Cinis. Asche, grau und vor Unzeiten erloschen, bar des letzten Glimmens. Nurnoch eine Erinnerung an Feuer, an Flammen, an Visionen und hungrigem Wollen. Cinis erinnerte sich an alte Gedanken, damals geboren um zu überzeugen, um im Streit der Inspirationen siegreich hervorzugehen, um Gefolgschaft und Gefähren um sich zu scharren. Gedanken, die nur noch an leere Höhlen und hohle Schatten gerichtet werden, die in ihm keinen Funken einer Inspiration erregen, denn alle Visionen sind längst verglüht, nun grau und still und tot.
"Es war einmal ein weiser Wanderer in einer Zeit, in der Demut das oberste Gebot war. Die Menschen senkten ihr Haupt vor ihren Götterabbildern, sie senkten das Haupt vor ihren Lehensherren und senkten den Blick vor ihren Sklavenhaltern. Demut und Folgsamkeit war ihnen oberstes Gebot und nicht zu sehen, was von Adel war oder von höherem Stande, durch Geburt oder zufällige Fügung, war ihnen oberstes Verbot. Die Menschen erkannten ihre Herren und Meister nicht, sahen sie nicht als Menschen vor sich stehen, sondern vernahmen nur ihre Stimme, die Befehle formte, Strafen und Lob verkündete. So wurden den Menschen ihre Fürsten und Herren zu Göttern, zu körperlosen Stimmen, die ihnen ihre Aufgaben in der Welt einflüsterten.
Die Menschen sahen nurnoch die nackte Erde, den Dreck unter ihren Füßen und alles Leben, das kriecht und sich im Staub windet, und eine Welt, die sich im niedersten Staub windet, war alles, was sie kannten. Sie wussten nichts vom Horizont, schon garnicht wussten sie vom Himmel. Doch ein Weiser hob seinen Blick, mitten auf der Reise durch eine tote Wüste von einer untergegangenen Stadt zu einer Anderen. Er hob den Blick und sah ein Gebirge in der Ferne, welches er erkannte und an dessen Hängen er geboren worden war. Doch es war eine gänzlich andere Projektion seiner Heimat, die seine Augen erblickten, ein ganz anderes Ding in der Ferne und doch erkannte er. Er erkannte Form und Gestalt hinter der Stofflichkeit und Materie des Gebirges. Er erkannte die Dualität von Körper und Geist, nicht nur in dem Innersten des Menschengeschlechts sondern sogar in unbelebten Dingen, die uns umgeben. Trotz ihrer mannigfaltigen Stofflichkeit erkennen wir ihre Form, ihre abstrakte Gestalt, die Idee ihres Seins. Wir erkennen die Dinge, wie sie sind und nicht nur, wie sie etwas sind.
Der Weise wusste, dass er den Berg umrunden könnte und seine Pässe durchwandern könnte, immer eine andere seiner Stofflichkeit erblickend, verschiedenste Projektionen der Form, doch würde er niemals zweifeln, dass dies seine Heimar wäre, denn er würde sie stets in ihrer Gestalt erkennen. Doch dann hob der Weise den Blick weiter in den Himmel und er erkannte, dass die blassen Schemen und Formen, die über die Erde krochen, nur die Schatten von Wolken waren, weit und fern im Himmel thronend. Die Schatten waren nur substanzlose Projektionen der unerreichbaren Wolken am Himmel und die Wolken waren selbst nur Schatten ihrer eigenen Idee, ihrer abstrakten Gestalt, die uns Wolken wiedererkennen lässt, gleich welche Form sie annehmen mögen. Und obwohl er niemals die diesseitige Stofflichkeit einer Wolke in ihrer Gänze erfahren und erkennen werden würde, war er doch nicht in der Lage, sich in die Lüfte zu erheben und in den Himmel aufzusteigen, so war es dem Weisen, wie auch dem Dümmsten aller Menschen, keine Schwierigkeit, die Wolken im Himmel auszumachen und sie Wolken zu nennen."
Ähnliche Geschichte, ähnliche Gleichnisse, stets mit der gleichen Erkenntnis, werden vielen fast vergessenen Philosophen zugeschrieben. Nur sicher ist, dass irgendwo vor vielen Jahrtausenden ein Denker die Dualität zwischen der Form und dem Körper erkannte, zwischen Idee und Stofflichkeit und eine neue Welt erschuf, die von substanzlosen erhabenen Ideen bewohnt wird, von abstrakten Gestalten, die für uns nur als Schatten und verzerrte Bilder zu erkennen sind.
Blutige Kriege, die heute nurnoch als Nebensätze in vergessenen Geschichtsbüchern verzeichnet sind, wurden ob dieser Philosophie geführt, zwischen ihren Abkömmlingen, die sie verfeinerten oder verunstalteten, sie benutzen, um ein Paradies höherer Gedanken zu erschaffen, oder jede Idee, jede abstrakte Gestalt und damit jeden Gedanken als reine Symbolik, die nur in der Dunkelheit hinter der Stirn eines Mannes existieren, zu brandmarken.
Cinis, der nurnoch Asche war, wusste es besser, als Symbolen und Gedanken nur diese ärmliche Existenz zuzuweisen. Er wusste um ihre Macht, um ihre Verlockung und die Gefahr, an der auch er sich verbrannt hatte, zu Grunde gegangen war. Doch das sind Gedanken der müden Gestalt in einer einsamen Höhle, in ihrer eigenen Totenwacht verharrend, die noch Cinis noch für sich behält, noch nicht den Schatten und Schemen, die seine leblosen Begleiter sind, anvertraut.
|