettung mehr für den Hauslehrer gab. Er war tot. Als man zu den Kindern hinauf sah, saßen sie dort auf der obersten Stufe, Arm in Arm, als würden sie sich so gegenseitig trösten wollen. Die Ruhe die Beide umgab, deutete man als Schock über das Geschehene. Als man beide schließlich trennte um Ina schnellst möglich nach Hause zu bringen und Henry in sein Zimmer, sah die Kleine noch einmal zurück zu dem Jungen und noch im Gehen, kurz bevor sie zur Tür hinausgeschoben wurde, hörte man ihre seltsam ruhigen Worte zu ihm gehen. „Fast wie der Käfer mit den roten Punkten.“
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