Hätte man es noch vor zwei Jahren gedacht, dass Ina und Henry auch im zarten Alter von sechzehn Jahren ihren Weg noch immer gemeinsam gehen würden? Die Antwort muss wohl klar und deutlich mit ja beantwortet werden. Niemand hätte wohl auch nur einen einzigen Moment daran gezweifelt und wenn sie hundertmal so jung waren, aber sie passten einfach zu gut zusammen. Manchmal war es gerade zu unheimlich, wie gut sie sich tatsächlich ergänzten. Zum Teil mochte es Außenstehenden tatsächlich so vorkommen, als würde Henry etwas denken und Ina tat es oder auch umgekehrt. Es war fast als würde zwischen beiden ein unsichtbares Band bestehen. Eigentlich war ein solcher Gedanke ja quatsch, aber wenn man die Beiden so auf dem Schulhof sah und beobachtete, dann hatte es etwas von einer dunklen, wunderschönen Symphonie, welche sich dort abspielte. Ina ging zu Quint, lächelte ihn lieb an, sagte ihm irgendetwas und Quint reagierte nicht sofort und schon, fast katzenhaft geschmeidig in der Bewegung stand Henry vor ihm und drückte ihm die Kehle zu. Es war alles so formvollendet, gerade zu grausam schön dieses Schauspiel. Nicht viele sahen es wirklich und die, die es gesehen hatten, sahen weg und taten so, als wäre nichts geschehen, niemand traute sich irgendetwas gegen die Beiden zu unternehmen, man wusste ja nicht, ob man nicht auch tot im nächsten Graben aufgefunden wurde. So viele Gerüchte wie sich um Henry und Ina rankten, da musste man ja Angst bekommen, denn, wenn auch nur ein drittel davon stimmte, was man ihnen nachsagte, so tat man besser daran sie nicht zu reizen.
Die Beiden selbst mochten die Vorsicht mit denen man ihnen begegnete, es amüsierte sie gerade zu, wie viel Angst doch in diesen Leuten steckte, selbst die wenigen Elfenkinder an der Schule machten einen großen Bogen um sie herum, als hätten sie Angst, dass ihr Leben zu früh ausgehaucht werden könnte. Elfen die Angst vor dem Tod hatten, eine sehr belustigende Vorstellung. Vor allem, da sie seit den Lehrern eigentlich gar nichts mehr getan hatten und dennoch immer wieder neue Gerüchte auftauchten. Sie hatten in der Schule gerade zu Berühmtheit erlangt und waren bis weit oben in der Hierarchie aufgestiegen, keiner mehr, der versuchte ihnen den Rang dort oben abspenstig zu machen. Das Ganze hatte auch etwas mit Freiheit zu tun, die Freiheit sich bewegen zu können wie man wollte, sagen zu können, was einem durch den Kopf ging und die Freiheit sich das zu nehmen, was einem grad in den Sinn kam.
Was einem in den Sinn kam... Henry ließ seinen Blick an Ina hinab wandern. Nie hatte er sich mehr rausgenommen, als ihre Hand zu halten, oder ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben, aber das Verlangen danach seine Lippen auf den ihren zu betten wurde mit jedem Tag größer. Zum Teil so arg, dass er es kaum noch zu bändigen vermochte, aber er war ein Kavalier und er wusste, was sich gehörte und was nicht und so verbot er sich oft auch schon den Gedanken daran. So viel Schönheit und Eleganz brauchte einfach Respekt und Hochachtung, ein Kuss zur falschen Zeit hätte alles zu nichte machen können, diesen Traum der Perfektion einfach so zerstören können und das wollte er nicht. Er würde warten, warten bis der Zeitpunkt perfekt war, bis er sich derart aufdrängte, dass man ihn nicht mehr von der Hand weisen konnte. Henry seufzte leise aus als die Glocke die nächste Stunde ankündigte. Der Schulhof leerte sich recht schnell und auch Ina und Henry begaben sich wieder in ihre Klasse. Galadonisch bei Professor Hürschel, was für eine Freude. Der Unterricht bei Professor Hürschel könnte nicht langweiliger gestaltet sein, mit Regelmäßigkeit schlief irgendeiner in den hinteren Reihen ein bei seinen Vorträgen und auch jetzt machten sich alle auf eine weitere langweilige Stunde gefasst, die aber nicht kam. Nach einige Minuten erschien eine der Lehrerinnen in der Tür und tat kund, dass die Stunde ausfallen würde, da Professor Hürschel nicht auffindbar wäre. Die Klasse verstummte abrupt und alle Blicke gingen zu Ina und Henry hinüber. Kein einziges Wort wurde gewechselt als sich die Schüler aus der Klasse aufmachten um nach Hause zu gehen. Keiner sprach es aus, doch alle dachten, dass Ina und Henry bei dem Verschwinden von Professor Hürschel ihre Finger im Spiel hatten. Was sie nicht wussten und auch erst einen Tag später erfahren sollten war, dass Professor Hürschel, der auch nicht mehr so ganz taufrisch war, ganz einfach weit hinten im Grünen, auf einer Schulhofsbank eingenickt war.
Ina und Henry nutzten die gewonnene freie Zeit um in den Park zu gehen. Bis auf einige Kindermädchen, die kleine Kinder im Schlepptau hatten, war nicht viel los zu dieser Uhrzeit und so spazierten die Beiden, unbehelligt, Hand in Hand durch den Park, als sie etwa in der Mitte angelangt waren, nicht weit des kleinen Teiches, setzten sie sich hin und Ina lehnte sich bei Henry an. Ein kleiner, rotgepunkteter Käfer krabbelte über Henrys Bein und lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich hinab. Mit einem Schmunzeln hielt er dem Käfer seine Hand in den Weg und ließ ihn darauf klettern. “Schau mal, Ina. Ein rot gepunkteter Käfer” Eine ganze Weile betrachtete sie den Käfer, wie er über Henrys Hand wanderte, ehe sie ihn mit dem Zeigefinger in seiner Handinnenfläche zerquetschte. “So leicht zu zerdrücken, wie so vieles andere auch.” Sie hob den Blick zu ihm und lächelte ihn sanft an. “Es wird sich niemals irgendjemand oder irgendetwas zwischen uns stellen und wenn man es doch versucht so wird es so Enden wie bei dem Käfer.” Ihre Stimme war so sanft, als hätte sie Henry gerade eine Liebeserklärung gemacht, irgendwie völlig unpassend, wenn man es genau nahm. Henry wischte sich die Hand mit seinem Taschentuch ab und strich Ina schließlich liebevoll über die Wange. “Ich bin so froh, dass die Götter uns damals zusammenführten.” Ina lehnte die Wange gegen seine Hand und senkte für einen Augenblick lang die Augenlider hinab. Sein Blick wanderte über ihre zarten Gesichtszüge, über die gesenkten Augenlider mit den langen, dunklen Wimpern, die Nase, welche sich gerade zu perfekt ins Gesamtbild fügte und die so wunderbar weich geschwungenen, rosigen Lippen und fast, ja fast hätte er sich vorgelehnt um sanft ihre Lippen mit den seinen zu berühren, aber irgendetwas hielt ihn wieder auf und statt eines Kusses lag nun, wie so oft in der letzten Zeit, ein leises Seufzen auf seinen Lippen. Der Junge der bisher vor so gut wie nichts Angst gezeigt hatte, der sich von keiner Widrigkeit des Lebens hatte abschrecken lassen, musste sich eingestehen, dass er Angst hatte. Sie war die Einzige, die dies Gefühl jemals bei ihm hatte wachrufen können. Sie hob die Augenlider an und lächelte ihm wieder zu. “Wir sollten so langsam heim. Ich will schließlich nicht, dass dein Vater wieder “nett” zu dir ist.” Henry nickte leicht. “Ist vielleicht besser, ja.”
Sie schlenderten Hand in Hand die Straßen hinab und hielten schließlich am Haus von Inas Eltern an. “Wenn du möchtest kannst du ja nachher noch einmal zu mir kommen. Ich wür....” Von jetzt auf gleich verstummte Ina als Henry sie ohne jegliche Vorwarnung mitten auf der Straße küsste. Als er sie da so hatte stehen sehen, wie Felaslicht ihre Gesichtszüge nur noch mehr schöner werden lies, wie sie so wunderbar unschuldig wirkte, da konnte er einfach nicht anders und neigte sich nach vorn um ihr nun doch endlich den erlösenden aller ersten Kuss abzuringen. Es war nicht mehr als die Berührung ihrer Lippen und doch kribbelte es bis in die Fußspitzen hinab, lies Schmetterlinge im Bauch fliegen und zog ihm den Boden unter den Füßen weg. Einen Moment lang schien die Welt und die Zeit um sie herum zum Stillstand zu kommen, als gäbe es nichts anderes auf Tare bis auf Henry und Ina selbst. Ihr Kuss war so süß wie Honig und so sanft wie die Berührung eines Rosenblattes, nur ein Hauch und doch die Ewigkeit. Henry hielt die Augen noch geschlossen, als er den Kuss löste und den Kopf langsam ein kleines Stück zurück zog, erst danach, gerade zu zögerlich, schlug er die Augenlider wieder auf um zu ihr hinab zu sehen. Ohne ein Wort schmiegte sie sich einfach an ihn und genoss den kurzen Moment seiner Nähe als er die Arme um sie herum legte. “Du musst gehen, Henry. Man wird schon auf dich warten.” Mit den leisen Worten löste sie sich von ihm und lächelte ihn liebevoll an. “Du hast wie immer recht, Honigschnäuzchen.” Er hauchte ihr noch einen Kuss auf die Stirn auf und ging schließlich seiner Wege, wobei er das Gefühl hatte auf Wolken zu wandeln, so leicht und beschwingt war ihm ums Herz. Ina blickte ihm noch eine ganze Weile nach, selbst, als er um eine der Straßenecken bog, blieb ihr Blick noch voran gerichtet. Sie führte die Fingerspitzen zu ihren Lippen auf und strich sich leicht darüber, wobei ein weiteres Lächeln ihre Züge erhellte. Erst nach einer Weile drehte sie sich dem Haus zu um in diesem zu verschwinden.
|