Abschied von Gol Air
Mit einem lauten, lang anhaltenden Schrei erwachte sie aus dem Schlaf.
Sie hatte geträumt, daß jener ältliche Mann plötzlich neben ihr lag, daß seine kalten, faltigen Hände ihren nackten Körper streichelten, über ihre Brüste streiften, mit gierigem Blick von ihr Besitz ergreifend. Doch sie hatte sich eines ihrer Messer gegriffen, das sie stets in Griffweite hatte.
Ohja. Messer hatte sie viele. Schon oft hatte es sich als nützlich erwiesen.
Wieder und wieder hatte sie in ihrem Traum auf den Mann eingestochen, bis jener endlich zurücksackte und reglos liegenblieb. Doch das war nicht das Ende. Der alte Mann, der dort in seinem Blut auf dem Laken lag, lachte… schaurig der Klang, ohne jeden Humor. Sie hatte weiter auf ihn eingestochen, um dieses Lachen zu stoppen. Hatte ihm schließlich gar die Kehle durchtrennt. Vergebens. Da schlug der tote, lachende alte Mann die Augen auf und sah sie an. Guns Augen.
*Was für ein schrecklicher Traum* - sie hatte diesen Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als sie an sich herabblickte. Tatsächlich war sie nackt, hatte sie doch am Abend zuvor mit Gun…
Etwas stimmte nicht. Ganz und gar nicht. Dann kam es in ihr Bewusstsein. Das Lachen. Es war noch immer da. Mitten in ihrem Kopf. Grausam, kalt. Im selben Moment fiel der Schleier von ihren Augen. In ihrer Hand ihr Messer. Blut. Überall Blut. Neben sich – sie wollte es nicht sehen. Sie wusste bereits, was sie sehen würde. Doch etwas zwang sie dazu, den Kopf zu drehen. Das Lachen in ihrem Kopf brauste auf zu einem Orkan des Hohns, als sie ihn sah. Gun. Ihr Liebster. Wehe, ihr Mächte.
Noch immer tönt das Lachen in ihrem Kopf, als sie sich, wie ferngesteuert, wäscht, ankleidet und nach Hause begibt.
*Das kann nicht sein das kann nicht sein das kann nicht sein* -
*Rähähähähähähähä* -
*Das kann nicht sein das darf nicht sein das kann nicht sein* -
„Rähähähähähähähähä“. Daheim angekommen erhält sie von ihren Eltern einen langen Vortrag, was sich für die Tochter von wohlhabenden und im Ansehen hochstehenden Geschäftsleuten gehöre und was nicht. Kalt die Worte von Igr*. Gesenkt der Blick von Ila**. Sie müsse zurückkehren, auf den Pfad der Rechtschaffenheit, müsse diesem jungen Mann absagen, ehe es zu spät wäre.
Sie hört es. Saugt es in sich auf. Und ein Teil ihrer selbst, jener, der das Wissen um das trägt, was in dieser Nacht geschah, spaltet sich von ihr ab. Nimmt es mit sich in die tiefe Verborgenheit in ihrem Inneren. Immer leiser wird zugleich das Lachen, das sie bereits in den Wahn zu treiben begann. Es ist, als würde sie im Geiste den Koffer packen. Die Erinnerung liegt ganz unten darin, dann legt sie Schicht um Schicht darüber, um jene zuzudecken.
„Rähähähähähä“. Sie legt die Erinnerung an das heutige Erwachen hinein.
„Rähähähähähähähähähä“. Darauf die schönen Momente, wenn sie mit ihm vereint war. Die vielen Erlebnisse und kleinen Ängste und Sorgen, die sie nur mit ihm geteilt hatte. Schon sehr leise ist das Lachen in ihrem Kopf.
Igr versetzt ihr einen Schlag. Er denkt, sie höre ihm nicht zu. Noch nie zuvor hat er sie geschlagen. Nur mit Worten und mit Abneigung. Sie ist im dankbar dafür, denn der Schlag hat den Koffer verschlossen.
Fort die Erinnerung an das, was geschah. Fort das kalte Lachen. Fort ihre Gefühle für den Mann, der sich Gun nannte. Ein Freund, ja, ein Freund war er. Er trieb bestimmt irgendwo da draußen weiter seine Scherze mit seinen Freunden. Sie würde ihn eines Tages wieder besuchen. Wenn sie zurückkehren würde.
Wortlos wendet sie Ila und Igr den Rücken zu. Hier war nicht ihr Zuhause. Hier war sie nicht willkommen. Zeit, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Hilflos, wie schon ihr ganzes Leben lang, blicken ihre Eltern ihr hinterher.
Sie selbst jedoch blickt nicht mehr zurück, als sie die Planken des Handelsschiffes betritt, das noch am selben Abend Gol Air verließ.
*Vater
**Mutter