Die Asche war eingefüllt worden in eine unscheinbare Urne. Selinda wollte sie ans Meer bringen um dort die sterblichen Überreste ihres Weggefährten den dunklen Tiefen Morsans zu übergeben. Es war bereits die Nacht hereingebrochen und die drei Paladine saßen mit dem jungen Begleiter Severinus' um ein Lagerfeuer außerhalb der Hütte. Gesina war schon am späten Nachmittag wieder nach Hause aufgebrochen, sie wollte ihre Familie wieder bei der Ernte unterstützen. Der dicke und schwere Lederbeutel, den ihr Marcus überreichte, würde sie sicher zu einer willkommenen Person machen.
Die Funken des Feuers schwebten in einem irrlichternden Tanz dem schwarzen Nachthimmel entgegen. Der Sünder sah ihnen gedankenschwer nach. Die Runde um das Feuer wurde kleiner, Marcus hatte noch ein Lied gesungen und war dann zu Bett gegangen, wenig später folgte ihm Severinus, nachdem er sich ächzend erhoben und eine gute Nacht gewünscht hatte.
"Lifnas Segen!", wünschte ihm sein Begleiter leise hinterher, woraufhin sich die dunklen Augen der von Hagebrecht auf ihn richteten. Kurz musterte sie ihn nachdenklich, dann fragte sie ihn mit ihrer rauchigen Stimme: "Weißt du denn, wer Lifna ist, Bursche?"
Er sah sie verwundert an. "Lifna?! Natürlich, sie ist ein Engel Morsans und behütet unsere Träume..." Ihr trockenes Lachen ließ ihn verstummen.
"Engel?!" Kurz schloss sie die Augen und atmete seufzend aus. "Die Worte der neuen Ordnung, sie klingen so... schal, so blass." Sie öffnete die Augen und sah ihn fragend an. "Kann ein Wort blass klingen?" Er zuckte nur unsicher mit den Schultern, sah sie ungewiss an. Eine Weile schwieg sie still, dann sprach sie weiter.
"Lifna ist kein Engel. Sie ist eine Halbgöttin und sie spinnt uns unsere Träume."
Schon mit diesen Worten wurde ihr die ungeteilte Aufmerksamkeit des jungen Mannes zuteil. Er sah sie mit offenem Mund an.
"Es war vor langer Zeit, als die Berge noch wuchsen und die Meere noch wild waren, da lebte eine Frau in den noch jungen Wäldern von Daben, wo heute Morthum ist. Sie war arm und eine Weberin. Larissa war ihr Name und sie war trotz allem eine schöne Frau. Aber sie war auch stolz und so konnte sie kein Mann erreichen. Alle wies sie ab und schenkte ihnen kein Lächeln. So wurde auch der Gott des Todes auf sie aufmerksam und er beobachtete sie durch die Augen eines Raben. Er verspürte eine Regung in sich sich, wenn er das Mädchen betrachtete. Dann fasste er den Entschluss und erschien ihr als junger, schlanker Mann mit schwarzen Augen und langen dunklen Haaren. Sie war fast wie gebannt von seiner Schönheit, doch wich sie auch ihm aus. Morsan verlangte von ihr mit ihm das Lager zu teilen und versprach ihr die höchste Lust in diesem Leben. Doch auch ihn wies sie zurück, schön wie er war, besiegte er doch nicht ihren Stolz und er wurde zudringlich. Er riss ihr die Spule aus der Hand und griff nach ihrem Kleid. Sie wich zurück und stolperte über die Schwelle in ihre Hütte. Morsan wollte ihr folgen, doch lag auf der Türschwelle eine trächtige Hündin und so konnte der leibgewordene Gott ihr nicht folgen, denn wo das Leben wächst, kann der Tod nicht eindringen. Er wich zornerfüllt zurück und liess das Mädchen in ihrer Hütte allein. Sie traute sich den ganzen restlichen Tag nicht mehr hinaus. Doch Morsan änderte seine Pläne. Als sie sich des Abends zu Bett legte und einschlief, kam er im Traum über sie und verführte sie. Losgelöst von der Körperlichkeit erreichte er sie und nahm sich wonach ihm verlangte. Larissa empfing ein Kind in dieser Nacht und Morsan kehrte zufrieden in sein Reich zurück. Die Weberin trug das Kind aus und war verschlossener denn je. Sie nannte ihr Kind Lifna und bildete es in ihrem Handwerk aus. So wurde Lifna Weberin und weil sie und ihre Mutter immer so alleine waren und nicht viel miteinander redeten, verlor sich die junge Lifna in ihrer Fantasie und wob sie in ihre Arbeiten hinein. Sie zeigte so außergewöhnliches Geschick dabei, dass es ihnen gut ging und Larissa sehr alt werden konnte. Doch der Tag kam, da sie sterben musste und ihr ehemaliger Geliebter kam. Als er die Hütte betrat und seiner Tochter in die Augen sah, erkannter sie sofort an seinem Blick und er wusste, dass es umgekehrt ebenso war. Ohne Erbarmen ergriff er die Seele der Mutter seines Kindes und warf sie in die Stille des Totenreichs, seine Tochter aber, ihr Talent erkennend, nahm er an seine Hand und führte sie heim in sein Reich. Dort sollte sie für ihn weben bis ans Ende der Tage und manchmal, da webt sie für die Sterblichen Träume im Auftrag ihres Vaters, aber auch oft aus eigenem Antrieb. Und so ist sie heute noch bekannt, als die Traumweberin und beglückt oder verdammt uns im Schlaf.“
Als sie die Geschichte beendete schwieg sie eine Weile und starrte ins Feuer. Dann sprach sie mit rauer Stimme: „Das ist die Legende von Lifna, eine Erzählung voller Leidenschaft und Kraft. Nicht die fahle Erzählung die sich die Priester der weichen Orden heute erzählen, ohne Kraft, ohne Leidenschaft.“
Wieder schwieg sie einige Augenblicke, dann fragte sie, dem reuigen Sünder einen finsteren Blick zuwerfend: „Gefällt sie dir?“
Unsicher sah er kurz zu ihr auf, dann senkte auch er wieder den Blick ins Feuer.
„Um ehrlich zu sein… nein…“, sagte er ruhig. Die schwarzen, dünnen Augenbrauen Selindas schnellten nach oben. Aber kein überraschter Ton lag in ihrer Stimme als sie verlangte: „Erkläre dich!“
Ruhig sah der junge Mann weiterhin die erlöschenden Flammen und sprach leise: „Es ist eine Geschichte die eine Antwort liefert, es ist eine Geschichte mit einem Ende, es liegt… nichts… darin.“ Er sah auf zu ihr und sah sie nun doch wieder unsicher an. „Ich weiß nicht, mir fehlt das Wort dafür.“ Selinda hob die Hand und gebot ihm damit zu schweigen.
„Es ist schon gut. Erzähl mir eine deiner Geschichten, vielleicht kannst du es daran erklären“, befahl sie ihm.
Tief holte der reuige Sünder Luft und begann ins Feuer zu sprechen:
„Es ist eine Geschichte dir mir meine Mutter erzählt hat, abends vor dem Einschlafen, es ist keine gute Einschlafgeschichte, denn ich musste die erste Nacht nur über das Ende der Geschichte nachdenken.“ Kurz zögerte er. „Sie hatte irgendwie kein richtiges Ende…“
„Fang an!“
Noch einmal holte er Luft und begann dann zu erzählen:
„Und also geschah es, als der junge König Hilgorad ap Mer gerade den Thron bestiegen hatte und sich Hilgorad I. nannte, dass eine Frau vor das Königsschloß in der alten und ehrwürdigen Hauptstadt des Reiches Galadon trat und um Einlaß begehrte. Sie war erbärmlich gekleidet und dennoch strahlte sie eine majestätische Würde aus. Ihr Haar war schlohweiß und ihre Augen lagen tief in ihren Höhlen, doch wem es gelang einen Blick hineinzuwerfen, der verlor sich in ihnen wie in einem klaren, kalten Gebirgssee. Fast ungehindert trat sie vor des Königs Thron und gespannt sah der Erwählte der Viere einer Begegnung mit ihr entgegen.
Als sie dann vor ihm stand neigte sie leicht den Kopf vor ihm und ging weder auf die Knie noch verbeugte sie sich, was Unmut in den Reihen der Adligen auslöste, doch der König hob nur leicht seine Hand und das Raunen verstummte.
"Wer bist du und welches Begehren führt dich vor meinen Thron?", fragte der König ruhig. "Ich bin die Sibilla und ich bin gekommen dir einen Handel anzubieten, mein König!" Als sie ihren Namen nannte ging wieder ein Raunen durch den Hofstaat, war die Sibilla doch bekannt als die größte und gesegnetste aller Wahrsager im Reiche Galadons. Die Sibilla hielt neun Pergamentrollen empor und sprach mit rauher Stimme: "Auf diesen Rollen habe ich neun Prophezeiungen niedergeschrieben, die von großer Bedeutung sind für die Zukunft deines Reiches, mein König. Ich biete an sie dir zu verkaufen."
"Was verlangst du dafür, Sibilla?", meinte der König nach kurzem Überlegen. Kurz erschien ein schmales Lächeln auf dem faltigen Gesicht der Wahrsagerin.
"Ich verlange... fünfhundert mal tausend der Münzen mit deinem schönem Profil darauf, mein König!", antwortete sie. Der Hofstaat hielt den Atem an und nur der König hob leicht eine Augenbraue. "Das ist ein hoher Preis, Sibilla. Lass uns verhandeln", sprach er dann ruhig.
Kurz schien die Sibilla in sich hinein zu lauschen, als ob sie überlegte, dann trennte sie Schriftrollen voneinander und hielt drei in der linken und sechs in der rechten Hand. Plötzlich wallte eine Flamme in ihrer Linken empor und verzehrte die drei Schriftrollen bis nichts von ihnen übrig war als Asche. "Ich verhandle nicht, mein König", schnarrte sie. "Für die restlichen Schriftrollen verlange ich tausend mal tausend deiner Goldmünzen."
"Du verlangst mehr für weniger Schriftrollen, Sibilla?" fragte der König und strich sich nachdenklich durch den Bart. "Ich denke, du hast den Handel nicht verstanden."
"Oh doch, mein König, ich habe es verstanden zu handeln", krächzte sie hämisch und diesmal nahm sie drei Schriftrollen in jede Hand. Wieder leuchtete eine Flamme aus ihrer linken Hand empor und vernichtete die drei Schriftrollen, die sie dort mit ihren langen, krallenartigen Fingern umklammert hielt.
Der König sprang von seinem Thron auf und streckte eine Hand aus. "Halt ein, Sibilla! Was verlangst du für die letzten Prophezeiungen?"
Kurz schien die Wahrsagerin nachzudenken, dann sprach sie: "Für die letzten drei Prophezeiungen verlange ich... zweitausend mal tausend deiner Münzen, mein König."
Der König sank auf seinen Thron zurück und nickte. "Es sei dir gewährt. Bringt ihr die Münzen", befahl er.
Nur wenig später erschienen sechs starke Männer die eine große Truhe auf den Schultern trugen, die bis an den Rand mit Gold gefüllt war. Sie setzten sie neben der Sibilla ab und traten sich verbeugend wieder zurück.
"Hier hast du deinen Lohn, Sibilla, nun gib mir die Prophezeiungen", sprach der König. Sibilla schloß den Deckel der Truhe mit einem Donnern und setzte sich rittlings darauf. Sie warf ihm die verbliebenen drei Schriftrollen entgegen und lachte leise. Dann erhob sich die Truhe wie ein Vogel in die Luft und die Sibilla ritt darauf aus dem Thronsaal heraus und keiner wagte sich ihr entgegenzustellen. Stille herrschte im Thronsaal, bis das meckernde Gelächter der Wahrsagerin nicht mehr zu hören war. Dann öffnete der König die Schriftrollen und seine Augen flogen darüber...
In der ersten las er von einer Insel, auf der sich das Schicksal Tares erfüllen sollte. In der zweiten las er von einer einfachen Frau, die zu höchsten Ehren aufsteigen sollte und mit ihm weise und gerecht über sein Reich herrschen sollte. In der dritten las er, etwas das ihn erblassen ließ und sofort verschloß er die Rolle mit seinem persönlichen Siegel und ließ sie in die Tiefen seiner Schatzkammer bringen und verbot es jedem beim Tode diese Schriftrolle zu öffnen oder gar zu lesen.
Bis heute weiß keiner, was den König so erschreckte und keiner wagte es ihn zu fragen...“
Unsicher sah er wieder hoch zu ihr, doch sie stand nur ehern da, regungslos wie ein Fels. Keine Regung war in ihrem Gesicht abzulesen oder zu erkennen, nur ganz kurz war so etwas wie ein anerkennendes Nicken zu sehen.
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