Vor einigen Jahren, irgendwo in einem Wald nahe Ersonts End...
Das Geschrei der tobenden Geschwister verstummte, als sie ihren Beobachter bemerkten. Fiana blickte zu ihrem Bruder hinüber, der wie angewurzelt das Holzschwert sinken ließ, und mit offenem Mund zum Rand der Lichtung glotzte. Sie war zunächst weniger beeindruckt von dem da hinten.
Nahm er sie denn nicht ernst? Das Schmunzeln auf seinem Gesicht vermochte Fiana nicht recht zu deuten. Jener unbekannte Reiter, der zu ihnen herüberblickte, wirkte eher amüsiert über die Kampfversuche der Beiden. Sie verzog etwas mürrisch das Gesicht. Doch hatte er sein Pferd zum Stehen gebracht, nur um zuzusehen.
Fiana blickte über die Baumstümpfe der Waldlichtung hinüber zu dem geheimnisvollen Reisenden, der sie bei ihren kindlichen Waffenspielen mit dem Holzschwert beobachtet hatte. Seine Rüstung aber faszinierte sie ungemein, und seine Statur war die eines echten Kriegers. Über den knisternden Nadelboden und einige gefallene Stämme, gefolgt von ihrem Bruder, trat sie zögerlich auf den Berittenen zu. Die Neugier war heute stärker als die Angst. Was sollte er ihr schon tun, was sie nicht bereits kannte? Außerdem waren sie zu zweit und bewaffnet!
Endlich trat sie neben das schwerbepackte Ross, welches sie weit weit überragte, und blickte hinauf. Jener da war womöglich ein Ritter. Er trug aber kein Banner oder Wappenrock, dennoch Ehrfurcht gebietend war sein Harnisch, dessen Beulen von zahlreichen Gefechten zeugten. Und sein Gesicht: Es strahlte in seinem amüsierten, aber nicht herablassenden Schmunzeln eine Selbstsicherheit aus, die ihre wildesten Fantasien über das Leben dieses Mannes beflügelten.
Sofort verwandelte sich ihre anfängliche Skepsis in Bewunderung.
Sie bemerkte gar nicht, wie lange sie ihn so anstarrte, ehe er in einem gutmütigen Ton zu ihr runterbrummte: „Na, was wird denn die kleine Holzfällertochter mit einem Holzschwert spielen? Lass dir lieber von Muttern das Flicken beibringen - und von Vatern die Flausen austreiben. Du musst was lernen, das dir nützlich sein wird.“ Er zwinkerte dabei ihrem Bruder zu.
Fiana erbleichte sofort. Sie wurde aus ihrem Tagtraum, den sie nun seit fast einer Stunde wieder lebte, zurück ins Hier und Jetzt gerissen. In diesen immer gleichen Wald, wo es Holz zu sammeln galt; in das dreckige Moor, in dem es Torf zu stechen galt; in ihren beschwerlichen Alltag; in ihr Dasein als Tochter des Mörders ihrer Mutter.
Ihr war nach Weinen zumute.
Was sich nun in ihrem Gesicht an Verdruss zeigte, hatte der Reiter offenbar weder vorhergesehen noch beabsichtigt. Er machte eine beschwichtigende Geste zu ihrem Bruder hin, welcher sogleich Einspruch erheben wollte, und wandte sich in väterlichem Tonfall – väterlicher als sie es je kannte – noch einmal an sie:
„Verzeih.“ Er packte ein Bündel vom Pferd und reichte es ihr herunter. Unwissend, wie ihr geschah, nahm sie es an. „Du bist ehrlich gesagt ziemlich gut – für dein Alter. Sei, wer du willst. Vielleicht hilft dir dies dabei.“
Mit einem Schnalzen setzte er sein Pferd in Bewegung, und Fiana blickte ihm sprachlos nach – die schwere Klinge in den Händen.
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