Was zuvor geschah: Geteilte EinsamkeitDas Kratzen der Krallen auf dem Tisch deutete an, dass Adeptus sich genähert hatte und nun offenbar auf der Tischkante hockte. Felis, seitlich auf den weichen Bodenkissen liegend, konnte schon förmlich spüren, wie die bisweilen in der Dunkelheit matt glühenden Augen auf sie gerichtet waren. Das seltsame Wesen verunsicherte sie nicht mehr. Seine Nähe störte sie kaum mehr und da er sich zudem als zuverlässiger Spinnenjäger erwiesen hatte, war der Flatterer ihr durchaus etwas ans Herz gewachsen.
Sie dagegen rührte sich nicht, starrte nur durch das Zwielicht des in Kerzenlicht getauchten Kellers. Doch es war eine Kerze, die nicht entzündet sein musste, um sie zu fühlen - die silberne Kerze, die in ihrem Beutel ruhte. Teils war es verlockend, sie zu entzünden. Wärmend, irgendwie beruhigend hatte der Griff zur Kerze sich angefühlt. Aber sie wusste auch - würde sie sie entfachen, würde sie sogleich wieder bei
ihm sein.
Die Rothaarige erschauderte ob der noch nicht lang zurückliegenden Begegnung. Unheimlich und unwirklich hatte er ausgesehen mit seiner dunklen Haut, dem schneeweißen Haar, der blutigen Augenbinde, den nebulös anmutenden Flügeln und doch hatte er sie locken können. Seine Stimme war in ihrem Gedächtnis haften geblieben - väterlich, sonor... ob ihr Vater so geklungen hatte?
Vielleicht war es das, was sie so derartig angelockt hatte. Diese beruhigende Stimme, die in ihr den Wunsch hatte aufkeimen lassen, irgendwo ein Stück Geborgenheit und Verständnis, trotz aller Offenheit, zu finden.
Geborgenheit hatte für sie früher immer zwei Gesichter gehat - das ihrer Mutter, trotz manchen Streits, trotz der gegenseitigen Vorwürfe, trotz der Tatsache, dass sie, die damals einen anderen Namen trug, eigentlich nicht erwünscht gewesen war und das eines Mannes, der rote Haare hatte, wohl eine Rüstung und Uniform trug, vermutlich eine helle Haut hatte, doch sein Gesicht kannte sie nicht. Ihr Vater.
Nun, zumindest hatte dieser Maler nicht so ausgesehen, wie sie sich ihren Vater immer vorgestellt hatte. Wer weiß, wie es sonst um sie bestellt gewesen wäre, denn ohne Zweifel hatten Uniformen oder rote Haare schon immer eine eigenwillige Anziehungskraft auf sie gehabt.
Und dann waren da noch diese großen Statuen, unweit seines Platzes, wo sie ihn liebevoll malend gesehen hatte - sie erinnerten sie an etwas und gaben ihrer Unsicherheit ob der Situation, in der sie sich befand, neue Nahrung. Es mussten die Viere gewesen sein, doch auf eine Art und Weise dargestellt, dass es jemanden zu Fall gebracht hätte, der eh schon an sie zweifelte.
Nein, sie zweifelte nicht.
Gewiss, als sie am Abend zuvor die Kapelle der Burg Finianswacht betreten hatte, hatte sie sich eigenartig unwohl gefühlt, beobachtet, bewertet und verurteilt an diesem Platz, der so eindeutig Astrael geweiht war. Doch gab sie in gewisser Weise dem Allsehenden recht. Furchtsamer Respekt ob seines harten, doch gerechten Urteils und doch auch Verehrung für all das Wissen hatten sie schon immer begleitet, wenn sie sich den Schreinen Astraels genähert hatte.
Ja, sie hatte manches Mal daran verzweifelt, was mit ihrer Ehe geschehen war, was damals auf ihrer Flucht zurück zu Siebenwind passiert war. Doch nie gab sie Vitama die Schuld, denn wie oft hatte sie sich schon in ihrem Leben am Boden im Dreck befunden? Sei es die Zeit, als sie versucht hatte, in Draconis Fuss zu fassen, manches Mal hungerte, bettelte, stahl und im Dreck und in der Unsicherheit der Gosse schlief. Sei es, als sie an ihren Gefühlen zu einem gewalttätigen Mann förmlich verzweifelt war. Sei es, als sie das Kind von ihr und ihrem Mann zu Grabe tragen musste und in ihr ein Stück zu sterben schien.
Felis schluckte, wandte sich auf ihrem Rücken herum und erwidert blinzelnd den irgendwie auf sie mitfühlend wirkenden Blick des Flatterers, der den Kopf zu ihr hinabgedreht hatte. Eine der feingliedrigen Hände hob sie an und hielt sie dem Wesen hinauf, das sogleich und ohne zu zögern darauf sprang und sich festklammerte. Behutsam hob sie die andere Hand und kraulte seine mit einem dünnen, dunkelbraunen und kurzen Fell bedeckte Haut, woraufhin er seine Augen schloß und ein leises, zufrieden klingendes Zirpen von sich gab.
Doch trotz allem, was in ihrer Vergangenheit geschehen war - nie wollte sie sterben. Nie wollte sie ihren Glauben ablegen. Nie zweifelte sie daran, dass es etwas gab, wofür es sich irgendwie zu kämpfen lohnte.
Allein - der Kerze hatte sie sich noch immer nicht entledigt...