Still stand sie dort und beobachtete bloß. Sie wagte es nicht, sich zu rühren, während der Blick aus ihren braunen Augen auf das Geschehen im Raum vor ihr lag. Keinen Laut wollte sie erzeugen, denn dünn war die Scheibe vor ihr. Sie konnte alles erkennen, doch im Raum nebenan wusste nur eine Person, dass sich hinter dem Spiegel jemand verbarg. Neugierig ruhte der Blick der fast Siebzehnjährigen auf das Paar, wie sie sich näherten und sich umgarnten. Sie fühlte so etwas wie Neid in sich aufkommen. Wie gerne würde sie wie sie aussehen und ebenso jemanden umgarnen können! Doch kam war der Gedanke gefasst, sah sie schon schuldbewusst herum zu dem Mann, welcher schräg neben ihr stand und dessen Blick aus den dunklen Augen nahezu unablässig auf ihr lag.
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Leise pustete sie aus und befühlte eine Wange. Sie war wirklich rot geworden. Peinlich. Noch immer ging sie betont still hinter dem Mann her, den die meisten nur ehrfürchtig als "den Magus" bezeichneten, wenn er nicht anwesend war. Resnar Draksteen, Magister oder wie sich das nannte. Sie kam selber nicht umhin, ihn zu fürchten, seitdem er manches Wissen ihr gegenüber über sie offenbarte, von dem sie nicht geahnt hätte, dass er es wissen würde. "Das ist kein Schleichen, Felis. Das ist Trampeln", erklang seine Stimme zwar scharf, doch ohne sie zu erheben. Das war gar nicht nötig, denn sie zuckte auch so schon zusammen. Und dann dieser Name. Es fiel ihr noch schwer, sich daran zu gewöhnen, auch wenn er ihr gefiel. "Verz.." "Lass es. Entweder lernst du es oder du wirst büßen. Aber mit einer Entschuldigung brauchst du gar nicht ankommen." Manchmal fragte sie sich, ob es nicht klüger wäre, Draconis wieder zu verlassen. Vielleicht zurück nach Venturia? Oder weiter in den Norden? Hauptsache weit weg von diesen Leuten! Aber er hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie überall wären. Wirklich überall. Beweise hatte er ihr ebenso geliefert und hatte ihr gar eine gläserne Kugel gezeigt, mittels der er sich einfach auf Zuruf verschiedene Orte Galadons anschauen konnte und was dort passierte. Für einen Moment konnte sie sogar einen Blick in den Thronsaal des Königs werfen! "Wichtiger ist die Lektion für heute. Du hast gesehen, zu welchem Verrat der Mann fähig war. Warum?" "Ähm ..." "Gewöhn dir dir das ab. Also?" "Ich ... ich weiß nicht." Er nickte lediglich, ging weiter voran durch die engen, niedrigen, muffigen, unterirdischen Gänge des Schattenkontors, die manches Mal überraschend an irgendeinem Ort Draconis' endeten. "Wegen seinen Gefühlen ihr gegenüber. Er hätte ihr solche vertraulichen Informationen niemals sagen dürfen und sein Verstand sagt ihm das auch, natürlich. Aber sein Herz, seine Gefühle, haben über den Verstand gesiegt." Er hielt an, drehte sich langsam zu ihr herum und sah förmlich von oben zu ihr hinab, die Miene war, wie meistens, sachlich anmutend. "Diese Lektion ist wichtig, Felis. Wir arbeiten hier mit unserem Verstand. Gefühle sind verräterisch. Liebe, Hass, Trauer, egal welche Gefühle. Sie machen uns ... dich ... schwach. Der Mensch verliert seinen Verstand, begeht freiwillig Verrat oder lässt sich zu Handlungen hinreißen, die er niemals getan hätte, hätte er seinen Verstand nicht seinem Herzen untergeordnet." Einen Moment herrschte Stille, während sie sich bloß ansahen, wobei sie schon allmählich anfing, nervös ihren Blick von ihm abzuwenden. "Hast du mich verstanden?" "Ja, Meister Draksteen", antwortete sie eilig.
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Felis erschauderte, während sie an der Brüstung der kleinen Brücke lehnte, die sich über dem Goldquellfluss vom Garten ihres Hauses zum Park von Brandenstein spannte. Die Kälte war es zum Teil, aber sie hatte an Draksteen gedacht, an seine Worte von einst. Die Erinnerung an diesen Mann verursachte nur allzu leicht ein ungutes Gefühl bei ihr. Anspannung, die sich in extremen Situationen in Verfolgungsangst steigern konnte. Auch wenn sie ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte und sie in all den Götterläufen allmählich zu ahnen begann, dass seine Kugel von einst nichts weiter als eine Illusion war und keine echte Hellsichtmagie darstellte, so blieb noch immer ein Rest Sorge. Würde sie ihm erneut in die Hände fallen, wäre es fragwürdig, was geschehen würde. Sie hatte das letzte Mal, als sie in Draconis war, eh den Verdacht, er würde sich mehr und mehr vom grauen Pfad entfernen. Aber diese Lektion hatte auch im Kern etwas Wahres. Eine Erkenntnis, die sie recht spät gewonnen hatte. Hätte sie ...
Sie dachte den Gedanken nicht mehr weiter zu Ende. Die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen und letztendlich konnte sie momentan nicht klagen. Ihre Befürchtungen, was das Leben hier in Brandenstein angehen würde, waren nicht eingetreten. Sogar Erin hatte sie mit einem Nicken gegrüßt und ihr nicht verbal den Kopf abgebissen. Das war schon was wert. Und dann das Gespräch mit Manu. Felis selber war etwas überrascht gewesen, dass er sie ansprach und ihr sogar selber ihr eigenes Haus als Ort vorschlug, wo sie miteinander reden konnten.
Das Gespräch verlief verhältnismäßig sachlich. Das beruhigte sie irgendwo, andererseits aber machte es sie auch unweigerlich etwas traurig. Er war eine der Gründe gewesen, warum sie in Brandenstein bleiben wollte. Mit der Aufhebung des Banns und aufgrund der kurzen Gespräche in Seeberg und in Falkensee hatte sie sich ermutigt gefühlt. Manch einer verstärkte das Gefühl noch, dass es Hoffnung geben würde und dass sie irgendwann wieder als Mann und Frau zusammen leben und eine Familie sein könnten. Auch hatte sie viel Zeit zum Nachdenken gehabt, wenn sie ausritt in die Natur und über manches Verhalten von sich selber gegrübelt. Letztendlich war es doch kein wirklicher Hass, was sie gefühlt hatte. Enttäuschung, Verletztung, aber Hass war etwas anderes. Wenn man jemanden wirklich hasst, dann trauert man nicht um ihn, wenn er stirbt oder würde zögern, wenn man die Möglichkeit hätte, zuzuschlagen. Unzweifelhaft waren noch Gefühle für ihn da und mit all der Hoffnung und diesen noch zarten, gut verborgenen Gefühlen, hatte sie sich nach Brandenstein aufgemacht - und erkannt, wie naiv sie doch nur wieder gewesen war.
Da saß er also an ihrem Tisch, von Kopf bis Fuß schwarz gewandet und allein schon durch sein Aussehen distanziert wirkend, als hätte er um sich herum eine Mauer aufgebaut, um ja niemanden mehr an sich ranzulassen. Er reagierte wenig erbaut, als sie erwähnte, Leutnant Tuljow hätte mit ihr über ihn gesprochen. Sie erinnerte ihn daran, dass sie noch immer Mann und Frau wären und fasste sich dann ein Herz - der erste Kuss, sein Gedicht, der graue Maskenball, die Tanzstunden bei Brand, Brands Ball in der alten Burg Finianswacht, sein Antrag, der Narrentag, die Hochzeit ... noch so viel mehr hätte sie gerne aufgezählt, doch vergebens. Er hatte Schwierigkeiten, sich zu erinnern. Für ihn war all das, wenn, nur noch vage im Gedächtnis vorhanden. Felis versetzte es einen Stich, dass diese für sie doch eigentlich wertvollen Erinnerungen, ihm nichts mehr bedeuteten, doch die Erkenntnis, dass der Mann, der da an ihrem Tisch saß, nicht mehr der war, dem sie einst ihr Ja-Wort gegeben hatte, reifte stetig heran. Könnte sie mit einem solchen Fremden glücklich sein? Mit einem Fremden, der davon sprach, dass es manchmal besser wäre, wenn man nie geboren worden wäre? Sie hatte selber an diesem Punkt gestanden, vor nicht allzu langer Zeit. Nicht lange, nachdem sie aus dem Kerker Brandensteins zurückgekehrt war, Johan sich von ihr mit abfälligen Worten abgewendet und sie ihn kennengelernt hatte.
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Es war kalt um sie herum und der Wunsch, sich einfach nur fallen lassen zu dürfen, einschlafen zu können und nie mehr wieder aufwachen zu müssen, wog schwer. "Du musst es nur sagen, Felis." Seine Stimme klang einlullend, angenehm, verlockend. Schwarze Schatten griffen von seiner Robe aus zu ihr, begannen sie mehr und mehr einzuschließen, derweil sie haderte. Es war, als würde sie vor einer Klippe stehen, ein Fuß schob sich schon langsam über den Rand, während sie es nicht wagte, hinab zu blicken. Es war nur die Hoffnung darauf, dass endlich alles ein Ende finden würde. Aber ...
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Wieder ein Schaudern. Magier. Ja, ihnen war nie wirklich zu trauen. Teils war es ihr Verstand, der sie vor einem "Ja" abgehalten hatte, was dazu geführt hätte, dass sie nun praktisch tot wäre. Teils auch ihr Herz. Sie musste an Freunde denken und auch an ihren Neffen, welcher versprach, auf diese Insel zurück zu kehren. Und dann war da noch ihr Glaube - im Grunde genommen wäre es ein Freitod gewesen, wodurch sie erst recht ihre Seele verloren hätte. Auch wenn die Zeit danach nicht immer leicht war, auch wenn die Sehnsucht nach etwas Geborgenheit manchmal schrecklich drängend war - Felis wollte weiterleben und mittlerweile hatte sie diesen dunklen Tiefpunkt auch größtenteils überwunden, zumal er fort zu sein schien - ein Verschwinden, über das sie das erste Mal wirklich froh war. Auch wenn sie nun erkannt hatte, dass sie und Manu vermutlich nie mehr wieder zusammenkommen würden, auch wenn sie manches Mal bezweifelte, je eine eigene Familie haben zu können, so blieb doch noch genügend anderes, für das es sich zu leben und streben lohnte. Einen Blick warf sie herum in Richtung der Stadt, ein leichtes Lächeln huschte über ihre Züge. Sie hatte neue Ziele gefunden und da waren Verstand und Herz gleichermaßen gefordert. Langsam öffnete sie eine ihrer Hände, in der ein mehrmals gefaltetes Blatt ruhte, öffnete es und ihre Blick huschte über die Zeilen.
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Schweig, mein klopfendes Herz, verbirg, dass ich so oft an ihn denke. Astrael, ich bitt dich, wirk auf mein Herz ein und lenke meine Gedanken von ihm fern, hin zu dir, von Gefühlen befreit, und ins Tiefste zu deiner Lehre Kern, auf dass niemals mehr geschieht ein Leid.
Es ist nicht Trauer, nicht Hass, nur Glück, was ich fühle bei dem Gedanken an diesen Mann. Nun erst, zu spät, verstehe ich Stück für Stück und muss nun erkennen, dass ich kann nichts ändern an allem was war. Nicht gekämpft hatte ich, zu schwach war ich, nicht auf Ruhe besonnen, sah nicht klar. Doch eines erkenne ich nun - ich liebe dich.
unbekannter Autor
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Ob Herr di Madjani oder Bruder Ionas es gelesen und etwas geahnt hatten? Egal. Sie hatte das Gedicht still und heimlich wieder aus der Berichtemappe das Boten genommen. Närrisch zu glauben, dass man mit einem anonymen Gedicht im Boten etwas vollbringen könnte, sagte ihr Verstand nur allzu deutlich, zumal sie am Rhythmus deutlicher hätte feilen müssen. Felis legte ihre Finger an die oberstes Kante, zog schon leicht am Papier, während sie nachdenklich auf die Zeilen sah. Zerreißen? Nicht zerreißen? Einen längeren Moment zögerte sie, doch dann faltete sie es wieder zusammen. Nein, auch das war ein Teil ihres Lebens und würde aufbewahrt werden.
Wenig später, ins warme Haus zurückgekehrt, ging sie in die Knie, öffnete ihr vorerst provisorisches Versteck im Boden, indem sie die losen Bodenlatten aufzog und nahm dort ein Kästchen hervor, welches sie aufschloss. Darin verborgen ihre wertvollsten Schätze, einige brisante, wenn auch teilweise schon veraltete Dokumente, aber vor allem auch Erinnerungsstücke. Einen kleinen, roten Samtbeutel nahm sie hervor, öffnete ihn und legte das gefaltete Stück Papier mit dem Gedicht rein. Dann atmete sie tief durch und griff zu dem Stück, was dort in dem Beutel sonst alleine ruhte - ein goldener Ring, ohne viel Zierrat, doch mit einer Schrift graviert: "Durch nichts entzweit bis über das Ende hinaus. - Manu" Heute war ihr zweiter Hochzeitstag.
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