~Prolog~
Angst schneidet tief, fordert Härte heraus. Denn wer sich der Angst beugt, wird niemals stark.
„Mer' wolln keine Landstreicher hier. Schau zu, das'd Land gewinnst!“ Der Bauer, obwohl selbst in eher abgerissene Kleidung gewandet, betrachtete Ardis aus schmal gewordenen Augen mit bärbeissiger Miene. Sie konnte nicht anders, als zurück zu starren. Hilfloser Zorn blitzte in ihren blauen Augen, obwohl sie sich selbst zur Ruhe mahnte. „Was starrst mich so an? Bist vielleicht gar 'ne Hex?“ Ein meckerndes Lachen, der Gedanke schien ihn zu amüsieren.
'Wenn du wüsstest, alter Mann.' Der Gedanke schmeckte bitter, ähnlich wie die Ablehnung. Ardis wandte sich wortlos herum und hinkte den schlammigen Pfad hinab, der wieder auf die kaum besser begehbare Strasse führte, das Gelächter immer noch im Rücken. Obwohl sie diese Reaktion in vielen Facetten bereits erlebt hatte, obwohl sie das Misstrauen der einfachen Bevölkerung verstand, schmerzte es immer noch wie ein feiner Stachel im Fleisch. Sie hätte es besser wissen können, somit war der unangenehme Zwischenfall ihre Schuld. Aber der Hunger war zu groß geworden. Während Morsan war ihre übliche Nahrungsquelle versiegt, keine wilden Beeren, keine Früchte, selbst Fische waren von ihrer kargen Tafel verschwunden. Hätte sie ihren Stolz beiseite schieben und betteln sollen? Ihr Magen schrie nach Nahrung, sie fühlte sich ausgelaugt und schwach. Vor allem schwach.
Ardis zupfte eine der feuchten, wirren Haarsträhnen aus ihrer blassen Stirn. Es war nicht verwunderlich, dass man sie abwies. In ihrer zerlumpten Kleidung, dem hohlwangigen Gesicht mit den übergroß wirkenden Kinderaugen, die einen unpassend distanzierten Ausdruck zur Schau trugen, hielt jeder sie auf Abstand. Sie wirkte immer noch wesentlich jünger als sie tatsächlich war, aber der Bonus ihrer Kindheit war dahin. Wo man für ein kleines Mädchen für gewöhnlich Mitleid empfand, es wie eine streunende Katze fütterte, brachte man für eine erwachsene Streunerin meist nur noch einen misstrauischen Blick auf. In Städten war es einfacher gewesen, niemand außer der Wache kümmerte sich um Fremde, manchmal erhielt sie sogar Arbeit. Doch hier auf dem Land, irgendwo zwischen Ventria und Borast, folgten ihr misstrauische Blicke. Verirrte sich dann noch ein Lichstrahl auf ihr braunes Haar und ließ das tiefe Rot darin aufleuchten, geriet sie noch rascher in Verruf. Es musste nur zur Unzeit Vieh gestorben, ein Kind erkrankt sein oder schlichter Dauerregen das Land überziehen.
Es war eine der ersten Lektionen die sie verinnerlicht hatte: Wo Erklärungen fehlten, fiel die Schuld immer auf den Außenseiter. Und sie selbst würde immer außerhalb stehen, alleine und ohne den Rückhalt einer Familie. Selbstmitleid ertränkte sie allerdings rigoros bei den ersten Anzeichen. Es war eine Tatsache, kein Grund daran zu verzweifeln. Einsamkeit bedeutete auch Stärke, Sicherheit. Selbst wenn die Angst, vermischt mit Sehnsucht am Bollwerk ihrer Seele heulte, daran in langen Nächten nagte, war sie nicht bereit ihr ein Leben zum Fraß vorzuwerfen. Ardis klammerte sich an ihre Existenz, ein hungriger, gieriger Wolf. Sie mochte erbärmlich sein, aber es war ihre. Und sie war voller Fragen.
Warum war der Astreyon so unregelmässig am Firmament zu beobachten, während der Vitamalin beständig seine Bahn zog? Warum wurden manche Menschen krank, starben an Seuchen während andere verschont blieben? Was war Magie? Welcher Art war dieser Fluch, der sie getroffen hatte?
Und warum schmerzte die alte Wunde an ihrem Bein immer noch bei feuchtem Wetter? Ardis zog ihre Lippen zu einem schmalen Strich und quälte sich weiter über die unwegsame Strasse. Man konnte am Horizont bereits über einer Hügelkuppe hohe Baumwipfel ausmachen, unter denen sich ein teilweise geschütztes Lager für die Nacht finden lassen würde.
~Der Weg ist nicht das Ziel~
Obwohl ihr Bein weiterhin ein dumpfes Pochen durch Knie und Oberschenkel aussandte, ebbte der Schmerz langsam auf erträgliches Maß ab. Die Sonne stahl sich durch die endlosen Wolkenbänke der vergangenen Wochen und zauberte in ihrem Untergehen ein farbenprächtiges Schauspiel an den Horizont. Die harte Linie um ihre Lippen lockerte sich, ließ den weichen Schwung in der Mitte wieder aus der Umklammerung von Sorgen und Müdigkeit. Einen Augenblick gönnte sie sich Ruhe, die klare Abendluft einatmend und das idyllische Farbenspiel auf sich wirken lassend. Etwas wie Euphorie kroch langsam durch ihre Adern, ließ ein Lächeln in ihren Mundwinkeln aufkeimen. Tare näherte sich der neuerlichen Wiederkehr Vitamas, ein Neubeginn. Ardis war nicht naiv genug, diesen Neubeginn auch auf sich zu beziehen. Dennoch genoß sie für diesen kurzen Augenblick die Möglichkeit, ihre Suche könnte zu einem Ende finden und die Last von ihr genommen werden.
Dann wandte sie sich vom Pfad ab, um zielstrebig tiefer in das Dickicht zu wandern. Das Glück, eine trockene Höhle zu finden würde ihr wohl nicht gegönnt sein. Doch mit wenigen Handgriffen ließ sich wenigstens ein kleiner Unterschlupf schaffen. Trockenes Holz gab es für das kundige Auge selbst nach Regentagen, sodass bald ein kleines Feuer ihre kühlen Finger erwärmte. Ardis fühlte sich behaglicher, als es hätte sein sollen. Dämmrige Müdigkeit legte sich wie eine Decke über sie, hüllte sie sorgsam ein. Sie hob den Kopf, ihren Blick über den sichtbaren Abendhimmel schweifen lassend, an dem sich der Vitamalin in seiner romantischen Schönheit präsentierte. Waren die Geschichten vielleicht doch wahr? Sie erinnerte sich, in einem Buch über die Legende dieses Mondes gelesen zu haben, eine phantastische Welt. Es war eines jener Bücher gewesen, die Eshra für sie 'geborgt' hatte, wie er es so harmlos umschrieb. Von Zeit zu Zeit erlaubte sie sich, mit einer leisen Wehmut an ihn zu denken.
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Sie war ihm in Wegenstein begegnet, als sie gerade ihren neuesten Fund, einen noch warmen Brotlaib aus der Auslage eines unaufmerksamen Bäcker in einem Hinterhof verspeiste. Ardis stahl nicht gerne, war aber pragmatisch genug, ihr Überleben über solche kleinliche Skrupel zu stellen. Und dieses Brot hatte ungemein verführerisch geduftet. Mit vollen Backen hatte sie gekaut, als über ihr plötzlich ein Schatten aufragte. "Was machst du da?" Eine strenge Stimme, deren Autorität sie instinktiv zurückzucken ließ. Sie war damals etwa 16 Jahresläufe alt gewesen, genau konnte sie die Zahl nie bestimmen. Bis vor kurzem hatte sie in einem kleinen Dorf als Dienstmagd unterkommen können. So war sie, selten genug, immer noch mit robuster Kleidung versehen und an die Anwesenheit anderer Menschen gewöhnt. Das Brot in der Hand, wollte sie aufspringen und mit einem weiten Satz die Gefahrenzone hinter sich bringen, als sich vor ihr ein Junge aufbaute, provokativ grinsend. Gegen ihren Willen musste Ardis lächeln, obwohl sie wie üblich zurückwich. "Ich esse. Wonach sieht es denn aus?" Sein Grinsen wurde breiter, und sie stellte fest, das seine Augen faszinierend waren. Ein tiefes, lebendiges Braun voll Leben, noch unterstrichen durch den verwegenen Schwung seiner Augenbrauen. "Nach einem wilden Raubtier, dass seine Beute verspeist." Seine gestenreiche Aussprache brachte sie zum Lachen, ihr Lachen wiederum schien ihn anzuspornen.
Sie hatten im Anschluss das Brot kameradschaftlich geteilt und sich über Belanglosigkeiten unterhalten, bis zu der verhängnisvollen Frage. "Du bist doch nicht aus der Stadt, sonst würde ich dich kennen. Wo kommst du also her?" Sie verstummte, scharrte mit den Fußsohlen unbehaglich über den Boden. Ardis genoss dieses Zusammensein, das ihr Unbeschwertheit vermittelte. Sie wollte nicht an ihre Irrfahrt denken, diesen schönen Moment der Wirklichkeit opfern. Eshra schien ihre plötzliche Stille aufzufallen, denn er wechselte mit seltsamer Rücksichtnahme das Thema. "Egal. Ich möchte dich meinen Freunden vorstellen." Er sprang auf, quirrlig und so abenteuerlustig, dass sie erneut lachte, obwohl die Angst immer noch um ihre Seele schlich. "Komm schon! Keiner wird es wagen, das Raubtier zu beissen." Er zwinkerte ihr zu, und hielt seine Hand ausgestreckt. Ardis starrte fasziniert auf seine sehnige, braungebrannte Hand. Bislang war ihr niemand so vorurteilsfrei, so offen entgegen getreten. Und trotz aller warnenden Erfahrung, trotz aller mahnenden Schreie ihres Verstandes, legte sie ihre Hand in seine.
Diese einfache Geste hatte einen Pakt besiegelt, der beinahe ein Jahr andauerte. Eshra hatte sie seinen "Jungs" vorgestellt, einer kleinen Bande die sich aus Handwerkssöhnen und Streunern rekrutierte. Obwohl einige misstrauisch blieben, überwog doch die Neugierde - sie hatte bereits einiges von der Welt gesehen und konnte Geschichten erzählen. Das sie dabei immer etwas verschwieg, und ihre Erfahrungen beschönigte, fiel den Jungen nicht auf. Und sie selbst geriet mehr und mehr in die Falle dieses Selbstbetrugs. War ihre Vergangenheit nicht etwas vollständig persönliches? Wenn sie beschloss zu vergessen, ihre eigene Geschichte zu erzählen, würde sich die Wirklichkeit beugen müssen.
Eshra und sie verband eine Freundschaft, die die dahinter keimende Liebe unausgesprochen ließ. Er entdeckte, das sie lesen konnte und brachte ihr immer neue Bücher, die sie nach anfänglichen Schwierigkeiten verschlang. In dieser Zeit wuchs ihre Gier ins unermessliche. Es gab niemals ein Ende, immer Neues wurde in diesen Büchern über Tare berichtet. Die einzelnen Bruchstücke, die sie während ihrer Zeit in verschiedenen Häusern und Stellungen erfahren hatte, fügten sich zu einem Netzwerk zusammen. Alles war an irgendeinem Punkt verbunden, alles hatte seine Bedeutung. Wenn sie nur den richtigen Faden entdeckte, würde sie auch ihr Geheimnis lüften, an das sie immer seltener dachte.
Doch was einem bestimmt ist, lässt sich nicht verleugnen. Die Träume kehrten nach einem Jahr zurück, beängstigender und intensiver als je zuvor. Noch bis in den Tag verfolgten sie die Stimmen, diese grauenhaften Bilder, die sie nicht verstehen konnte. Ardis wurde still, zog sich immer mehr von Eshra zurück. Er sah es, drang aber nicht in sie. Nur wenn er ihr ein neues Buch, eine neue Geschichte brachte, konnte sie die unausgeprochene Frage in seinen Augen lesen. Jedesmal öffnete sie ihre Lippen, wollte ihre Last mit ihm teilen. Und tat es doch nicht.
Sie verließ Wegenstein hastig, von ihren persönlichen Dämonen verfolgt. Es durfte nicht wieder geschehen, das sie einen Menschen ins Verderben zog, der gut zu ihr gewesen war. Nicht noch eine Wiederholung ihrer Geschichte, die trotz aller Bemühungen auf ein Ziel zusteuerte, das ihr aus den Fingern glitt. Bilder stiegen auf, halb vergessen und verdeckt von Angst, Scham und einer kühlen Wut, die in diesen Jahren gewachsen war. Die kleine Handwerkerfamilie, die der neunjährigen Ardis Unterschlupf gewährte, weil sie der verstorbenen Tochter ähnlich sah. Die stille, sanfte Frau, die sie Lesen und Schreiben lehrte, ihre Angst mit Zärtlichkeit milderte und ihr Sicherheit bot. Dieselbe Frau, ausgezehrt und in Fieberdelirien, die Finger so fest in die durchnässte Decke gekrallt, das sie aussahen wie bleiche Klauen. Ihr eigene Mutter, die sie aus angsterfüllten Augen anstarrte, die dasselbe tiefe Blau wie ihre eigenen hatten. Den kleinen Bruder an die Brust gepresst, als müsse sie ihn vor Ardis schützen. Die Hand an ihrer Schulter, die sie zurückzog, eine herrische Geste aus dem Dorf hinaus, während ihre Mutter schwieg. Dieses Schweigen war wie Glas, scharfkantig und zerbrechlich.
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Ardis sah ihrer Atemluft nach, die in hellen Dampfwölkchen zum Himmel empor stieg. Sie hatte lange mit diesem Schicksal gehadert. Aber ein unsichtbarer Gegner konnte nicht angegriffen werden, und so blieb ihr nichts als diese Suche. In dieser Einsamkeit, in der sie lebte, war jeder Gedanke möglich und nur wenige erschreckten sie. Hatte sie verdient, was mit ihr geschah? Traf sie dieser Fluch, weil ihr Wesen verdorben war, ihre Gier nach Wissen so stark? Oder war sie lediglich ein Werkzeug? Was, wenn ihre letzte Möglichkeit sein würde, sich den Dienern des Namenlosen auszuliefern um ihre Geheimnisse zu erfahren? Ein selbstmörderischer Akt. Aber welche Bedeutung besaß ein Leben unter einem solchen Fluch schon.
Ihre letzte Station, bevor sie endgültig zur Landstreicherin wurde, hatte sie gelehrt über diesen Fluch nachzudenken. Es war ein kleines Städtchen an der Küste gewesen, in welchem sie gerüchteweise von einem Magier gehört hatte. Die Verlockung war zu groß gewesen. Er _musste_ etwas wissen, vielleicht konnte sie über ihn etwas in Erfahrung bringen und ihrem Ziel näher kommen.
Es war Astrael gewesen, warmer Wind strich über grüne Ebenen, und es war nicht schwierig sich saubere Kleidung aus verschiedenen Gärten zu beschaffen. Die Reue darüber dauerte keinen Augenblick, zu groß war die Gier. Sie hatte sich als Magd einstellen lassen, ein dienstbarer Geist. Zu ihrem Glück war der Magier ein gutmütiger Mensch, dessen Bart und durchschnittliches Aussehen ihn harmlos wirken ließen. Wäre dieses Haus nicht voller Bücher gewesen, hätte sie wohl aufgegeben, getäuscht vom ersten Eindruck. So blieb sie beinahe ein Jahr, heimlich von Zeit zu Zeit ihre eingerosteten Lesekünste erprobend. Auch während der Stunden, in denen Trugdar, der Magier des Hauses, seinen Schüler gemächlich unterrichtete, versuchte sie mit allen Möglichkeiten in Hörweite zu bleiben. Es war faszinierend. Manches hatte sie bereits in Büchern gelesen, manches war vollständig neu. Wie ein Schwamm saugte sie auf, was den Mund Trugdars verließ. Er sprach über ferne Länder, über alte Sprachen, über die Sterne und ihre Bedeutung. Über das Leben und seine Notwendigkeiten.
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„Es gab verschiedene Abhandlungen zu diesem Thema, sowohl von Gelehrten wie auch Laien. Oswald, hörst du mir überhaupt zu? Tu' zumindest so, als wärst du aufmerksam. Ja? Danke.“ Der Magier schritt mit gewichtigen Schritten durch den kleinen Studierraum. Ein missbilligender Blick traf den Schüler, der an diesem warmen Tag den Eindruck erweckte, sich bereits im komatösen Tiefschlaf zu befinden. Immerhin brachte er es zu einem verlegenen: „Ja, Meister.“ Dieser setzte seinen Vortrag fort. „Obwohl niemand vollständig in der Lage ist, die Magie zu verstehen, kann man doch davon ausgehen, das diese Kraft verschiedene Ausprägungen besitzt. Die Meinungen divergieren – ist es eine unveränderliche Ausprägung, oder bestimmt das Wesen des Trägers diese Ausrichtung?“ Während der pausbäckige Oswald blinzelte, hielt Ardis im Hintergrund mit ihrem Staubtuch inne. Sie wagte nicht, sich einzumischen. 'Bitte..frag nach du Tölpel.' „Was...bedeutet das, Meister?“ Sie konnte in letzter Sekunde ein erleichtertes Seufzen unterdrücken. „Das bedeutet, mein Schüler, das zur Magie auch gehört, sich selbst zu erkennen und sorgsam zu prüfen. Kannst du mir sagen, ob du diese Gabe verdienst?“ Oswald starrte an seinem Lehrmeister vorüber, der nun erst auf Ardis aufmerksam wurde. „Oh, du bist auch hier?“ Ein zerstreuter Blick, er zwirbelte seinen Schnauzbart unsicher, als wüsste er nicht recht, ob diese Tatsache positiv oder negativ zu werten war. Dann folgte ein prüfender Blick zwischen den beiden jungen Menschen im Zimmer. „Ardis, könntest du unserem Oswald ein Glas kühles Wasser aus dem Brunnen bringen? Es wird während Astrael immer heiß in diesem Zimmer.“ Eine freundliche, aber dennoch bestimmte Art sie hinauszuwerfen. Was blieb ihr, außer artig zu nicken. Als sie hinausging, streifte ihr unfreundlicher Blick den Schüler. Er hatte keinerlei Vorstellung davon, wie glücklich er sich schätzen konnte.
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Letztlich hatte sie den Magier unterschätzt, denn hinter dem harmlosen Äußeren verbarg sich ein scharfer Geist. Er hatte sie zur Rede gestellt, und in seinen Augen meinte sie den keimenden Verdacht zu lesen. Die Angst, die ihr ständiger Begleiter und vertrauter Gefährte war, nahm überhand. Ardis floh, wie so oft. Sie dankte ihm aber im Stillen dafür, sie eines gelehrt zu haben: Die Dinge waren selten so einfach, wie sie schienen. Man musste unter die Oberfläche sehen lernen, die Essenz verstehen.
Sie schob endlich das Laub mit den Händen in eine Ecke ihres provisorischen Unterschlupfes und legte ihren Umhang so darüber, das sie sich noch darin einhüllen konnte. Erinnerungen kamen und gingen, wie sie es wünschten. Aber für diesen Tag war es genug. Ardis schloss die Augen.
~Träume~
Schlafe Kindlein, schlafe ein,
für Morgen musst erholet sein,
ein neuer Tag, ein neues Glück,
lass die Vergangenheit zurück.
Die Stimme war leise, nur am Rande des Bewusstseins wahrnehmbar. Geisterhaft schwebten die Töne im Nichts, antworteten einander als verschwindendes Echo. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, ehe sie verstand, wessen Stimme dieses uralte, so vertraute Schlaflied sang. Und erst da löste sich das Nichts in schleierhaftes Grau, hinter dem ihre Mutter sichtbar wurde. Der kleine Bruder schlief in ihren Armen, die sichtlich schwer geworden waren. Ardis war wieder acht Jahre alt, drückte sich in der kühlen Hütte in Skarndorf, einem unbedeutenden Dorf in Vandrien, gegen die Holzwand. Sie konnte das feuchte Holz riechen, muffig und durchdringend, ebenso wie den schwachen Geruch des einfachen Eintopfes über der Feuerstelle. Die Szenerie erschütterte sie, obwohl ihr Geist unter der trägen Oberfläche des Traumes die Irrationalität mit gnadenloser Schärfe feststellte.
"Mama?" Sie hörte ihre eigene Stimme, ohne sich daran zu erinnern, die Lippen bewegt zu haben. Es klang seltsam, verloren zwischen dem hellen Klang der Kinderstimme und dem scharf gewordenen Alt der Erwachsenen. Auch ihre Mutter schien es gehört zu haben, denn ihr Blick richtete sich misstrauisch auf Ardis. Sie fühlte sich plötzlich nackt und bloß unter diesem eindringlichen Blick, spürte wie eine Träne über ihre Wange rollte und konnte dieses grässliche Zeichen von Schwäche doch nicht aufhalten.
"Mama?" Neuerlich diese Frage, nur noch leise. Ihre Mutter richtete sich auf, und plötzlich nahm Ardis die Furcht in ihren Augen wahr. Kleine Finger ballten sich zu Fäusten, sie starrte zu Boden. Und nahm zugleich wahr, weswegen sie ihrer Mutter Angst machte. Zu ihren Füßen, unter den Strümpfen aus grobem Garn bewegte ich ihr Schatten mit beunruhigender Intensität. Wogte und drehte sich, ein schattenhafter Geist der seinen Fesseln zu entkommen versuchte. Ein leiser Laut, nur ein Schluchzen, dann hob sie den Blick. Die Züge ihrer Mutter waren verschwommen, nur noch ein heller Fleck, doch ihre Stimme konnte sie deutlich hören. "Hexenmädchen!"
Die Szenerie hatte gewechselt, so abrupt das ihr Traum-Ich zurückwich. Erneut war hinter ihr kühles, feuchtes Holz, das Gesicht vor ihr allerdings war ein anderes. Ein Mädchen, nicht älter als zehn Jahre, starrte sie triumphierend aus grauen Augen an. 'Nein..' Der schwache Protest verklang ungehört im Inneren, während die Szene ihren unheilvollen Verlauf nahm. "Hexenmädchen!" wiederholte ihre Peinigerin mit unterstützendem Echo aus dem Hintergrund, und zog dabei schmerzhaft an den rotbraunen Haaren. "Ich bin kein Hexenmädchen!" Ihre Rechtfertigung wurde mit Gelächter belohnt, dann folgte die nächste Zeile. "Hexen mögen kein Wasser. Wollen wir schauen, ob das Hexenmädchen schwimmen kann?" Die Nachfrage wurde mit Jubel belohnt, der seltsam hohl klang. Ardis fühlte, wie grobe Kinderhände ihre Handgelenke packten und sie trotz Protest mitschleiften. 'Bitte...nicht dieser Traum..' Sie sah nur die aufgewühlte Erde, das schlammige Ufer des Tümpels und dann die glitzernde Oberfläche des Wassers. Ihr eigenes, rundes Kindergesicht mit den schreckgeweiteten Augen. Dann durchbrach sie die Oberfläche und verlor jede Atemmöglichkeit. Eine Hand drückte auf ihren Hinterkopf, sie zappelte verzweifelt, versuchte zu schreien und sah Luftblasen empor steigen. Die lachenden Kinderstimmen wurden farblos, tiefer, hämischer. Wispern gesellte sich dazu, stieg in ihrem Geist auf wie eine fremde Macht, die skrupellos die Kontrolle an sich riss. Alles was sie war, jedes Gefühl wurde beiseite geschoben und kauerte sich angsterfüllt in einem Winkel ihres Selbst zusammen. Schwärze näherte sich, eine Wand die alles zu beenden drohte. Dann folgte der Schlag. Ein Ruck ging durch ihren Körper, ließ die kindlichen Gliedmaßen beben. Der Druck an ihrem Nacken ließ abrupt nach, und sie fuhr selbst im Traum panisch empor, um mit triefenden Haaren die kühle Luft in ihre Lungen zu saugen. 'Dreh dich nicht um...' Das Mädchen folgte dem Drehbuch jedoch ohne Widerspruch, wandte sich voll Angst zu seinen Peinigern um. Zu ihren nassen Füßen lag jene im Staub, die sie zuvor so triumphal bedrängt hatte. Alles hielt inne, ein geräuschleerer Raum, in dem jedes Detail klar und doch distanziert war. In den grauen Augen leuchtete eine grünliche Korona um die Pupille, die nur noch ein erschrockener Punkt war. Das Gesicht war bläulich verfärbt, jeden Augenblick intensivierte sich der Farbton, schillerte in der Traumwelt deutlicher als zuvor. Das Raunen kehrte wieder, dann war sie alleine. Das Nichts umfing sie, verwischte ihre Konturen und raubte Farben und Sinn.
'Bitte..'
Dann öffnete sie die Augen.
~Hoffnung~
Über ihr spannte sich ein windgepeitschter Nachthimmel, Wolken zogen mit rasender Geschwindigkeit darüber hinweg. Trotz der Kälte war sie schweißgebadet, ihr Atem ging keuchend und unregelmässig. Sie konnte das helle Licht des Vitamalin wahrnehmen, doch ihr Blick wurde von etwas anderem angezogen. Direkt über ihr befand sich die lichtabweisende, gedämpfte Fläche des Dorayon, der Heimat des Namenlosen. Mit Entsetzen in den weit aufgerissenen, immer noch im Traum befangenen Augen starrte sie empor. Diese Träume kehrten immer wieder, ließen sie erneut jede demütigende, von einem alltäglichen Leben distanzierende Szene erleben. Dieses Wispern, die fremden Stimmen waren ihr nicht fremd. Und doch hatte sie Angst, kalte, nackte Angst vor dem Zugriff Angamons, dessen Name ihre Seele wie ein Brandmale kennzeichnete.
Sie fragte nicht mehr nach dem Warum, diese Nutzlosigkeit hatte sie bereits vor vielen Jahren aufgegeben. Es gab nur noch ein Ziel: Die Ursache für diesen Fluch und ein Heilmittel zu finden. Irgendwo musste es ein Wesen geben, das genug Wissen besaß, um sie aus dieser Falle zu befreien. Sie musste lernen, suchen, erkennen. Jeder Weg war gut, solange er diese Bürde von ihren Schultern nehmen konnte. Jedes Mittel würde recht sein.
Ardis schauderte, zog ihren zerschlissenen Umhang enger um sich, ohne Hoffnung auf Wärme. Das schwache Gefühl von Frieden und Zufriedenheit war vollständig vergangen, verloren im Chaos ihrer Träume. Sie musste einen Schritt weiter gehen, ehe der Wahnsinn sie schärfer im Genick packte. Aber wo konnte sie beginnen? Sie fürchtete die großen Städte, die Magiertürme. Man würde sie entdecken, ausforschen und ihr die Geheimnisse entreissen. Was immer sie in seinen Klauen hielt, es würde Misstrauen provozieren. Ardis kannte die Geschichten nicht nur, sie hatte selbst erlebt was mit Menschen geschah, die nur in den Ruf gerieten, Diener des Namenlosen zu sein. Ihre Beteuerungen, ja ihre Angst würde keinerlei Rolle spielen.
Es blieb eine Möglichkeit, eine Insel deren Name in zahllosen Geschichten gefallen war, die sie auf ihren Wanderungen in Küstenstädten belauscht hatte. Siebenwind. Obwohl ihre Zähne durch die zunehmende Kälte aufeinander klapperten, kostete sie den Klang des Namens. Illusionen waren etwas für Dummköpfe, aber in all den Geschichten musste ein wahrer Kern zu finden sein. Siebenwind schien Abenteuerlustige anzuziehen, Platz für jeden zu bieten. Auch wenn sie sich mit ironischer Selbsterkenntnis eingestehen musste, das man Personen wie sie nicht als Teil dieser Gemeinschaft anerkennen würde, bot ein solches Gemisch doch Sicherheit. Man würde nicht allzuviele Fragen stellen, wenn sie sich unauffällig verhielt.
Siebenwind. Der Name lockte ein Kribbeln in ihren vor Kälte tauben Fingerspitzen hervor. Als sie sich umwandte um wieder tiefer in ihr Bett aus Laub und Zweigen zu rutschen, stellte sie fest das der Dorayon nun vom Nachthimmel verschwunden war. Ein gutes Zeichen? Man würde sehen.
In dieser Nacht blieb Morsans friedliche Umarmung aus. Stunde um Stunde starrte sie in die Sterne, ihren eigenen Atem beobachtend. Sie fror weiterhin, aber es war ihr gleichgültig. Wichtiger war nun ein Plan. Sie musste einen Weg finden, die Überfahrt zu bezahlen. Sie musste einen Weg finden, unentdeckt zu bleiben. Und sie musste lernen nicht nur zu überleben, sondern einem Ziel zuzustreben. Nur ihr Ziel war von Bedeutung, nicht die Opfer auf dem Weg. An diesen Glauben klammerte sie sich mit der Hartnäckigkeit derer, die nichts mehr zu verlieren hatten.
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